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Viele Tode musste Opa Jurek in seinem Leben sterben: im besetzten Warschau, nachts auf der Straße, wo er in der Sperrstunde zwei deutschen Soldaten in die Arme läuft. In der "weltberühmten" Ortschaft Oswiecim, in der er als Zwangsarbeiter den Todeshunger kennenlernt. In Opole, der vom Krieg zerstörten Stadt auf dem Mond, wo er vor den leeren Regalen seines Lebensmittelgeschäfts Nr. 6, noch immer sterbenshungrig, von Delikatessen und mehrgängigen Mittagessen träumt. Und auch, als er schon längst mit Oma Zofia verheiratet ist und ihre Tochter sich in einen schulbekannten Delinquenten und Sohn…mehr

Produktbeschreibung
Viele Tode musste Opa Jurek in seinem Leben sterben: im besetzten Warschau, nachts auf der Straße, wo er in der Sperrstunde zwei deutschen Soldaten in die Arme läuft. In der "weltberühmten" Ortschaft Oswiecim, in der er als Zwangsarbeiter den Todeshunger kennenlernt. In Opole, der vom Krieg zerstörten Stadt auf dem Mond, wo er vor den leeren Regalen seines Lebensmittelgeschäfts Nr. 6, noch immer sterbenshungrig, von Delikatessen und mehrgängigen Mittagessen träumt. Und auch, als er schon längst mit Oma Zofia verheiratet ist und ihre Tochter sich in einen schulbekannten Delinquenten und Sohn regimekritischer Eltern verliebt, der sie nach Kanada entführen will ... Denn da steigt Opa Jurek, inzwischen Direktor eines Warenhauses, für kurze Zeit zum erfolgreichsten Delikatessenverkäufer von Opole auf - und findet sich, scheinbar unschuldig, in der Todesdunkelheit einer Zelle wieder.

Matthias Nawrats herzzerreißend traurige, schaurig-komische Familiengeschichte verbindet Alltag und Politik, Straßenwitz und Kriegserfahrung, Autobiographisches und Fiktion zu etwas, das stärker nachwirkt als jede romanhafte Biographie: dem Schelmenroman eines polnischen Großvaters, der - die Gräuel des Krieges und des Totalitarismus herabmildernd und die eigene Heldenrolle auffrisierend - Geschichten erzählt, die gerade im Begriff sind, Geschichte zu werden. Ein lebendiger, an Zwischentönen reicher, aber auch abgründiger Roman über eine Familie vor dem Hintergrund der Geschichte Polens und Europas im 20. Jahrhundert.


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Autorenporträt
Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Für seinen Debütroman 'Wir zwei allein' (2012) erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis; 'Unternehmer' (2014), für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet, 'Die vielen Tode unseres Opas Jurek' (2015) mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises sowie der Alfred Döblin-Medaille. 'Der traurige Gast' (2019) war unter anderem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt Matthias Nawrat den Literaturpreis der Europäischen Union. 'Reise nach Maine' (2021) ist sein fünfter Roman. Zuletzt erschien der Gedichtband 'Gebete für meine Vorfahren' (2022), ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin.
Rezensionen
Schon wieder eine Leidensgeschichte über totalitäre Herrschaft lesen? Doch, unbedingt. Der neue Roman von Matthias Nawrat ist überaus lesenswert. Der Ton macht die Musik. Hier gelingt ein Schelmenroman auf hohem Niveau. Basler Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2015

Kopf eines Königs, Körper eines Hofnarrs
Matthias Nawrat erzählt ein polnisches Jahrhundertleben als Schelmenroman

Kann ein Roman die zerrissene Geschichte eines Landes erzählen und zugleich ein berührendes Schicksal beschreiben? Kann eine Erzählung sowohl tragisch sein als sich tragikkomisch der Katastrophe widersetzen? Matthias Nawrat beweist im Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek", dass all dies möglich ist. In seinem dritten Buch erzählt der 1979 in Opole geborene Schriftsteller die verstörende Geschichte seines Geburtslandes, indem er sie mit der bewegenden Biographie eines Polen verzahnt, der sich trotz aller Hinterhältigkeiten, die das zwanzigste Jahrhundert zu bieten hat, nicht davon abhalten lässt, ein gewissenhaftes und zufriedenes Leben zu führen.

Der Roman beginnt in der Gegenwart mit der Beerdigung von Opa Jurek. Sein Enkel, der Ich-Erzähler, ist mit seiner Mutter aus Deutschland angereist, um sich von seinem Großvater in dessen schlesischer Heimatstadt Opole zu verabschieden. Die Tränen der zahlreichen Gäste deuten bereits an, dass mit dem Tod dieses Mannes eine einmalige Lebensgeschichte verschwindet, die auf einzigartige Weise die Katastrophen Polens spiegelt.

Der Titel, freilich, spricht von Jureks Tod im Plural. Das ist deshalb plausibel, weil es ihm wiederholt gelungen ist, wie durch ein Wunder innerhalb zweier Diktaturen dem sicheren Tod zu entrinnen. Der Roman erzählt in Rückblenden, welche Greuel dieser Jurek überstanden hat: erst die Nationalsozialisten, die Warschau besetzen und ihn nach Auschwitz verfrachten. In der Gefangenschaft muss er einen "Todeshunger" erfahren, den er nur knapp überlebt. Auch als er bei der Lagerarbeit vor den Augen eines Nazi-Schergen eine Wurst entdeckt und sie sich in den Mund schieben will, endet der Regelbruch nur wegen eines gnädigen Soldaten nicht in der Todeszelle. Ein ähnliches Glück widerfährt Jurek nach einem misslungenen Ausbruch aus dem Konzentrationslager.

Die ironischen, schier unfassbaren Wendungen in dieser halb erdichteten, halb faktisch grundierten Biographie sind zugleich die ironischen Brechungen Polens: Denn später, als der angeschlagene Jurek das Gefängnis verlässt und feststellt, dass die Deutschen den Krieg verloren und dafür die Sowjets den Frieden gewonnen haben, erlebt er jetzt, wie die Kommunisten dabei scheitern, Polen in einen gerechten Bauernstaat zu verwandeln. Er stellt fest: In der Gesellschaft unter Gleichen erweisen sich einige als gleicher. Globalpolitisch ist die Lage noch düsterer: Da hat Polen nichts zu sagen und sieht sich, wie so oft, als abgehängte Nation im großen Kräftemessen zwischen West und Ost. Das Trauma schmerzt bis heute, wie der Erzähler bemerkt: "Und deshalb ist es auch klar, warum sich unser kleines Land heute etwas eingezwängt fühlt in seinen Grenzen, denn es hat das Gedächtnis und den Verstand eines großen Königs und Freiheitskämpfers, aber den Körper eines Liliputaners, der als Hofnarr irgendwo auf dem Treppchen unterhalb des Throns sitzt, auf dem heute andere europäische Länder regieren, und wenn dieser Liliputaner sich über seine Lage ärgert, dann schellen die Glöckchen an seinen Pantoffeln und seinem Hut, und die Gesellschaft im Raum ist belustigt, was den Liliputaner nur noch mehr ärgert."

Den größten Teil dieses wortmächtigen Schelmenromans widmet Nawrat der Nachkriegszeit und porträtiert in vielen kleinen Episoden, wie sich Opa Jurek und dessen Frau Zosia in diesem kaputten Polen zurechtzufinden versuchen. Wie in einem Stück von Brecht beschließt Jurek, ein anständiger Mensch zu sein. Doch immer wieder stößt er auf unüberbrückbare Widersprüche in dieser westslawischen Variante des real existierenden Sozialismus. Etwa in der Rolle als Direktor eines Delikatessenladens, in der er sich für das leibliche Wohl seiner Mitmenschen verantwortlich fühlt. Doch er kann seiner Aufgabe nicht gerecht werden, da er ständig von oben diktiert bekommt, wer von den Kunden wie viel und welche Produkte erhält, wer zuerst bedient werden darf und wie die Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter auszusehen haben. Bei jeder Entscheidung wiegt nicht die Vernunft am schwersten, sondern die Röte des Parteibuchs.

Opa Jurek, der prinzipiell an die Idee des Sozialismus glaubt, hört nicht auf, seinem Gewissen zu folgen. Schnell muss er feststellen, dass diese Entscheidung zu Verhören, Verfolgungen und Verleumdungen führt. Nawrat spiegelt dieses bittere, ungerechte Leiden nicht nur eindrucksvoll in einer Sprache, in der jeder Nebensatz eine geradezu bestechend poetische Qualität entfaltet. Nein, er tut dies vor allem mit einer Ironie, die ganz bewusst den schnöden Parteiduktus aufgreift, um die brutale Realität in ihrer Abweichung vom sozialistischen Ideal in erschütternden Kontrasten zu verdeutlichen.

Das ist nämlich das prägende Element dieses Buches: sein tragischer Witz. Als Beispiel sei die Szene genannt, in der Nawrat das klaustrophobische Polen nach dem Ausruf des Kriegsrechts 1981 durch General Jaruzelski beschreibt. Jurek hat da bereits einen erwachsenen Sohn, der sich nichts sehnlicher wünscht, als Polen Richtung Kanada zu verlassen. Den Plan will der Hobbybergsteiger notfalls mit einer Flucht über das Tatra-Gebirge verwirklichen. Die verhängte Ausgangssperre ist ihm und seinen Freunden eine willkommene Gelegenheit, auf die willkürlich in die Luft schießenden jungen Soldaten mit zivilem Ungehorsam zu reagieren - mit fatalen Folgen: "Einmal, als unser Vater und unsere Mutter mit unserem Onkel Edek und dessen damaliger Freundin Danuta Balak auf dem Nachhauseweg von einer Party kurz vor 23 Uhr unter einer noch brennenden Laterne angehalten worden waren und sich den Tonfall dieser Jugendlichen nicht gefallen lassen wollten, schossen sie ausnahmsweise nicht in die Luft, sondern in Danuta Balak hinein, die versucht hatte, unseren Onkel Edek zurückzuhalten, als er einem der jungen Männer eine Tracht Prügel androhte. Was im Krankenhaus endete, jedoch passierte Danuta Balak fast nichts, außer dass sie später im Rollstuhl sitzen musste, aber heutzutage gibt es zum Glück in fast jedem Geschäft oder Amt eine Rollstuhlrampe oder einen Aufzug."

Sowohl der Erzähler als auch Opa Jurek präsentieren sich als Apologeten eines "Umgekehrten Humors". Je mehr man von Jureks Schicksalsschlägen erfährt, desto mehr versteht man, dass dieser perfide, invertierte Witz eine Strategie ist, das ungerechte Schicksal nicht nur zu ertragen, sondern es auch zu überwinden. Verbitterung ist diesem Polen fremd, was seine Biographie in den Händen von Nawrat zu einem unerhörten literarischen Wunder macht. Denn noch nie ist es einem Autor gelungen, die neuere Geschichte Polens, die insbesondere in Deutschland kaum bekannt ist, derart klug in einer Mischform aus Witz und Tragik erzählerisch zu verdichten.

Man merkt diesem Roman an, dass er einem biographischen Interesse entspringt: Matthias Nawrat ist 1989 mit seiner Familie aus Polen nach Bamberg ausgewandert. Und es steht fest, dass sich Teile der Beschreibungen auf die Erinnerungen an Nawrats eigenen Großvater beziehen. Wo nun aber die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Tragik und Komik exakt verlaufen, ist nach der Lektüre so ungewiss wie egal. Denn gerade in der Gratwanderung gewinnt dieses großartige Buch seine volle verstörende Kraft.

TOMASZ KURIANOWICZ

Matthias Nawrat: "Die vielen Tode unseres Opas Jurek". Roman.

Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 416 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" ist bereits der dritte Roman Matthias Nawrats erschienen, verkündet Rezensent Nico Bleutge, der den Autor allein für sein geniales Spiel mit literarischen Ideen schätzt. In diesem Fall sind es Versatzstücke des Schelmenromans, erklärt der Kritiker, der hier einem Chor klug arrangierter Sprechweisen, ihren Affekten, Vorurteilen und ideologischen Hintergründen lauscht. Ein Jahrhundert polnischer Geschichte, beginnend im Warschau der Zwanziger Jahre bis in die Nach-Wende-Zeit, erlebt der Rezensent auf vielen verschiedenen Wahrnehmungsebenen und bewundert dabei Nawrats Kunst der Umkehrung, die gängige Denkmuster nicht selten in ihr Gegenteil verkehre. Insbesondere hebt der Rezensent das Kapitel über die Zeit des Großvaters in Auschwitz hervor: Absurder, komischer noch als Roberto Benigni in "La vita è bella", lobt Bleutge, der zwar nicht jedem Kapitel die gleiche "dialektische Schärfe" attestiert, diese bewegungsreiche, mit Klischees und Vorurteilen spielende Erinnerungssuche aber dennoch uneingeschränkt empfehlen kann.

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