Zwei Interpretationen der gegenwärtigen Welt stehen heute im Vordergrund: die Vorstellung vom Ende der Geschichte - also der Homogenisierung der modernen Gesellschaften unter den Vorzeichen von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft -und die Prognose vom Kampf der Kulturen. Nach Eisenstadt haben beide Deutungen unrecht. Seine Generaldiagnose lautet vielmehr, daß wir heute die oftmals konfliktreiche Entwicklung mehrerer Arten der Moderne beobachten.Fast überall weisen die verschiedenen institutionellen Sphären - Wirtschaft, Politik, Familie - voneinander relativ unabhängige Merkmale auf, die in verschiedenen Gesellschaften und Entwicklungsperioden jeweils unterschiedlich kombiniert werden. Wir können nicht mehr annehmen, daß sich sämtliche Züge der westeuropäischen Moderne ganz natürlich in allen übrigen Zivilisationen durchsetzen werden. Eisenstadts Interesse richtet sich deshalb auf die Vielfalt, den ständigen Wandel und die Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Dimensionen der Moderne. Zu welch paradoxen Verbindungen es dabei kommen kann, lehrt ein Blick auf die modernen fundamentalistischen Bewegungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2000Na, das sieht alles gar nicht mehr prächtig aus
S. N. Eisenstadt rückt die traditionelle Sicht der Soziologie auf die Moderne zurecht
Das Lebensgefühl der Moderne bestimmte die Gründerväter der Soziologie. Durkheim wie Weber, Simmel wie Tönnies - sie alle betrachteten sich als Zeugen einer historischen Epoche, die von allen traditionalen Formen der Vergesellschaftung durch eine unüberwindbare Kluft getrennt sei. Bei allen Unterschieden in der konkreten Charakterisierung moderner Gesellschaften, bei allen Differenzen in den theoretischen Ausgangspositionen auch, stellten sie doch das Attribut der Modernität zur Beschreibung ihrer Gegenwart niemals in Frage. Eine unterstellte Dichotomie von Moderne und Tradition bildete somit den entscheidenden theoretischen Kern einer sich eben erst im etablierten Kanon der Wissenschaften etablierenden Disziplin.
Diese Vorstellung prägte noch die beiden wichtigsten makrosoziologischen Ansätze der Nachkriegszeit: den Marxismus und die Modernisierungstheorie. Selbstverständlich unterschieden sich diese erheblich hinsichtlich der Frage, kraft welcher Mittel und Methoden so genannte "nicht-moderne" Gesellschaften "aufholen" und so zur Moderne "aufschließen" könnten. Aber die von den Klassikern der Soziologie entwickelte These, dass es eine einheitliche moderne Gesellschaft gibt, wurde auch von ihnen nicht in Frage gestellt. Selbst so geläufige Zeitdiagnosen wie die vom "Ende der Geschichte" oder dem "Kampf der Kulturen" erweisen sich letztlich als dieser Annahme verpflichtet. Denn gestritten wird in diesen Debatten nur darum, ob in Zukunft alle Teile der Welt in einer modernen Lebensform konvergieren oder diese immer währende Konflikte mit weniger modernen Gesellschaften zu gewärtigen hat.
Das enormen Platz im Bücherregal beanspruchende Gesamtwerk des israelischen Soziologen S. N. Eisenstadt verdeutlicht, wie steinig und mühsam für ein Fach die Distanzierung von den grundsätzlichen Überzeugungen seiner Begründer sein kann. Beachtenswert ist Eisenstadts Werk besonders deshalb, weil es zunächst maßgeblich unter dem Einfluss Parsons stand und also den Funktionalismus, das theoretische Grundprinzip der Modernisierungstheorie, akzeptierte. Gerade weil der junge Eisenstadt innerhalb der etablierten soziologischen Tradition aufwuchs, enthält seine Kritik an dieser eine viel größere Brisanz als etwa die Einlassungen der Systemtheorie oder des Marxismus.
Im Zentrum von Eisenstadts Denken steht der ursprünglich aus Karl Jaspers Studie "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" stammende Begriff der "Achsenzeit". Eisenstadt gebraucht diesen im Kontext seiner zahlreichen Studien über die kulturellen Grundlagen der Weltzivilisationen zur Bezeichnung der Zeit von 800 bis 200 vor Christus. Der systematische Witz dieser Rede von der "Achsenzeit" besteht in einem neuen Begriff von Tradition. Während Tradition in der soziologischen Konvention als eine bewahrende und unbewegliche Bremse betrachtet wird, die dem dynamischen und unaufhörlich sich bewegenden Motor der Geschichte seine Leistungskraft raubt, sieht Eisenstadt in Traditionen ein bestimmtes kulturelles Programm, welches allen, auch modernen Gesellschaften eigen ist und diese auf eine bestimmte Weise formt. Der entscheidende Unterschied besteht folglich nicht zwischen Tradition und Moderne, sondern zwischen achsenzeitlichen und nicht-achsenzeitlichen Kulturen. Allen achsenzeitlichen Kulturen und ausschließlich diesen eignet laut Eisenstadt eine bestimmte Spannung zwischen transzendenter Heilserwartung und mundanem Alltag. Diese Spannung lässt die weltliche Ordnung als rekonstruktionsbedürftig erscheinen, und dies wiederum führt zu einer Ideologisierung von Konflikten, die nun auf innerweltlicher oder außerweltliche Weise bearbeitet werden können.
In den 1997 in Heidelberg gehaltenen und nun unter dem Titel "Die Vielfalt der Moderne" gehaltenen Max-Weber-Vorlesungen sucht Eisenstadt in knapper und konziser Weise diese Überlegungen für eine Theorie der Moderne fruchtbar zu machen. Nicht eine einheitliche Moderne gibt es demnach, sondern eine Vielfalt ganz unterschiedlicher Modernen mit zahlreichen Antinomien zwischen diesen. Im Anschluss an eine Formulierung von Edward Shils interessiert sich Eisenstadt vor allem für die Frage, wie eine Kultur die Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie austrägt, wie sich also die geltenden Symbole und Werte zu den um Anerkennung kämpfenden verhalten. Eisenstadt macht diesbezüglich entscheidende Unterschiede zwischen Japan, den Vereinigten Staaten und Europa aus.
Musste der Zugang zum Zentrum, also zu Bürgerrecht und Repräsentation, in Europa und Japan erst mühsam erkämpft werden, stand er allen Amerikanern seit Begründung der Republik offen. Während indes in Europa die Proteste der Peripherie das Zentrum zu erobern und gemäß den eigenen Vorstellungen zu durchdringen versuchten, suchten in Amerika und Japan die Proteste der Peripherie lediglich Freiräume für zivilgesellschaftliche Organisationen und kulturelle Kreativität zu erhalten. Wurden schließlich die Protestbewegungen in den Vereinigten Staaten und Europa vom ständigen Bewusstsein einer Disharmonie zwischen Ideal und politischer Realität angespornt und insofern durch utopische Orientierungen wesentlich motiviert, ermangelte japanischen Protestbewegungen jede Art von Heilserwartung. Folglich wären die "great revolutions" der Achsenzeit, so behauptet Eisenstadt, in nicht-achsenzeitlichen Kulturen überhaupt nicht denkbar gewesen.
Japan gilt Eisenstadt als wesentlicher Beleg für die Möglichkeit einer modernen, aber eben nicht-achsenzeitlichen Kultur. Das Kapitel über Japan ist auch das gelungenste des ganzen Buches. Während die anderen Kapitel meist etwas oberflächlich gehalten und fast im Stil einer allgemeinen Länderkunde verfasst sind, warten hier die Ausführungen mit einer Vielzahl von verblüffenden Einsichten auf.
Misslungen ist hingegen das Kapitel über den Fundamentalismus. Dessen Definition als einer entschieden nicht-westlichen Vision von Moderne ist zwar zutreffend und unterscheidet sich wohltuend von den so häufig anzutreffenden Etikettierungen des Fundamentalismus als antimodern. Aber Eisenstadt selbst schmälert den Gewinn dieser Einsicht durch seinen ständigen Verweis auf die "jakobinischen" Elemente des Fundamentalismus. So wie es einst en vogue war, den Totalitarismus als säkularisierte Form gnostischer Heilserwartungen zu begreifen, so erblickt nun Eisenstadt im Fundamentalismus die religiöse Variante eines jakobinischen Messianismus. Doch die eine These wie die andere, das hat vor allem Hans Blumenberg gezeigt, verwechselt inhaltliche Identität mit formalen Analogien. Eisenstadts Verpflichtung gegenüber den Thesen eines Talmon oder Voegelin ist umso rätselhafter, als sie von der Struktur seiner Argumente gar nicht erzwungen wird. Davon abgesehen hat "Die Vielfalt der Moderne" als die überzeugendste Revision der Modernisierungstheorie, die bisher vorliegt, zu gelten.
PETER VOGT
S. N. Eisenstadt: "Die Vielfalt der Moderne". Aus dem Englischen und bearbeitet von Brigitte Schluchter. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000. 245 S., br., 49,- DM.
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S. N. Eisenstadt rückt die traditionelle Sicht der Soziologie auf die Moderne zurecht
Das Lebensgefühl der Moderne bestimmte die Gründerväter der Soziologie. Durkheim wie Weber, Simmel wie Tönnies - sie alle betrachteten sich als Zeugen einer historischen Epoche, die von allen traditionalen Formen der Vergesellschaftung durch eine unüberwindbare Kluft getrennt sei. Bei allen Unterschieden in der konkreten Charakterisierung moderner Gesellschaften, bei allen Differenzen in den theoretischen Ausgangspositionen auch, stellten sie doch das Attribut der Modernität zur Beschreibung ihrer Gegenwart niemals in Frage. Eine unterstellte Dichotomie von Moderne und Tradition bildete somit den entscheidenden theoretischen Kern einer sich eben erst im etablierten Kanon der Wissenschaften etablierenden Disziplin.
Diese Vorstellung prägte noch die beiden wichtigsten makrosoziologischen Ansätze der Nachkriegszeit: den Marxismus und die Modernisierungstheorie. Selbstverständlich unterschieden sich diese erheblich hinsichtlich der Frage, kraft welcher Mittel und Methoden so genannte "nicht-moderne" Gesellschaften "aufholen" und so zur Moderne "aufschließen" könnten. Aber die von den Klassikern der Soziologie entwickelte These, dass es eine einheitliche moderne Gesellschaft gibt, wurde auch von ihnen nicht in Frage gestellt. Selbst so geläufige Zeitdiagnosen wie die vom "Ende der Geschichte" oder dem "Kampf der Kulturen" erweisen sich letztlich als dieser Annahme verpflichtet. Denn gestritten wird in diesen Debatten nur darum, ob in Zukunft alle Teile der Welt in einer modernen Lebensform konvergieren oder diese immer währende Konflikte mit weniger modernen Gesellschaften zu gewärtigen hat.
Das enormen Platz im Bücherregal beanspruchende Gesamtwerk des israelischen Soziologen S. N. Eisenstadt verdeutlicht, wie steinig und mühsam für ein Fach die Distanzierung von den grundsätzlichen Überzeugungen seiner Begründer sein kann. Beachtenswert ist Eisenstadts Werk besonders deshalb, weil es zunächst maßgeblich unter dem Einfluss Parsons stand und also den Funktionalismus, das theoretische Grundprinzip der Modernisierungstheorie, akzeptierte. Gerade weil der junge Eisenstadt innerhalb der etablierten soziologischen Tradition aufwuchs, enthält seine Kritik an dieser eine viel größere Brisanz als etwa die Einlassungen der Systemtheorie oder des Marxismus.
Im Zentrum von Eisenstadts Denken steht der ursprünglich aus Karl Jaspers Studie "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" stammende Begriff der "Achsenzeit". Eisenstadt gebraucht diesen im Kontext seiner zahlreichen Studien über die kulturellen Grundlagen der Weltzivilisationen zur Bezeichnung der Zeit von 800 bis 200 vor Christus. Der systematische Witz dieser Rede von der "Achsenzeit" besteht in einem neuen Begriff von Tradition. Während Tradition in der soziologischen Konvention als eine bewahrende und unbewegliche Bremse betrachtet wird, die dem dynamischen und unaufhörlich sich bewegenden Motor der Geschichte seine Leistungskraft raubt, sieht Eisenstadt in Traditionen ein bestimmtes kulturelles Programm, welches allen, auch modernen Gesellschaften eigen ist und diese auf eine bestimmte Weise formt. Der entscheidende Unterschied besteht folglich nicht zwischen Tradition und Moderne, sondern zwischen achsenzeitlichen und nicht-achsenzeitlichen Kulturen. Allen achsenzeitlichen Kulturen und ausschließlich diesen eignet laut Eisenstadt eine bestimmte Spannung zwischen transzendenter Heilserwartung und mundanem Alltag. Diese Spannung lässt die weltliche Ordnung als rekonstruktionsbedürftig erscheinen, und dies wiederum führt zu einer Ideologisierung von Konflikten, die nun auf innerweltlicher oder außerweltliche Weise bearbeitet werden können.
In den 1997 in Heidelberg gehaltenen und nun unter dem Titel "Die Vielfalt der Moderne" gehaltenen Max-Weber-Vorlesungen sucht Eisenstadt in knapper und konziser Weise diese Überlegungen für eine Theorie der Moderne fruchtbar zu machen. Nicht eine einheitliche Moderne gibt es demnach, sondern eine Vielfalt ganz unterschiedlicher Modernen mit zahlreichen Antinomien zwischen diesen. Im Anschluss an eine Formulierung von Edward Shils interessiert sich Eisenstadt vor allem für die Frage, wie eine Kultur die Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie austrägt, wie sich also die geltenden Symbole und Werte zu den um Anerkennung kämpfenden verhalten. Eisenstadt macht diesbezüglich entscheidende Unterschiede zwischen Japan, den Vereinigten Staaten und Europa aus.
Musste der Zugang zum Zentrum, also zu Bürgerrecht und Repräsentation, in Europa und Japan erst mühsam erkämpft werden, stand er allen Amerikanern seit Begründung der Republik offen. Während indes in Europa die Proteste der Peripherie das Zentrum zu erobern und gemäß den eigenen Vorstellungen zu durchdringen versuchten, suchten in Amerika und Japan die Proteste der Peripherie lediglich Freiräume für zivilgesellschaftliche Organisationen und kulturelle Kreativität zu erhalten. Wurden schließlich die Protestbewegungen in den Vereinigten Staaten und Europa vom ständigen Bewusstsein einer Disharmonie zwischen Ideal und politischer Realität angespornt und insofern durch utopische Orientierungen wesentlich motiviert, ermangelte japanischen Protestbewegungen jede Art von Heilserwartung. Folglich wären die "great revolutions" der Achsenzeit, so behauptet Eisenstadt, in nicht-achsenzeitlichen Kulturen überhaupt nicht denkbar gewesen.
Japan gilt Eisenstadt als wesentlicher Beleg für die Möglichkeit einer modernen, aber eben nicht-achsenzeitlichen Kultur. Das Kapitel über Japan ist auch das gelungenste des ganzen Buches. Während die anderen Kapitel meist etwas oberflächlich gehalten und fast im Stil einer allgemeinen Länderkunde verfasst sind, warten hier die Ausführungen mit einer Vielzahl von verblüffenden Einsichten auf.
Misslungen ist hingegen das Kapitel über den Fundamentalismus. Dessen Definition als einer entschieden nicht-westlichen Vision von Moderne ist zwar zutreffend und unterscheidet sich wohltuend von den so häufig anzutreffenden Etikettierungen des Fundamentalismus als antimodern. Aber Eisenstadt selbst schmälert den Gewinn dieser Einsicht durch seinen ständigen Verweis auf die "jakobinischen" Elemente des Fundamentalismus. So wie es einst en vogue war, den Totalitarismus als säkularisierte Form gnostischer Heilserwartungen zu begreifen, so erblickt nun Eisenstadt im Fundamentalismus die religiöse Variante eines jakobinischen Messianismus. Doch die eine These wie die andere, das hat vor allem Hans Blumenberg gezeigt, verwechselt inhaltliche Identität mit formalen Analogien. Eisenstadts Verpflichtung gegenüber den Thesen eines Talmon oder Voegelin ist umso rätselhafter, als sie von der Struktur seiner Argumente gar nicht erzwungen wird. Davon abgesehen hat "Die Vielfalt der Moderne" als die überzeugendste Revision der Modernisierungstheorie, die bisher vorliegt, zu gelten.
PETER VOGT
S. N. Eisenstadt: "Die Vielfalt der Moderne". Aus dem Englischen und bearbeitet von Brigitte Schluchter. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000. 245 S., br., 49,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Leonhard Neidhart ist äußerst angetan von der Studie über Entwicklung und unterschiedliche Ausprägungen moderner Zivilisationen. Der Autor wende sich gegen "klassische Modernisierungstheorien", kritisiere aber genauso neuere Ansätze wie die von Fukuyama und Huntington. Das Hauptanliegen Eisenstadts sieht der Rezensent in der Abkehr von der "Konvergenzannahme" gegen die sich Eisenstadt mit seiner These von der "Vielfalt" und Unterschiedlichkeit moderner Gesellschaftsentwicklungen wendet, wobei er sich exemplarisch mit den USA, Japan und Europa beschäftigt. Der Rezensent preist die gute Lesbarkeit der "komplexen und aktuelle" Untersuchung, die aus einem 1997 an der Universität Heidelberg gehaltenen Gastvortrag hervorgegangen ist und hebt die "vorzügliche" Übersetzung hervor. Er lobt den Verzicht auf unverständlichen Fachjargon mit dem Eisenstadt seine "theoretisch und empirisch fundierten" Überlegungen darlegt und betont nachdrücklich den "Reifegrad" dieser Studie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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