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Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 260
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 427g
  • ISBN-13: 9783770144709
  • ISBN-10: 3770144708
  • Artikelnr.: 24126107
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.1999

Geschichte am Tresen
Vasilij Dimov tankt sich durch Berliner Gewässer

"Die vier Leben des heiligen Possekel" erschienen im russischen Original vor zwei Jahren in Berlin. "Berlin ist die Stadt", so tönt es noch im Schlusssatz der letzten dieser vier Erzählungen, deren Zusammenstellung vom Autor oder Verlag als Roman deklariert wird. Tatsächlich ergibt die Folge ein bedeutungsheischend montiertes Bilderalbum, garniert mit halbstarken Sprüchen. "Berlin ist der Hafen aller Meere", lautet einer davon.

In der ersten Geschichte lässt Dimov, der als Stipendiat mehrfach längere Zeit in Deutschland gelebt hat, einen Passagierdampfer auf Weltreise in Berlin vor Anker gehen. Eine aparte Idee, doch will sich der Reiz des Surrealen, Exotischen nicht einstellen. Das liegt zum wenigsten daran, dass die "echte" gebaute Virtualisierung des Stadtraums alle nur imaginären Deformationen längst überflügelt hat. Nein, Dimovs Berlin fehlt es einfach an jeder Wiedererkennbarkeit im Detail; die Illusion hat keinen Hintergrund, auf dem die Unterspülung der Wirklichkeit fühlbar und zum Quell der Beunruhigung werden könnte.

Nicht gespart wird mit Spannung und Abenteuer. Im Mittelpunkt der Eröffnungsgeschichte steht ein von wirren Revolutionsträumen heimgesuchter Passagier, der unter melancholischen Schüben leidet und vergeblich einer Dame vom Luxusdeck nachstellt. Sie hält ihr Gesicht verborgen hinter dem "bekannten, in Fraktur gesetzten Titel" einer Tageszeitung, die der Bordservice den Reisenden auch auf hoher See jeden Morgen anbieten kann. Nun, da ein Maschinenschaden die Weiterfahrt verzögert, scheint eine geheimnisvolle Annonce der Zeitungsleserin höchst wichtige Informationen zuzuspielen. Deren Bedeutung bleibt dem Verfolger, aus dessen Perspektive erzählt wird, ebenso unzugänglich wie die Dame selbst. Da vermag auch die konspirative Mithilfe des Barkeepers nichts auszurichten, dem sich der einsame Rebell unter exzessivem Wodkagenuss anvertraut. Die Entwirrung des geschürzten Knotens geschieht denkbar simpel, indem der Held das Schiff kurzerhand in die Luft jagt.

Diese Story wird vorgetragen in einer gedrungenen, sehnigen Sprache, die nicht unattraktiv ist und an keiner Stelle der Übersetzung "sekundär" klingt. Die Andeutung militanter Machenschaften aber und erst recht der Bezug auf den starrsinnig reklamierten Schauplatz Berlin laufen ins Leere, was symptomatisch ist für eine Schwäche des ganzen Buches. Wollte man Dimovs Einfall verfilmen, müsste eine enttäuschende Handlungslinie mit einem Höchstmaß an materiellem Aufwand in Szene gesetzt werden. Etwa die Behauptung, an Deck habe man einen echt brasilianischen Sandstrand für Hunderte von Urlaubern aufgeschüttet: In einem Filmstudio käme sie teuer zu stehen, sie ist aber auch im literarischen Sinne unökonomisch.

Der Eindruck, dass dieser Autor Übertreibungen nötig hat, um der Handlung auf die Beine zu helfen, bestätigt sich in den folgenden Geschichten auf fatale Weise. Denn nun geht es um historisch befrachtete Deutschland-Assoziationen, mit denen sich bedeutungsschwer wuchern lässt. Richard Wagner und Hitler, Konzentrationslager und Reichstagsbrand: Ein pseudosakrales Getue um "große" Namen und Schicksalsorte deutscher Geschichte hebt an. Ein wenig Übersicht stiftet hierbei der Schutzumschlag, auf dessen Seiten vier durchnummerierte Kleiderbügel mit den von der Hauptfigur jeweils getragenen "Kostümen" abgebildet sind. Der nicht ganz neue Trick Dimovs besteht in der Verkettung disparater Episoden auf dem Wege der Reinkarnation. Zwar wird die Titelfigur Possekel erst ab Mitte der letzten Erzählung mit diesem Namen genannt, doch soll er, dem anscheinend nachträglichen Rahmenkonzept zufolge, auch in den anderen Episoden den Helden stellen. Dafür braucht es einen Heiligen, denn die machen die meisten Überstunden; ist ein Leben dahin, stehen sie in der nächsten Episode unverdrossen wieder auf. Eine Kontinuität der Person ist dabei nicht erkennbar. Erzählt wird fast durchweg in der Ichform, und dieses "Ich" ist die von Haus aus unzuverlässigste Personenbeschreibung. Ein Platzhalter, der mal so, mal anders aussehen kann, aber immer genau da zu finden ist, wo es brennt.

Szenenbild Nummer zwei spielt in einem Konzentrationslager und erzählt vom wundersamen Aufstieg eines Häftlings zum Fahrer und Gesprächspartner eines Wachoffiziers, der unter melancholischen Schüben leidet. Die Gespräche und Schübe nähert ein tägliches Flaschenbataillon an Bordeaux, das der Häftling aus dem nächsten Dorf beschafft. Ihre erste gemeinsame Ausfahrt endet tödlich - an einem Wegzeiger, der die Aufschrift "Berlin" trägt. Bild Nummer drei führt, am Vorabend eines mutmaßlich totalitären Regimes, auf den Dachboden eines Parlamentsgebäudes, wohin sich ein als "Führer" titulierter Abgeordneter zurückzog, der unter melancholischen Schüben leidet. Umgeben von enormen Champagnervorräten, findet auch dieser Held ein letales Ende. Eine umgestürzte Kerze entfacht einen Brand, bei dem die mitgeführten Getränke als Feuerlöscher kläglich versagen. An welches brennende Parlament dabei zu denken ist, darf keinesfalls ungesagt bleiben, und wie nebenbei fällt in der letzten Zeile der Name Van der Lübbe.

Die vierte Episode, in sich dreigeteilt, ist durchdrungen vom Willen zur Klimax. So wird nacheinander in zweiter, dritter und schließlich erster Person berichtet von einem Gang durch düstere Berliner Straßenzüge, über deren Gepräge nicht die geringste Einzelheit verlautet. Unvermutet steht der Erzähler dem Dämon schlechthin gegenüber, "Adolf Hitler persönlich". Aber wen soll das einschüchtern? "In der Haltung der Hände ist mehr Martyrium als Verruchtheit. Aber die Augen sind wachsam." Da ist es dem Autor doch zumindest gelungen, selber schwer beeindruckt zu sein.

Treibt Dimov mit dem Entsetzen Scherz? Längst sind gegenüber der Nazi-Barbarei auch die unpassendsten Tonlagen und Stilmittel ausprobiert worden, und nicht selten wird das Risiko der Geschmacklosigkeit zumindest mit neuen Einsichten belohnt. Möglich ist es auch, dass die Fantasie neuerdings ungehemmter als früher durch die Kulissen des Schreckens galoppiert. Aber mit Dimovs Geschichten verhält es sich anders, sie spielen und sie schänden nicht. Wie die Süchtigen saugen sie Bedeutsamkeit, die sie selbst nicht geben können. In den "vier Leben", so fällt auf, regieren vier Elixiere der Trinksucht: Wodka, Bordeaux, Champagner. Und am Ende nichts als Wasser.

ALEXANDER HONOLD.

Vasilij Dimov: "Die vier Leben des heiligen Possekel". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Sergej Gladkich. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 206 S., geb., 44,- DM.

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