Ein New Yorker TV-Journalist verliert während einer Reportage vor laufender Kamera seine linke Hand - sie wird von einem hungrigen Zirkuslöwen aufgefressen. Millionen Fernsehzuschauer sind Zeugen des Unfalls. Nach dem Willen einer Zuschauerin soll der Journalist die Hand ihres Gatten bekommen - falls dieser stirbt. Doch der Mann ist jung und kerngesund...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2002Eine elegante Entsorgung
John Irving erzählt von erotischen Ausschweifungen und einer Handtransplantation
Trauer, Verlust und die Kraft der Liebe seien die Themen von John Irvings neuem Roman, weiß der Klappentext. Was „Die vierte Hand” deutlich von „Witwe für ein Jahr” unterscheidet, wo es noch um „Liebe und Tod, Trauer und Vergänglichkeit” ging.
Doch geht es nicht vielmehr um Transplantationsmedizin, geschlechtliche Ausschweifung und die elegante Entsorgung von Hundekot? Stellen wir Medizin und Ausschweifung zunächst zurück, so kommt ein neurasthenischer, mit einem Lacrosseschläger bewaffneter Mann ins Bild: Der Handchirurg, Harvard-Professor und Hundehaufenverächter Dr. Nicholas M. Zajac, der da gerade die unliebsame Hinterlassenschaft eines Vierbeiners mit dem Schwung des früheren Mittelfeldspielers von Deerfield in den Charles River sausen lässt, wo sie den Steuermann des Harvard-Achters nur um Haaresbreite verfehlt.
Dr. Zajac ist geschieden, Vater eines magersüchtigen Sohns und Arbeitgeber einer Haushälterin, die sich vom hässlichen Entlein zur Sexbombe mausert. Und eigentlich ist er eine Nebenfigur, die Irvings Helden Patrick Wallingford nur eine neue Hand annähen soll. Damit sind wir beim Thema, das Irving zu seinem neuem Roman anregte.
Während eines Fernsehberichts über die erste Handtransplantation in den USA hatte seine Frau Janet die „inspirierende Frage” gestellt: „Und wenn die Witwe des Spenders in bezug auf die Hand ein Besuchsrecht fordert?” Nun sollte Frau Irving ihren Mann gut genug kennen, um zu wissen, was dabei herauskommen würde: Ein indischer Zirkus, ein attraktiver Fernsehmann, der bei Frauen nicht nein sagen kann, ein hungriger Löwe, eine abgebissene Hand, ein plötzlicher Todesfall, eine noch kinderlose Witwe, eine Handtransplantation, eine nicht mehr kinderlose Witwe, ein Möchtegernvater, eine doch noch gut ausgehende Geschichte, einige Fragen.
Warum „Die vierte Hand”? Selbst in seinen besten Zeiten hat Patrick Wallingford nie mehr als zwei gehabt. Und was sind schon zwei, drei oder vier Hände angesichts der überragenden Bedeutung, die Irving Wallingfords eigentlichem Zentralorgan und dessen schier unermüdlicher Erektionsfähigkeit beimisst?
Über weite Strecken ist „Die vierte Hand” eine Nummernrevue, die zeigt, dass John Irving ein technisch routinierter, witziger und origineller Erzähler ist, der seinen Talenten inzwischen zu sehr vertraut. Im Grunde erzählt der Roman die Geschichte eines vom Erfolg verwöhnten Mannes, der eines Tages dem machtvollen, gewaltsam in sein Leben dringenden Ruf „Mensch, werde wesentlich!” folgt, um eine Familie zu gründen. Irvings ursprünglichem Thema geht es dabei wie Wallingfords „dritter” Hand: Es will und will nicht richtig anwachsen, wirkt aufgepfropft und als Belastung. Medizinisch gesehen resultieren solche Abstoßungsreaktionen aus der Unverträglichkeit verschiedener Gewebe, die durch Medikamente unterdrückt werden müssen.
Zwar tut Irving alles, um seinen Patienten am Leben und bei Laune zu halten, stimuliert Zwerchfell und erogene Zonen, massiert die Tränendrüsen, um zu verhindern, das auseinander fällt, was nicht zusammengehört. Aber am Ende bedarf es doch großer Liebe, damit dort, wo Wallingfords Armstumpf endet, eine vierte Hand spürbar wird. Und das ist dann kein Happy end, sondern eine erzählerische Notlösung.
ULRICH BARON
JOHN IRVING: Die vierte Hand. Roman. Deutsch von Nikolaus Stingl. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 439 S., 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
John Irving erzählt von erotischen Ausschweifungen und einer Handtransplantation
Trauer, Verlust und die Kraft der Liebe seien die Themen von John Irvings neuem Roman, weiß der Klappentext. Was „Die vierte Hand” deutlich von „Witwe für ein Jahr” unterscheidet, wo es noch um „Liebe und Tod, Trauer und Vergänglichkeit” ging.
Doch geht es nicht vielmehr um Transplantationsmedizin, geschlechtliche Ausschweifung und die elegante Entsorgung von Hundekot? Stellen wir Medizin und Ausschweifung zunächst zurück, so kommt ein neurasthenischer, mit einem Lacrosseschläger bewaffneter Mann ins Bild: Der Handchirurg, Harvard-Professor und Hundehaufenverächter Dr. Nicholas M. Zajac, der da gerade die unliebsame Hinterlassenschaft eines Vierbeiners mit dem Schwung des früheren Mittelfeldspielers von Deerfield in den Charles River sausen lässt, wo sie den Steuermann des Harvard-Achters nur um Haaresbreite verfehlt.
Dr. Zajac ist geschieden, Vater eines magersüchtigen Sohns und Arbeitgeber einer Haushälterin, die sich vom hässlichen Entlein zur Sexbombe mausert. Und eigentlich ist er eine Nebenfigur, die Irvings Helden Patrick Wallingford nur eine neue Hand annähen soll. Damit sind wir beim Thema, das Irving zu seinem neuem Roman anregte.
Während eines Fernsehberichts über die erste Handtransplantation in den USA hatte seine Frau Janet die „inspirierende Frage” gestellt: „Und wenn die Witwe des Spenders in bezug auf die Hand ein Besuchsrecht fordert?” Nun sollte Frau Irving ihren Mann gut genug kennen, um zu wissen, was dabei herauskommen würde: Ein indischer Zirkus, ein attraktiver Fernsehmann, der bei Frauen nicht nein sagen kann, ein hungriger Löwe, eine abgebissene Hand, ein plötzlicher Todesfall, eine noch kinderlose Witwe, eine Handtransplantation, eine nicht mehr kinderlose Witwe, ein Möchtegernvater, eine doch noch gut ausgehende Geschichte, einige Fragen.
Warum „Die vierte Hand”? Selbst in seinen besten Zeiten hat Patrick Wallingford nie mehr als zwei gehabt. Und was sind schon zwei, drei oder vier Hände angesichts der überragenden Bedeutung, die Irving Wallingfords eigentlichem Zentralorgan und dessen schier unermüdlicher Erektionsfähigkeit beimisst?
Über weite Strecken ist „Die vierte Hand” eine Nummernrevue, die zeigt, dass John Irving ein technisch routinierter, witziger und origineller Erzähler ist, der seinen Talenten inzwischen zu sehr vertraut. Im Grunde erzählt der Roman die Geschichte eines vom Erfolg verwöhnten Mannes, der eines Tages dem machtvollen, gewaltsam in sein Leben dringenden Ruf „Mensch, werde wesentlich!” folgt, um eine Familie zu gründen. Irvings ursprünglichem Thema geht es dabei wie Wallingfords „dritter” Hand: Es will und will nicht richtig anwachsen, wirkt aufgepfropft und als Belastung. Medizinisch gesehen resultieren solche Abstoßungsreaktionen aus der Unverträglichkeit verschiedener Gewebe, die durch Medikamente unterdrückt werden müssen.
Zwar tut Irving alles, um seinen Patienten am Leben und bei Laune zu halten, stimuliert Zwerchfell und erogene Zonen, massiert die Tränendrüsen, um zu verhindern, das auseinander fällt, was nicht zusammengehört. Aber am Ende bedarf es doch großer Liebe, damit dort, wo Wallingfords Armstumpf endet, eine vierte Hand spürbar wird. Und das ist dann kein Happy end, sondern eine erzählerische Notlösung.
ULRICH BARON
JOHN IRVING: Die vierte Hand. Roman. Deutsch von Nikolaus Stingl. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 439 S., 22,90 Euro.
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