Eine Gründerzeitvilla wie aus dem Bilderbuch: schmiedeeisernes Tor, zu seiten der Auffahrt ein großer Springbrunnen, der Eingang flankiert von hohen Kandelabern, Rhododendron und Rosen im verwunschenen Park, zweigeschossige Treppenhalle, Salon, Herren- und Speisezimmer, Stuck, Bleiglasfenster, Zimmerfluchten unten wie oben, Parkett oder gefliest. Bewohnt wird die Villa, die in der vogtländischen Kleinstadt Reichenbach steht, seit 1940 von Hans und Elisabeth Kramer, ihren vier Kindern und dem Personal. Doch die sorglose Zeit währt nicht lange. Der Vater - Wollkaufmann und überzeugter Nationalsozialist - kann angesichts der Verbrechen des Naziregimes an seinem Glauben nicht festhalten. Nach seinem frühen Tod wird die Familie von den Schrecken des Krieges eingeholt.
In seinem Buch "Die Villa" hat sich Hans Joachim Schädlich den Jahren zwischen 1931 und 1950 zugewandt, der Zeit vom Ende der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der DDR. In virtuoser Verdichtung erschafft er ein Psychogramm des vermeintlich harmlosen Durchschnittsmenschen, wie es aktueller nicht sein kann, und er führt vor Augen, wie eine Familie im Widerstreit von Wahn und Gewissen die Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsjahre erlebt. Getreu seiner Maxime, dass das Entscheidende einer Erzählung die Leerstellen sind, lässt er Raum für eindrucksvolle Bilder, Stimmungen und auf historischen Fakten fußende Imagination. Die Villa wird zum Gleichnis - exemplarisch für die Umbrüche des 20. Jahrhunderts.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In seinem Buch "Die Villa" hat sich Hans Joachim Schädlich den Jahren zwischen 1931 und 1950 zugewandt, der Zeit vom Ende der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der DDR. In virtuoser Verdichtung erschafft er ein Psychogramm des vermeintlich harmlosen Durchschnittsmenschen, wie es aktueller nicht sein kann, und er führt vor Augen, wie eine Familie im Widerstreit von Wahn und Gewissen die Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsjahre erlebt. Getreu seiner Maxime, dass das Entscheidende einer Erzählung die Leerstellen sind, lässt er Raum für eindrucksvolle Bilder, Stimmungen und auf historischen Fakten fußende Imagination. Die Villa wird zum Gleichnis - exemplarisch für die Umbrüche des 20. Jahrhunderts.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hans Joachim Schädlich ist der Virtuose der sprechenden Dinglichkeit. Er erzählt nicht, er benennt. Tilman Krause Die Welt 20200321
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Knapp, aber angetan bespricht Rezensent Ulrich Greiner Hans Joachim Schädlichs Roman, der ihm mutmaßlich die Familiengeschichte des Autors erzählt. Greiner erlebt hier die Vorgänge in einer Villa im vogtländischen Reichenbach während des Nationalsozialismus: Ereignisse wie das Verschwinden des jüdischen Lehrers oder der Überfall auf Polen wechseln sich ab mit Anektoden aus dem Familienalltag. Die Nüchternheit und Kühle, mit der Schädlich erzählt, sorgt für Spannung und Empörung, lobt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2020Sentimentale Reise? Aber nein!
Sein Material ist die Geschichte der eigenen Familie von den Großeltern bis in die frühen Zeiten der DDR: Hans Joachim Schädlichs Roman "Die Villa".
Die Stasi leistete sich 1976 den ebenso schlechten wie für sie typischen Scherz, den operativen Vorgang gegen Hans Joachim Schädlich unter dem Namen "Schädling" laufen zu lassen. Sehr viel bitterer war es allerdings für den Autor, als er anderthalb Jahrzehnte später erfahren musste, dass sein eigener älterer Bruder Karlheinz es war, der als "IM Schäfer" die entsprechenden Spitzeldienste leistete und dafür sogar die Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Bronze aus Erich Mielkes Hand persönlich entgegennehmen durfte.
Als Schädlichs Ausreiseantrag im Dezember 1977 stattgegeben wurde und er in die Bundesrepublik übersiedeln konnte, hatte er 42 Jahre lang in zwei aufeinander folgenden Diktaturen gelebt, unterbrochen nur von den sechs Wochen, in denen die Amerikaner in Sachsen und damit auch im Vogtland die Besatzungsmacht darstellten.
Diese Amerikaner machen Elisabeth Kramer, die mit ihren Kindern eine Villa in Reichenbach bewohnt, das Angebot, sie nach Bayern mitzunehmen, mitsamt ihren Kindern. "Elisabeth Kramer dachte: Unsere Wohnung in der Villa. Der Garten. Die Eltern in Oberheinsdorf. Die Schwiegereltern. Die Möbel. Die Kleidung. Die Kinder in der Fremde." Mit einem Satz: Es geht nicht. Weil die verwandtschaftlichen Beziehungen, noch mehr aber das Haus und die im Laufe der Jahre angehäuften Dinge so schwer auf ihr und der Familie lasten, dass ein Aufbruch unmöglich geworden ist. "Sie sagte: ,Das kann ich nicht.' Der eine Amerikaner sagte: ,Nach uns kommen die Russen.' Der andere sagte: ,It won't be fun.' Elisabeth Kramer blieb dabei. Vielen Dank. Nein."
Nicht umsonst beginnt Schädlichs Buch mit der registerhaften Beschreibung der 1890 errichteten Villa, die dem Buch den Titel gibt, und endet mit einer Liste derjenigen Gebäudeteile, die nach ihrem Abriss fast 120 Jahre danach laut Unterer Denkmalschutzbehörde "für den Einbau in andere Baudenkmale des Vogtlandes zu bergen waren: Stuckdecken, Innentüren, Fenster, Bleiglasfenster, Geländer, Dielen, Parkett, Natursteinstufen und Fussböden." Das Gelände, auf dem die Villa stand, ist nämlich von einer württembergischen Maschinenbaufirma gekauft worden, die hauptsächlich "Ballenpressen und Aktenvernichter" herstellt. Diese Ironie der Geschichte ist nicht Schädlichs Erfindung, sondern entspricht den Fakten und dem Material, das ihm zur Verfügung stand.
Dieses Material ist deutlich die Geschichte seiner eigenen Familie von den Großeltern bis in die frühen Zeiten der DDR. Es ist die Geschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs von Elisabeths Vater, Wollgroßhändler, und der Einheirat von Hans Kramer, ursprünglich Drogist, später aber Chef des schwiegerväterlichen Wollgroßhandels. Hans Kramer ist schon 1924 ein "Völkischer" gewesen und wird später Ortsgruppenleiter der NSDAP im vogtländischen Oberheinsdorf. 1940 kauft die Familie, inzwischen sind vier Kinder da, die Gründerzeitvilla in Reichenbach und ist gewissermaßen am Ziel angekommen. Zugleich schleichen sich beim überzeugten Nazi Kramer aber mehr und mehr Zweifel an seiner Überzeugung ein, bis er drei Jahre später zu der Erkenntnis kommt, seine "besten Jahre Verbrechern geopfert zu haben". Er ist zudem wegen eines frühen Herzklappenfehlers sehr krank und stirbt im Alter von 36 Jahren.
Das alles, und auch die weitere Familiengeschichte bis zum Jahre 1950 liest sich selbstverständlich keineswegs so, wie ich es hier erzählt habe. Man kennt Schädlichs spröde, protokollarische Erzählweise, die sich manchmal mit Andeutungen begnügt und in der nicht selten die Leerstellen die wichtigsten sind. Schädlich führt eine Reihe von Szenen vor - wobei die Chronologie dankenswerterweise die Struktur vorgibt -, und es ist Sache des Lesers, diese Szenen zu einem Mosaik zusammenzufügen und ihnen eine gewisse Bildhaftigkeit zu verleihen. Kurz gesagt, mit so beliebten Schmonzetten wie "Unsere Mütter, unsere Väter" oder "Unsere wunderbaren Jahre" hat Schädlichs Buch - auf eine Gattungsbezeichnung haben Autor und Verlag verzichtet - nicht das Geringste zu tun. In ihm kann man es sich einfach nicht gemütlich machen.
Die Sprödigkeit hat allerdings auch ihre Gefahren, zumal in den Anfängen des Buches. Einzelne Passagen wirken so, als sollte hier für alle, die es vergessen haben, noch einmal das Historienwissen aufgefrischt werden. Das betrifft vor allem die Szenen, die mit Sätzen beginnen wie "Am 9. April 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht Dänemark und Norwegen" oder "Am 10. Mai, abends bei einem Glas Wein, sagte Hans Kramer zu seiner Frau: ,Unsere Wehrmacht ist in Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich einmarschiert'." Es folgt dann noch ein kurzes Gespräch über die Notwendigkeit dieser Aktionen, bis der Ehemann mehr als ein Jahr später, am 22. Juni 1941, seiner Frau zugesteht, dass er nun auch Angst hat. Witziger ist dieser kleine Geschichtsunterricht nach Hitlers Einzug in Wien gestaltet. Da sagt nämlich der Bürgermeister des Ortes: "Für mich waren die Österreicher schon immer Deutsche. Wie die Bayern."
Nicht die Bündigkeit, aber der Ton ändert sich in dem Moment, als die Geschichte immer mehr aus der Perspektive des jüngsten Sohnes erzählt wird, Paul, der vom Geburtsjahr bis zu den verschiedenen Stationen seiner Kinderzeit durchaus als Alter Ego des Autors gelten darf. Nicht, dass sich nun die Erzählweise in Richtung einer "sentimental journey" ändern würde, bewahre. Aber der Schwerpunkt verschiebt sich doch vom kollektiven Familiengedächtnis zur subjektiven Erinnerung eines Einzelnen, die natürlich in dieses Familiengedächtnis eingebettet ist. Seine Erinnerungen haben eine andere Qualität von Sinnlichkeit, etwa, wenn es um das Schlachten von Kaninchen geht. Paul hat sich mit dem "zivilen Fremdarbeiter" Pierre aus Frankreich angefreundet, der ihn beim Schlachten zuschauen lässt. Ein zweites Mal möchte er das nicht mehr sehen. Paul ist auch das einzige der Kinder, das das Gesicht des toten Vaters nicht noch einmal sehen will. Und als er von 1947 an, also noch nicht im Arbeiter-und-Bauern-Staat, wohl aber in der russischen Zone, auf eigenen Wunsch Geigenunterricht erhält, registriert er für sich: "Herr Dämmer war ein verrückter, unangepasster Mann. Er behauptete, er unterrichte nach der Methode des dialektischen Materialismus. Aber er konnte nie richtig erklären, was das bedeutete."
Im Gegensatz zu Paul (und an dessen Lebensende zu seinem Vater) zeichnen sich die meisten anderen Akteure durch eigenartige Gefühlsstarre aus, die man der Kriegsgeneration mit ihrem "Überlebensgen" bis heute nachsagt. Dieses Überleben ist untrennbar mit der Technik der Lüge verbunden, mit deren Hilfe nach Adorno "jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann". Diese Technik hat sich Hans Joachim Schädlich sein Leben lang nicht aneignen können. Das macht den Rang seiner Bücher aus.
JOCHEN SCHIMMANG
Hans Joachim Schädlich: "Die Villa". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 189 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sein Material ist die Geschichte der eigenen Familie von den Großeltern bis in die frühen Zeiten der DDR: Hans Joachim Schädlichs Roman "Die Villa".
Die Stasi leistete sich 1976 den ebenso schlechten wie für sie typischen Scherz, den operativen Vorgang gegen Hans Joachim Schädlich unter dem Namen "Schädling" laufen zu lassen. Sehr viel bitterer war es allerdings für den Autor, als er anderthalb Jahrzehnte später erfahren musste, dass sein eigener älterer Bruder Karlheinz es war, der als "IM Schäfer" die entsprechenden Spitzeldienste leistete und dafür sogar die Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Bronze aus Erich Mielkes Hand persönlich entgegennehmen durfte.
Als Schädlichs Ausreiseantrag im Dezember 1977 stattgegeben wurde und er in die Bundesrepublik übersiedeln konnte, hatte er 42 Jahre lang in zwei aufeinander folgenden Diktaturen gelebt, unterbrochen nur von den sechs Wochen, in denen die Amerikaner in Sachsen und damit auch im Vogtland die Besatzungsmacht darstellten.
Diese Amerikaner machen Elisabeth Kramer, die mit ihren Kindern eine Villa in Reichenbach bewohnt, das Angebot, sie nach Bayern mitzunehmen, mitsamt ihren Kindern. "Elisabeth Kramer dachte: Unsere Wohnung in der Villa. Der Garten. Die Eltern in Oberheinsdorf. Die Schwiegereltern. Die Möbel. Die Kleidung. Die Kinder in der Fremde." Mit einem Satz: Es geht nicht. Weil die verwandtschaftlichen Beziehungen, noch mehr aber das Haus und die im Laufe der Jahre angehäuften Dinge so schwer auf ihr und der Familie lasten, dass ein Aufbruch unmöglich geworden ist. "Sie sagte: ,Das kann ich nicht.' Der eine Amerikaner sagte: ,Nach uns kommen die Russen.' Der andere sagte: ,It won't be fun.' Elisabeth Kramer blieb dabei. Vielen Dank. Nein."
Nicht umsonst beginnt Schädlichs Buch mit der registerhaften Beschreibung der 1890 errichteten Villa, die dem Buch den Titel gibt, und endet mit einer Liste derjenigen Gebäudeteile, die nach ihrem Abriss fast 120 Jahre danach laut Unterer Denkmalschutzbehörde "für den Einbau in andere Baudenkmale des Vogtlandes zu bergen waren: Stuckdecken, Innentüren, Fenster, Bleiglasfenster, Geländer, Dielen, Parkett, Natursteinstufen und Fussböden." Das Gelände, auf dem die Villa stand, ist nämlich von einer württembergischen Maschinenbaufirma gekauft worden, die hauptsächlich "Ballenpressen und Aktenvernichter" herstellt. Diese Ironie der Geschichte ist nicht Schädlichs Erfindung, sondern entspricht den Fakten und dem Material, das ihm zur Verfügung stand.
Dieses Material ist deutlich die Geschichte seiner eigenen Familie von den Großeltern bis in die frühen Zeiten der DDR. Es ist die Geschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs von Elisabeths Vater, Wollgroßhändler, und der Einheirat von Hans Kramer, ursprünglich Drogist, später aber Chef des schwiegerväterlichen Wollgroßhandels. Hans Kramer ist schon 1924 ein "Völkischer" gewesen und wird später Ortsgruppenleiter der NSDAP im vogtländischen Oberheinsdorf. 1940 kauft die Familie, inzwischen sind vier Kinder da, die Gründerzeitvilla in Reichenbach und ist gewissermaßen am Ziel angekommen. Zugleich schleichen sich beim überzeugten Nazi Kramer aber mehr und mehr Zweifel an seiner Überzeugung ein, bis er drei Jahre später zu der Erkenntnis kommt, seine "besten Jahre Verbrechern geopfert zu haben". Er ist zudem wegen eines frühen Herzklappenfehlers sehr krank und stirbt im Alter von 36 Jahren.
Das alles, und auch die weitere Familiengeschichte bis zum Jahre 1950 liest sich selbstverständlich keineswegs so, wie ich es hier erzählt habe. Man kennt Schädlichs spröde, protokollarische Erzählweise, die sich manchmal mit Andeutungen begnügt und in der nicht selten die Leerstellen die wichtigsten sind. Schädlich führt eine Reihe von Szenen vor - wobei die Chronologie dankenswerterweise die Struktur vorgibt -, und es ist Sache des Lesers, diese Szenen zu einem Mosaik zusammenzufügen und ihnen eine gewisse Bildhaftigkeit zu verleihen. Kurz gesagt, mit so beliebten Schmonzetten wie "Unsere Mütter, unsere Väter" oder "Unsere wunderbaren Jahre" hat Schädlichs Buch - auf eine Gattungsbezeichnung haben Autor und Verlag verzichtet - nicht das Geringste zu tun. In ihm kann man es sich einfach nicht gemütlich machen.
Die Sprödigkeit hat allerdings auch ihre Gefahren, zumal in den Anfängen des Buches. Einzelne Passagen wirken so, als sollte hier für alle, die es vergessen haben, noch einmal das Historienwissen aufgefrischt werden. Das betrifft vor allem die Szenen, die mit Sätzen beginnen wie "Am 9. April 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht Dänemark und Norwegen" oder "Am 10. Mai, abends bei einem Glas Wein, sagte Hans Kramer zu seiner Frau: ,Unsere Wehrmacht ist in Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich einmarschiert'." Es folgt dann noch ein kurzes Gespräch über die Notwendigkeit dieser Aktionen, bis der Ehemann mehr als ein Jahr später, am 22. Juni 1941, seiner Frau zugesteht, dass er nun auch Angst hat. Witziger ist dieser kleine Geschichtsunterricht nach Hitlers Einzug in Wien gestaltet. Da sagt nämlich der Bürgermeister des Ortes: "Für mich waren die Österreicher schon immer Deutsche. Wie die Bayern."
Nicht die Bündigkeit, aber der Ton ändert sich in dem Moment, als die Geschichte immer mehr aus der Perspektive des jüngsten Sohnes erzählt wird, Paul, der vom Geburtsjahr bis zu den verschiedenen Stationen seiner Kinderzeit durchaus als Alter Ego des Autors gelten darf. Nicht, dass sich nun die Erzählweise in Richtung einer "sentimental journey" ändern würde, bewahre. Aber der Schwerpunkt verschiebt sich doch vom kollektiven Familiengedächtnis zur subjektiven Erinnerung eines Einzelnen, die natürlich in dieses Familiengedächtnis eingebettet ist. Seine Erinnerungen haben eine andere Qualität von Sinnlichkeit, etwa, wenn es um das Schlachten von Kaninchen geht. Paul hat sich mit dem "zivilen Fremdarbeiter" Pierre aus Frankreich angefreundet, der ihn beim Schlachten zuschauen lässt. Ein zweites Mal möchte er das nicht mehr sehen. Paul ist auch das einzige der Kinder, das das Gesicht des toten Vaters nicht noch einmal sehen will. Und als er von 1947 an, also noch nicht im Arbeiter-und-Bauern-Staat, wohl aber in der russischen Zone, auf eigenen Wunsch Geigenunterricht erhält, registriert er für sich: "Herr Dämmer war ein verrückter, unangepasster Mann. Er behauptete, er unterrichte nach der Methode des dialektischen Materialismus. Aber er konnte nie richtig erklären, was das bedeutete."
Im Gegensatz zu Paul (und an dessen Lebensende zu seinem Vater) zeichnen sich die meisten anderen Akteure durch eigenartige Gefühlsstarre aus, die man der Kriegsgeneration mit ihrem "Überlebensgen" bis heute nachsagt. Dieses Überleben ist untrennbar mit der Technik der Lüge verbunden, mit deren Hilfe nach Adorno "jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann". Diese Technik hat sich Hans Joachim Schädlich sein Leben lang nicht aneignen können. Das macht den Rang seiner Bücher aus.
JOCHEN SCHIMMANG
Hans Joachim Schädlich: "Die Villa". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 189 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main