Als sich am 15. Februar 1991 die Staatsoberhäupter von Ungarn, Polen und der damaligen Tschechoslowakischen Republik in Visegrád auf dem Königsberg informell treffen, um sich künftig untereinander abzustimmen, ahnt niemand, welche Macht von dieser Verbindung drei Jahrzehnte später ausgehen könnte. Heute haben sich in diesen Staaten oligarchische und autokratische Tendenzen festgesetzt, und auf EU-Ebene ist das Bündnis, teilweise in Kooperation mit Österreich und Slowenien, ein zentraler Akteur. Etwa in der strikten Opposition gegen die Migrationspolitik der EU zeigt sich der Drang des Visegrád-Protagonisten Viktor Orbán nach einem christlichen, illiberalen Europa, das sich nach außen abschottet. Die Demokratie- und Europaspezialisten Leggewie und Karolewski fragen, welche historischen Ursachen es für diese Entwicklung gibt, was die EU versäumt hat und wie sie der Aushöhlung der Demokratie durch diese Binnenopposition begegnen kann. Dabei verweisen sie auf die Gefahr, dass selbst konsolidierte Staaten durchaus nicht vor Entdemokratisierung gefeit sind. Die Hoffnung liegt nicht zuletzt auf den parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Alternativen: In den vier Ländern verschaffen sie sich trotz zunehmender Drangsalierung gerade in der jüngeren Generation Gehör.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gegenwärtigen Debatten sehr dienlich findet Rezensentin Viktoria Großmann dieses Buch, in dem Claus Leggewie und Ireneusz Paweł Karolewski auf die vier Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) blicken, deren Bedeutung in Europa im Positiven wie im Negativen unterschätzt werde, um nicht zu sagen ignoriert. Leggewie und Karolewski analysieren den Demokratieabbau und Staatsvereinnahmung, aber auch die Kämpfe der Zivilgesellschaft und die Vermittlerrolle, die die Länder auch in Hinblick auf die Ukraine spielen könnte. Auch dass die Visegrad-Ländern sich die EU eher als lockeren Staatenbuch wünschen denn als integrierte Union, machen die Autoren der überzeugten Rezensentin deutlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2022Die Gefahr aus der Mitte Europas
Zwei Politologen warnen vor der Visegrád-Gruppe. Doch ist diese so homogen, wie es scheint?
Es sei an der Zeit, zu handeln, mahnen die beiden Politologen Claus Leggewie und Ireneusz Pawel Karolewski. "Nur wenn Europa sich der schleichenden Transformation durch das Visegrád-Bündnis widersetzt, kann es eine solidarische Zukunft geben", erklären sie den Lesern auf dem Waschzettel ihres Buches über die "Visegrád-Connection", die eine "Herausforderung für Europa" sei. Widersetze sich die EU der Politik des aus Ungarn, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik bestehenden Staatenbundes nicht, würde dieser Katalysator ihrer mittelfristigen Erosion sein und die europäische Idee zerstören.
Ihre eigene Verortung legen die Autoren früh offen. Im "westlichen" Universalismus seien sie fest verankert, schreiben sie in einem einleitenden Kapitel. Dieser postuliert, dass Demokratie in ihrer liberalen Ausprägung auch Aspekte wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz ernst nimmt. Leggewie und Karolewski sehen diese weltweit durch eine "demokratische Regression" bedroht. Besondere Sorge sollten die "Demokraturen" als eine Mischform von Demokratie und Autokratie im Herzen Europas erregen. Zumal weder die Regierenden noch die Bevölkerungen der sogenannten V4-Staaten die Union verlassen wollen. Statt neuer Brexit-Szenarien drohe eine Veränderung der EU von innen. Der Schwanz wedele mit dem Hund, beschreiben die Autoren das Phänomen in einer zugespitzten Metapher.
Tatsächlich droht der Europäischen Union eine Gefahr aus der Mitte Europas. Polens Verfassungsgericht hat jüngst polnisches Recht über die europäische Rechtsprechung gestellt. Auch Ungarn steht im Konflikt mit EU-Recht. Der Ausgang dieser Kraftprobe zwischen Brüssel, Warschau und Budapest ist offen. Die Meinungsvielfalt steht in Ungarn wie in Polen unter Druck, auch wenn unlängst der polnische Präsident Andrzej Duda ein Gesetz, das die Existenz des unabhängigen Fernsehsenders TVN bedrohte, mit seinem Veto blockierte. Ohne Frage gibt das Buch von Leggewie und Karolewski Einblicke zu einem richtigen Zeitpunkt. Wichtig ist auch, dass es die Entwicklungen der vergangenen Jahre nachzeichnet, die dazu geführt haben, dass etwa in Ungarn antisemitisch unterfütterte Kampagnen geführt werden und "unausgewogene" Berichterstattung mittlerweile unter Strafe steht.
Falsch wäre jedoch, in der 1991 formierten Visegrád-Gruppe das zentrale Vehikel für die Feldzüge von Politikern wie Viktor Orbán oder Jaroslaw Kaczynski zu sehen. Der informelle Staatenbund entstand, um alte Rivalitäten zu überwinden und gemeinsam in die Strukturen des Westens einzutreten. Jüngste Verlautbarungen des Bündnisses offenbaren eigene ostmitteleuropäische Akzente wie das Eintreten für geschlossene EU-Außengrenzen und für Atomkraft. Gerade in der Energie- und Klimapolitik haben die Ostmitteleuropäer Potential, im Westen Allianzpartner zu finden, was ihr legitimes Recht ist. Von den Warschauer und Budapester Attacken auf Rechtsstaatlichkeit, Meinungsvielfalt und Rechte von Minderheiten ist das aber zu trennen. Dass die Autoren sich hier auf das "Visegrád-Bündnis" fokussieren, irritiert.
Irreführend ist das in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird das V4-Mitgliedstaaten wie der Tschechischen Republik und der Slowakei nicht gerecht, weil diese beiden Staaten sich an den erwähnten Feldzügen nicht beteiligen und sich nach jüngsten Regierungswechseln noch stärker von Warschau und Budapest entfernt haben als ohnehin. Zum anderen ist der Eindruck einer ideologischen Kampfgemeinschaft namens Visegrád Wasser auf die Mühlen etwa der ungarischen Regierungspropaganda, die ihre eigene "illiberale" Ideologie mit Verweis auf eine angebliche gemeinsame Weltsicht der Visegrád-Gruppe überhöht. Diese Sichtweise setzt sich auch in sich westlich-proeuropäisch gebenden Kreisen durch, je mehr die V4-Staaten als "der Osten" pauschalisiert werden. Bedauerlicherweise verpassen Leggewie und Karolewski die Gelegenheit, hier gegenzusteuern.
Ungleich stärker überzeugt hingegen jener Buchteil, in dem die Autoren die Rolle der Zivilgesellschaft in jedem der sogenannten V4-Staaten beleuchten. So wird deutlich, dass Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Medien starke Fürsprecher in den jeweiligen Gesellschaften haben, die etwa mit der Wahl von Zuzana Caputová zur Präsidentin der Slowakei und bei der jüngsten tschechischen Parlamentswahl, die nach Erscheinen des Buches stattfand, neue politische Durchschlagskraft entwickelt haben. Vorsicht geboten ist jedoch bei Begriffen wie "linksliberale Oppositionelle". Es ist erstens unsicher, ob die Genannten selbst diese Zuschreibung teilen. Zweitens verkennt das die Rolle von Persönlichkeiten wie dem neuen tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala oder dem ungarischen Oppositionskandidaten Péter Márki-Zay, die als konservative Demokraten sich gegen Populisten stellen.
Leider fällt erst auf einer der letzten Seiten des Buches der Halbsatz, "dass es mit der vielbeschworenen Harmonie der V4 nicht weit her ist". Hochinteressante Aspekte wie der tschechisch-polnische Streit um den Braunkohleabbau in Turów oder die Tatsache, dass polnische Frauen zum Ärger der Regierung in Warschau Abtreibungen in Prag vornehmen, führen die Autoren ebenfalls erst zum Schluss an. Früher und in den Thesen eindeutiger auf die Unterschiede zwischen den ostmitteleuropäischen Staaten hinzuweisen hätte dem ganzen Buch gutgetan. So bleibt der Eindruck einer Abhandlung, die viele wichtige Gesichtspunkte aufführt, aber in ihren Schlüssen nicht immer überzeugt. NIKLAS ZIMMERMANN
Claus Leggewie, Ireneusz Pawel Karolewski: Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021. 171 S., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Politologen warnen vor der Visegrád-Gruppe. Doch ist diese so homogen, wie es scheint?
Es sei an der Zeit, zu handeln, mahnen die beiden Politologen Claus Leggewie und Ireneusz Pawel Karolewski. "Nur wenn Europa sich der schleichenden Transformation durch das Visegrád-Bündnis widersetzt, kann es eine solidarische Zukunft geben", erklären sie den Lesern auf dem Waschzettel ihres Buches über die "Visegrád-Connection", die eine "Herausforderung für Europa" sei. Widersetze sich die EU der Politik des aus Ungarn, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik bestehenden Staatenbundes nicht, würde dieser Katalysator ihrer mittelfristigen Erosion sein und die europäische Idee zerstören.
Ihre eigene Verortung legen die Autoren früh offen. Im "westlichen" Universalismus seien sie fest verankert, schreiben sie in einem einleitenden Kapitel. Dieser postuliert, dass Demokratie in ihrer liberalen Ausprägung auch Aspekte wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz ernst nimmt. Leggewie und Karolewski sehen diese weltweit durch eine "demokratische Regression" bedroht. Besondere Sorge sollten die "Demokraturen" als eine Mischform von Demokratie und Autokratie im Herzen Europas erregen. Zumal weder die Regierenden noch die Bevölkerungen der sogenannten V4-Staaten die Union verlassen wollen. Statt neuer Brexit-Szenarien drohe eine Veränderung der EU von innen. Der Schwanz wedele mit dem Hund, beschreiben die Autoren das Phänomen in einer zugespitzten Metapher.
Tatsächlich droht der Europäischen Union eine Gefahr aus der Mitte Europas. Polens Verfassungsgericht hat jüngst polnisches Recht über die europäische Rechtsprechung gestellt. Auch Ungarn steht im Konflikt mit EU-Recht. Der Ausgang dieser Kraftprobe zwischen Brüssel, Warschau und Budapest ist offen. Die Meinungsvielfalt steht in Ungarn wie in Polen unter Druck, auch wenn unlängst der polnische Präsident Andrzej Duda ein Gesetz, das die Existenz des unabhängigen Fernsehsenders TVN bedrohte, mit seinem Veto blockierte. Ohne Frage gibt das Buch von Leggewie und Karolewski Einblicke zu einem richtigen Zeitpunkt. Wichtig ist auch, dass es die Entwicklungen der vergangenen Jahre nachzeichnet, die dazu geführt haben, dass etwa in Ungarn antisemitisch unterfütterte Kampagnen geführt werden und "unausgewogene" Berichterstattung mittlerweile unter Strafe steht.
Falsch wäre jedoch, in der 1991 formierten Visegrád-Gruppe das zentrale Vehikel für die Feldzüge von Politikern wie Viktor Orbán oder Jaroslaw Kaczynski zu sehen. Der informelle Staatenbund entstand, um alte Rivalitäten zu überwinden und gemeinsam in die Strukturen des Westens einzutreten. Jüngste Verlautbarungen des Bündnisses offenbaren eigene ostmitteleuropäische Akzente wie das Eintreten für geschlossene EU-Außengrenzen und für Atomkraft. Gerade in der Energie- und Klimapolitik haben die Ostmitteleuropäer Potential, im Westen Allianzpartner zu finden, was ihr legitimes Recht ist. Von den Warschauer und Budapester Attacken auf Rechtsstaatlichkeit, Meinungsvielfalt und Rechte von Minderheiten ist das aber zu trennen. Dass die Autoren sich hier auf das "Visegrád-Bündnis" fokussieren, irritiert.
Irreführend ist das in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird das V4-Mitgliedstaaten wie der Tschechischen Republik und der Slowakei nicht gerecht, weil diese beiden Staaten sich an den erwähnten Feldzügen nicht beteiligen und sich nach jüngsten Regierungswechseln noch stärker von Warschau und Budapest entfernt haben als ohnehin. Zum anderen ist der Eindruck einer ideologischen Kampfgemeinschaft namens Visegrád Wasser auf die Mühlen etwa der ungarischen Regierungspropaganda, die ihre eigene "illiberale" Ideologie mit Verweis auf eine angebliche gemeinsame Weltsicht der Visegrád-Gruppe überhöht. Diese Sichtweise setzt sich auch in sich westlich-proeuropäisch gebenden Kreisen durch, je mehr die V4-Staaten als "der Osten" pauschalisiert werden. Bedauerlicherweise verpassen Leggewie und Karolewski die Gelegenheit, hier gegenzusteuern.
Ungleich stärker überzeugt hingegen jener Buchteil, in dem die Autoren die Rolle der Zivilgesellschaft in jedem der sogenannten V4-Staaten beleuchten. So wird deutlich, dass Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Medien starke Fürsprecher in den jeweiligen Gesellschaften haben, die etwa mit der Wahl von Zuzana Caputová zur Präsidentin der Slowakei und bei der jüngsten tschechischen Parlamentswahl, die nach Erscheinen des Buches stattfand, neue politische Durchschlagskraft entwickelt haben. Vorsicht geboten ist jedoch bei Begriffen wie "linksliberale Oppositionelle". Es ist erstens unsicher, ob die Genannten selbst diese Zuschreibung teilen. Zweitens verkennt das die Rolle von Persönlichkeiten wie dem neuen tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala oder dem ungarischen Oppositionskandidaten Péter Márki-Zay, die als konservative Demokraten sich gegen Populisten stellen.
Leider fällt erst auf einer der letzten Seiten des Buches der Halbsatz, "dass es mit der vielbeschworenen Harmonie der V4 nicht weit her ist". Hochinteressante Aspekte wie der tschechisch-polnische Streit um den Braunkohleabbau in Turów oder die Tatsache, dass polnische Frauen zum Ärger der Regierung in Warschau Abtreibungen in Prag vornehmen, führen die Autoren ebenfalls erst zum Schluss an. Früher und in den Thesen eindeutiger auf die Unterschiede zwischen den ostmitteleuropäischen Staaten hinzuweisen hätte dem ganzen Buch gutgetan. So bleibt der Eindruck einer Abhandlung, die viele wichtige Gesichtspunkte aufführt, aber in ihren Schlüssen nicht immer überzeugt. NIKLAS ZIMMERMANN
Claus Leggewie, Ireneusz Pawel Karolewski: Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021. 171 S., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main