Obwohl die Vivarini in der zweiten Hälfte des Quatrocento zu den bedeutendsten Malerfamilien Venedigs gehörten, sind sie erstaunlich lückenhaft erforscht. Das liegt vor allem an der schlechten Quellenlage, sowohl was Signaturen und Datierungen auf den Werken angeht, als auch biografische Quellen und
Überlieferungsgeschichte. In ihrer Habilitationsschrift hat Rebecca Müller eine umfassende…mehrObwohl die Vivarini in der zweiten Hälfte des Quatrocento zu den bedeutendsten Malerfamilien Venedigs gehörten, sind sie erstaunlich lückenhaft erforscht. Das liegt vor allem an der schlechten Quellenlage, sowohl was Signaturen und Datierungen auf den Werken angeht, als auch biografische Quellen und Überlieferungsgeschichte. In ihrer Habilitationsschrift hat Rebecca Müller eine umfassende Neubewertung der Literatur vorgenommen und sich bemüht, die vielen Aspekte in eine möglichst kohärente Argumentation einzugliedern.
Zunächst sortiert sie die biografischen Ankerpunkte, wobei eine Neudatierung von Alvise Vivarinis Geburtszeitraum eine bisher bestehende Lücke bezüglich seines Frühwerks schließen kann. Neben Alvise sind dessen Vater Antonio und sein Onkel Bartolomeo, sowie der in Künstlergemeinschaft mit Antonio arbeitende Giovanni d’Alemagna Ziel der Untersuchung.
Ein wesentlicher Punkt ist die Frage nach den Auftraggebern. Neben kirchlichen erhalten alle Vivarinis auch Aufträge aus den venezianischen Scuolas und von wohlhabenden Privatleuten. Lediglich Bartolomeo scheint einen gewissen Teil seiner Produktion auf den Handel ausgerichtet zu haben, aber die meisten Werke sind nach Müllers Analyse direkte Auftragsarbeiten. Sie findet auch keine Hinweise auf klassische Künstlerpatronage oder ein ausgeprägtes soziales Netzwerk, aus denen die Vivarinis ihre Aufträge quasi „vererben“.
Die Monografie ist weder ein Catalogue raisonné der Werke, noch intendiert sie Kriterien zu entwickeln, um Zuschreibungen oder Händescheidungen zu erlauben. Auch die Frage nach „eigenhändig“, „Werkstatt“ oder „Umkreis“ bleibt unbeantwortet, insbesondere da die materialtechnischen Untersuchungen an Originalwerken bisher äußerst lückenhaft und unsystematisch sind. Im Rahmen der Monografie wurden keine neuen Untersuchungen durchgeführt und es wurde, bis auf eine kleine Musterzeichnung, auch kein neues Werk der Vivarini identifiziert. Was sich allerdings sehr klar abzeichnet, ist die ikonografische, typologische und stilistische Unterscheidung der Werkgruppen Antonio/Bartolomeo/Alvise. Antonio ist noch völlig dem Spätmittelalter verhaftet, Bartolomeo greift dagegen virtuos neue Einflüsse (Mantegna) auf und ist auch maltechnisch auf der Höhe seiner Zeit. Alvise hat wieder einen ganz eigenständigen Stil, flächig und kantig, er vollzieht auch als Einziger den Schritt von der Temperamalerei auf Holz hin zu Öl auf Leinwand und erschließt sich mit der Historien- und Portraitmalerei neue Genres. Rebecca Müller schlussfolgert sehr nachvollziehbar, dass es eine malerische „Familientradition“ der Vivarini nicht gibt. Die einzelnen Generationen und Werkstätten zeigen weder nahtlose Übergangsformen, noch klare Lehrer-Schüler Verhältnisse.
Die schon angesprochene Frage nach dem Einfluss der Auftraggeber wird am Beispiel der Nonnenstiftung von S. Zaccaria im Detail untersucht. Die komplette Ausgestaltung der Kapelle aus der Hand Antonio Vivarinis, mit Altarretabel und Wandmalereien, zeigt das sehr gut erhaltene und auch in der Quellenlage gut überlieferte Ensemble als ein konzeptionelles Gesamtkunstwerk.
Ein weiterer Punkt ist die organisatorische Ausgestaltung der Malerzunft in Venedig und die, größtenteils hypothetische Organisation der Vivarini Werkstätten. Es zeigen sich überraschend große Freiheiten bei der Mitarbeiterwahl und Werkstattgröße, was früher geäußerte Vermutungen über statuarische Einschränkungen eindeutig widerlegt. Auch untersucht Rebecca Müller die Vertragsgestaltung bei Kooperationen zwischen Bildschnitzern und Malern in Venedig.
Der abschließende Teil behandelt die Werkgenese, wobei aus den schon genannten Gründen die Datenbasis relativ schwach ist. Die einzigen materialtechnischen Untersuchungen sind IR Aufnahmen der teilweise sehr detaillierten Unterzeichnungen. Es gibt keine Untersuchungen zu den Pigmenten oder Bindemitteln. Rebecca Müllers Analysen beschränken sich meist auf makroskopische Beobachtungen zu Maltechniken, Ikonografie und Typologie.
Auch wenn die Ausbeute an wirklich neuen Erkenntnissen insgesamt begrenzt ist, hat die Autorin durch die ausgesprochen sorgfältige und umfassende Literaturauswertung eine Basis geschaffen, die die bestehenden Lücken klar definiert und vor allem den Rahmen für zukünftige, systematische Untersuchungen vorgibt. Sie räumt viele Widersprüche in den Diskussionen der Vergangenheit aus und stellt auch prüfenswerte Hypothesen auf. In jedem Fall ist das Buch eine Fundgrube zur Organisation von Venedigs Malerzunft und der Situation der Werkstätten im Spannungsfeld zwischen Auftraggeber und künstlerischer Individualität.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)