Ádám Bodors Welten sind an den Rändern der Zivilisation verortet, im Dämmerlicht ihres Niedergangs. Bodor, ein Meister der Verquickung von Realem und Imaginären, führt uns in diesen exakt komponierten Variationen über letzte Tage an einen nicht näher bestimmten ehemaligen Kurort irgendwo in Transsilvanien: zeitlich verortet zwischen tiefer Vergangenheit und Gegenwart, eingebettet in eine wuchtige, magisch aufgeladene Natur.Adam, der Pflegesohn von Brigadier Anatol Korkodus, wartet am verfallenen Bahnhof auf einen Jungen aus einer Besserungsanstalt. Kurz darauf wird Korkodus aus unerfindlichen Gründen verhaftet. Was dahinter steckt, verbirgt sich im Unfassbaren, Geheimnisvollen. Es berührt aber zugleich wirkungsmächtig alles Geschehen: Die Vögel - unbestechlich im Lesen drohender Signale - sind bereits fort. Die äußerst unterschiedlichen Bewohner der Ortschaft aber halten mit rauen Eigensinn dem Schicksal die Kraft ihrer Würde entgegen. Plötzlich auftauchende Personen, deren Präsenz nichts Gutes verheißt, verschwinden wieder, während die schwefelhaltigen Quellen von Verhovina weiterhin sprudeln, bis sie schließlich ihre Substanz verändern. Ein grotesk-komisches Sinnbild über das Wesen totalitärer Gesellschaften in all ihrer Irrationalität, Absurdität und Unerbittlichkeit - das den Leser beides, lachen und schaudern lässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2022In einem Niemandsland zu unserer Zeit
Willkür in einer ländlichen Besserungsanstalt: Ádám Bodors Roman "Die Vögel von Verhovina"
"Zwei Wochen bevor mein Pflegevater, Brigadier Anatol Korkodus, verhaftet wurde, hatte er mir eine nagelneue Motorkettensäge von Stihl geschenkt. Er sagte, er habe sie in Czernowitz bestellt, das Paket sei bereits angekommen, es läge bei Edmund Pochoriles im Gasthof Zu den zwei Schnepfen. Ich könnte es am nächsten Morgen abholen auf dem Rückweg von der Bahnstation." So beginnt der neue Roman des ungarischen Schriftstellers Ádám Bodor, 2011 in Budapest erstmals erschienen und nun von der ungarischdeutschen Übersetzerin Timea Tankó ins Deutsche übertragen. Ort der Handlung ist eine armselige Siedlung namens Jablonska Poljana, irgendwo in Transsylvanien, im Dreiländereck von Ungarn, Rumänien und der Ukraine. Die Zeit ist ungewiss, irgendwann in Zeiten der Diktatur eines nicht benannten Herrschers. Was in dem Ort geschieht, ist von höchster Merkwürdigkeit. Der Icherzähler Adam muss einen Zögling aus einer Besserungsanstalt am Bahnhof abholen, um ihn in die bäuerliche Einrichtung des Brigadiers Korkodus zu bringen. Dieser will gefallene Kinder, die er persönlich aussucht, auf den Weg in ein richtiges Leben führen, um sie zu guten Menschen zu erziehen.
Was sich hier im namenlosen und stummen Wald abspielt - denn alle Vögel sind längst ausgeflogen -, ist ein bizarres Treffen von verstockten, durchtriebenen, besoffenen, stummen, tauben, widerborstigen jungen Leuten, die alle unter dem Befehl des Brigadiers stehen. Woher der seine Macht nimmt, bleibt offen, man muss gehorchen oder fliegt wieder aus der Einrichtung und wird in die Welt zurückgeschickt.
Bodor ist ein Autor, der ähnlich wie der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai eine düstere, verstörte Welt am Rande der Zivilisation erzählt. Keiner hat dort wirklich einen Platz oder wäre in eine Gemeinschaft eingefügt. Alle sind Einzelgänger, die Umwelt berührt sie nicht. Der Schriftsteller wurde 1936 in Kolozsvár geboren, dem heutigen Cluj in Rumänien, früher zu deutsch Klausenburg. 1982 zog er nach Budapest um, wo er noch heute lebt. Mit sechzehn Jahren wurde Bodor als politischer Häftling für drei Jahre ins Gefängnis gesteckt, worüber er auch später literarisch erzählt hat.
Er schreibt auf Ungarisch, aber in welcher Sprache die Protagonisten seines Romans sprechen, bleibt ein Geheimnis. Eine alte Frau gibt vor, Ungarisch zu können, versteht aber kein Wort, und ein junger Mann liest ihr in einer Phantasiesprache aus angeblich ungarischen Büchern vor, denn auch er ist der Sprache nicht mächtig. Das ist fast eine Schlüsselszene des Geschehens, denn keiner versteht den Sinn seines Lebens. Alle bewegen sich in Gefilden der Phantasterei. Es gibt keinerlei Struktur oder Ordnung. Die Jugendlichen müssen die Wasserstände der umliegenden Thermalquellen ablesen, aber wozu, das weiß keiner. Die Gegend ist gehüllt in Schwefel und Petroleumgestank, es regnet viel, die Landschaft ist in dichten Nebel eingepackt.
Wie es der erste Satz des Romans schon vorwegnimmt, wird der Brigadier verhaftet und später ermordet. Andere Jugendliche werden vom Hof gejagt oder verschwinden. Finstere Gestalten mit Pferdegesicht tauchen auf und verschwinden auch wieder. Überall herrscht Willkür in dieser unwirtlichen Welt, die Bodor in den düstersten Farben malt, manchmal mit Ironie und Komik versetzt, aber es bleibt ein schwermütiges Tableau. Timea Tankó fasst diese Stimmung in eindrucksvolle Bilder, die Figuren, jede in ihrer Skurrilität, sind einzigartige Wesen in einer von Gott vergessenen Umgebung. Die Ort- und Zeitlosigkeit am Rande Europas - neben Czernowitz taucht nur einmal der Name der Stadt Lemberg auf - erhöht die Verlassenheit und Einsamkeit einer Gemeinschaft, die sich unheimlichen, unsichtbaren Kräften beugen muss, ohne dass es um Schuld oder Sühne ginge.
Im Nebel taucht immer wieder der Buchstabe N auf; er steht für Nikita und bedeutet Tod. Einen Hoffnungsschimmer gibt es dennoch am Ende des Romans. Obwohl die Vögel den Ort geflohen, einen stummen Wald zurückgelassen haben, in dem nur noch ein paar altersschwache Krähen herumwanken, macht Adam, der auch einst Insasse der Besserungsanstalt gewesen ist, eine überraschende Beobachtung: "Es sind die Rotschwänze. Mit Zweiglein und Stöckchen im Schnabel kommen sie immer zur selben Stelle, einer kleinen dämmrigen Nische zwischen der Traufe und dem Balkon der Veranda. Später mit trockenen Grashalmen, schließlich mit langen Strähnen, mit denen sie die Stöckchen und Grashalme verweben . . . Ihr Flug, das Rascheln der Flügel strahlt Sicherheit und tiefe Ruhe aus, sie sehen sehr wohl, dass ich da bin und sie beobachte, doch sie kümmern sich kein bisschen um mich. Ein Stöckchen, ein Zweiglein, dann noch eins und vier oder fünf Grashalme. Wieder ein bis zwei Stöckchen, Zweiglein, vier oder fünf trockene Grashalme und dann ein langes Haar aus der Eselsmähne. Stöckchen, Zweiglein, trockener Grashalm, Haar. Als sie aufhören, bricht schon die Dämmerung an. Die Rotschwänze sind da." LERKE VON SAALFELD.
Ádám Bodor: "Die Vögel von Verhovina". Variationen über letzte Tage.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Nachwort von János Szegö.
Secession Verlag, Zürich 2022. 302 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Willkür in einer ländlichen Besserungsanstalt: Ádám Bodors Roman "Die Vögel von Verhovina"
"Zwei Wochen bevor mein Pflegevater, Brigadier Anatol Korkodus, verhaftet wurde, hatte er mir eine nagelneue Motorkettensäge von Stihl geschenkt. Er sagte, er habe sie in Czernowitz bestellt, das Paket sei bereits angekommen, es läge bei Edmund Pochoriles im Gasthof Zu den zwei Schnepfen. Ich könnte es am nächsten Morgen abholen auf dem Rückweg von der Bahnstation." So beginnt der neue Roman des ungarischen Schriftstellers Ádám Bodor, 2011 in Budapest erstmals erschienen und nun von der ungarischdeutschen Übersetzerin Timea Tankó ins Deutsche übertragen. Ort der Handlung ist eine armselige Siedlung namens Jablonska Poljana, irgendwo in Transsylvanien, im Dreiländereck von Ungarn, Rumänien und der Ukraine. Die Zeit ist ungewiss, irgendwann in Zeiten der Diktatur eines nicht benannten Herrschers. Was in dem Ort geschieht, ist von höchster Merkwürdigkeit. Der Icherzähler Adam muss einen Zögling aus einer Besserungsanstalt am Bahnhof abholen, um ihn in die bäuerliche Einrichtung des Brigadiers Korkodus zu bringen. Dieser will gefallene Kinder, die er persönlich aussucht, auf den Weg in ein richtiges Leben führen, um sie zu guten Menschen zu erziehen.
Was sich hier im namenlosen und stummen Wald abspielt - denn alle Vögel sind längst ausgeflogen -, ist ein bizarres Treffen von verstockten, durchtriebenen, besoffenen, stummen, tauben, widerborstigen jungen Leuten, die alle unter dem Befehl des Brigadiers stehen. Woher der seine Macht nimmt, bleibt offen, man muss gehorchen oder fliegt wieder aus der Einrichtung und wird in die Welt zurückgeschickt.
Bodor ist ein Autor, der ähnlich wie der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai eine düstere, verstörte Welt am Rande der Zivilisation erzählt. Keiner hat dort wirklich einen Platz oder wäre in eine Gemeinschaft eingefügt. Alle sind Einzelgänger, die Umwelt berührt sie nicht. Der Schriftsteller wurde 1936 in Kolozsvár geboren, dem heutigen Cluj in Rumänien, früher zu deutsch Klausenburg. 1982 zog er nach Budapest um, wo er noch heute lebt. Mit sechzehn Jahren wurde Bodor als politischer Häftling für drei Jahre ins Gefängnis gesteckt, worüber er auch später literarisch erzählt hat.
Er schreibt auf Ungarisch, aber in welcher Sprache die Protagonisten seines Romans sprechen, bleibt ein Geheimnis. Eine alte Frau gibt vor, Ungarisch zu können, versteht aber kein Wort, und ein junger Mann liest ihr in einer Phantasiesprache aus angeblich ungarischen Büchern vor, denn auch er ist der Sprache nicht mächtig. Das ist fast eine Schlüsselszene des Geschehens, denn keiner versteht den Sinn seines Lebens. Alle bewegen sich in Gefilden der Phantasterei. Es gibt keinerlei Struktur oder Ordnung. Die Jugendlichen müssen die Wasserstände der umliegenden Thermalquellen ablesen, aber wozu, das weiß keiner. Die Gegend ist gehüllt in Schwefel und Petroleumgestank, es regnet viel, die Landschaft ist in dichten Nebel eingepackt.
Wie es der erste Satz des Romans schon vorwegnimmt, wird der Brigadier verhaftet und später ermordet. Andere Jugendliche werden vom Hof gejagt oder verschwinden. Finstere Gestalten mit Pferdegesicht tauchen auf und verschwinden auch wieder. Überall herrscht Willkür in dieser unwirtlichen Welt, die Bodor in den düstersten Farben malt, manchmal mit Ironie und Komik versetzt, aber es bleibt ein schwermütiges Tableau. Timea Tankó fasst diese Stimmung in eindrucksvolle Bilder, die Figuren, jede in ihrer Skurrilität, sind einzigartige Wesen in einer von Gott vergessenen Umgebung. Die Ort- und Zeitlosigkeit am Rande Europas - neben Czernowitz taucht nur einmal der Name der Stadt Lemberg auf - erhöht die Verlassenheit und Einsamkeit einer Gemeinschaft, die sich unheimlichen, unsichtbaren Kräften beugen muss, ohne dass es um Schuld oder Sühne ginge.
Im Nebel taucht immer wieder der Buchstabe N auf; er steht für Nikita und bedeutet Tod. Einen Hoffnungsschimmer gibt es dennoch am Ende des Romans. Obwohl die Vögel den Ort geflohen, einen stummen Wald zurückgelassen haben, in dem nur noch ein paar altersschwache Krähen herumwanken, macht Adam, der auch einst Insasse der Besserungsanstalt gewesen ist, eine überraschende Beobachtung: "Es sind die Rotschwänze. Mit Zweiglein und Stöckchen im Schnabel kommen sie immer zur selben Stelle, einer kleinen dämmrigen Nische zwischen der Traufe und dem Balkon der Veranda. Später mit trockenen Grashalmen, schließlich mit langen Strähnen, mit denen sie die Stöckchen und Grashalme verweben . . . Ihr Flug, das Rascheln der Flügel strahlt Sicherheit und tiefe Ruhe aus, sie sehen sehr wohl, dass ich da bin und sie beobachte, doch sie kümmern sich kein bisschen um mich. Ein Stöckchen, ein Zweiglein, dann noch eins und vier oder fünf Grashalme. Wieder ein bis zwei Stöckchen, Zweiglein, vier oder fünf trockene Grashalme und dann ein langes Haar aus der Eselsmähne. Stöckchen, Zweiglein, trockener Grashalm, Haar. Als sie aufhören, bricht schon die Dämmerung an. Die Rotschwänze sind da." LERKE VON SAALFELD.
Ádám Bodor: "Die Vögel von Verhovina". Variationen über letzte Tage.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Nachwort von János Szegö.
Secession Verlag, Zürich 2022. 302 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Adám Bodor stammt aus der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen und ist für den Rezensenten Franz Haas einer der wichtigsten ungarischen Autoren. Umso mehr freut es ihn, dass sein Monumentalwerk "Die Vögel von Verhovina" mehr als zehn Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen nun endlich auch auf Deutsch vorliegt, übersetzt von Timea Tankó. Um ein ganz besonderes Buch handele es sich, eines, das brutale Schicksale von Gewalt und Tod inmitten einer "post-totalitären Gesellschaft" mit kleinen Liebesgeschichten rund um die manchmal zum Grotesken tendierenden Figuren verknüpfe. Und mit einer guten Portion magischem Realismus, schließt Haas.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH