Ungesagtes und Unsagbares zwischen den Zeilen
Der Außenseiter Mattis hat sich in seine innere Welt zurückgezogen. Mit seiner Schwester Hege lebt er in einer Hütte am See und fühlt sich mit der Natur ringsum verbunden. Besonders ziehen ihn die Waldschnepfen an, deren frühlingshaften Balzflug er als Zeichen sieht, als Verheißung, die er nicht entschlüsseln kann. Als eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, sich in Hege verliebt - und dann auch noch eine Schnepfe erschossen wird, wirft es Mattis aus der Bahn. Das Ungesagte, Unsagbare zwischen den Zeilen erzeugt eine hypnotische poetische Spannung und macht diesen Roman zu einem einzigartigen norwegischen Juwel.
Der Außenseiter Mattis hat sich in seine innere Welt zurückgezogen. Mit seiner Schwester Hege lebt er in einer Hütte am See und fühlt sich mit der Natur ringsum verbunden. Besonders ziehen ihn die Waldschnepfen an, deren frühlingshaften Balzflug er als Zeichen sieht, als Verheißung, die er nicht entschlüsseln kann. Als eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, sich in Hege verliebt - und dann auch noch eine Schnepfe erschossen wird, wirft es Mattis aus der Bahn. Das Ungesagte, Unsagbare zwischen den Zeilen erzeugt eine hypnotische poetische Spannung und macht diesen Roman zu einem einzigartigen norwegischen Juwel.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Geschenke
für
den Kopf
Die Tage werden kürzer,
und es droht eine noch stillere Zeit
als sonst um Weihnachten.
Höchste Zeit für Bücher, Filme, Musik.
Empfehlungen aus dem
Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Moritz Baumstieger
EIN GROSSER SPASS
Ist er’s? Ist er’s nicht? 25 Jahre nachdem ein namenloser Autor in „Faserland“ einen Roadtrip nach Zürich unternahm, begibt sich in „Eurotrash“ ein „Faserland“-Autor namens Christian Kracht mit seiner Mutter auf eine Reise durch die Schweiz – und gleichzeitig durch die eigene Familiengeschichte.
Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer & Witsch. 224 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Wenn sich ein 1,84 Meter großer Schreiber und ein 1,92 Meter großer Fotograf in einen Cinquecento quetschen und damit 7000 Kilometer abfahren, müssen sie von irrationalen Gefühlen geleitet sein. Im Falle der amici Marco Maurer und Daniel Etter war es die Liebe zu Italien, gutem Essen und Geschichten. Ihr Buch verführt zu einer Reise im Kopf – ein Konzept, das angesichts der Inzidenzen wieder in Mode kommt. Marco Maurer: Meine italienische Reise. Prestel Verlag. 240 Seiten, 26 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor Copy & Paste war Ausschneiden & Kleben – und nichts machte das Basteln von Einladungen, Collagen und Kinderquatsch lustiger als das anarchische „Schnippelbuch“: Tausende kleiner Bilder in einem Wälzer, den man mit der Schere traktieren durfte. Man darf es immer noch: Ein zweiter Band wurde 2015 neu aufgelegt, inklusive einem Text von Christian Ude zum Urheberrecht. Schnippelbuch 2: Schwarz-weißes Bilderarchiv. 503 Seiten, 40 Euro. www.schnippelbuch.de.
Hilmar Klute
EIN LIEBESBEWEIS
Wo rührt unsere Italiensehnsucht her? Richtig: Goethe hat sie entfacht! Aber was für Tricks und Heimlichkeiten waren nötig, bis der für beinahe alles zuständige Geheime Rat sich vom Weimarer Fürstenhof stehlen und die Tour seines Lebens machen konnte. Fein ironisch und mit großer Kennerschaft erzählt Golo Maurer diese klassische Aussteigergeschichte als Blaupause für spätere Romfahrten. Ohne Goethes Flucht ins Zitronenland wären weder Rudolf Borchardt noch Ernst Robert Curtius Gelegenheitsrömer geworden, noch wäre Ingeborg Bachmann dort „zum Schauen erwacht“ und aus Rolf Dieter Brinkmanns Klassikerzorn („Man müsste es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden“) wäre nichts geworden.
Golo Maurer: Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst. Rowohlt. 539 Seiten, 28 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Pong ist wieder da. Er hat ein bisschen geschlafen, schlecht geträumt, und jetzt will eine Frau, die Pong bald „meine Johanna“ nennt, die Wohnung über ihm mieten. Sibylle Lewitscharoff, die große, höllenkomische Stilistin, hat ihren weltkritischen, in Fremdheit und Scheu verpuppten Helden zeitgerecht mit der „Corona-Mütze“ ausgestattet und in eine kleine, abgründige Liaison mit der grässlichen Wirklichkeit getrieben. Ein poetisches Kleinod – zauberhaft, komisch, anrührend.
Sibylle Lewitscharoff: Pong am Abgrund. Insel-Bücherei. 137 Seiten, 14 Euro.
Johanna Adorján
EINE HILFE
Helene Hegemann hat ein Buch geschrieben, das Patti Smith benutzt, um in Wahrheit von etwas ganz anderem zu erzählen. Es handelt von einer 13-Jährigen (ihr selbst), deren Mutter sich gerade totgesoffen hat und deren Vater sie zu Theaterproben mitnimmt, bei denen sie erkennt, welche Kühnheit, Kraft und Freiheit Kunst einem zu schenken vermag und welche Magie sich entfaltet, wenn man Ja zum Leben sagt.
Helene Hegemann: Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition. KiWi Musikbibliothek. 112 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Nur weil jemand Johann Wolfgang von Goethe war, heißt das nicht, dass er nicht auch schlechte Gedichte geschrieben hat. Die schlechtesten (subjektive Auswahl des Herausgebers, aber sie sind wirklich sehr schlecht) sind nun in einem Band versammelt, okay, einem Bändchen, mit sehr schönen Illustrationen von Hauck & Bauer versehen.
Goethes schlechteste Gedichte. Mit Cartoons von Hauck & Bauer. Jung und Jung. 64 Seiten, 12 Euro.
Alex Rühle
EINE WIEDERENTDECKUNG
Bov Bjergs Debütroman „Deadline“, der wegen eines Druckereibrandes verschollen war, in einer Neuauflage. Der Tod und die Eltern, die Sprache und die Unmöglichkeit, die richtigen Worte zu finden, alles im Kopf einer Übersetzerin, die aus Boston ins Schwäbische zurückkommt. Sperrig, dicht wie Lyrik und abgrundtief grotesk. Bov Bjerg: Deadline. Kanon. 176 Seiten, 22 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Wenn man dieses Buch durchhat, will man sofort zum Bahnhof, egal wohin, Hauptsache los: Jaroslav Rudiš’ „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ ist eine enthusiastische Liebeserklärung an die Eisenbahn, das Unterwegssein und die europäische Geschichte. Rudiš erzählt mit großer Fabulierlust von seiner tschechischen Eisenbahnerfamilie, den besten Speisewagen und den schönsten Nachtzügen – ein Vergnügen erster Klasse. Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen. Piper. 256 Seiten, 15 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Timothy Snyder veröffentlichte 2017 nach dem Trump-Schock „Über Tyrannei, 20 Lektionen für den Widerstand“, eine Verhaltenslehre für politisch schwere Zeiten und die Frage nach dem richtigen Leben und demokratischem Engagement. Nora Krug hat diese Thesen nun mit großartigen Illustrationen, Fotocollagen und Comicpassagen angereichert. Timothy Snyder: Über Tyrannei. Illustriert von Nora Krug. C.H. Beck. 128 Seiten, 20 Euro.
David Steinitz
EIN LIEBESBEWEIS
Der Trost, den große Romane spenden, weil man mit dem Menschsein nicht mehr ganz so allein ist, findet sich in Jonathan Franzens „Crossroads“ in Hülle und Fülle. Ein Epos über eine Pastorenfamilie im Chicago der Siebzigerjahre. Über Geschwisterbande, Elternliebe, Einsamkeit, Obsessionen und Liebeskummer. So schnell und so gierig hat man lange keinen 800-Seiter mehr verschlungen.
Jonathan Franzen: Crossroads. Rowohlt. 832 Seiten, 28 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Der Niederländer Chas Gerretsen war eigentlich Kriegsfotograf, er dokumentierte Vietnam und den Militärputsch in Chile. Als er genug von Gewalt und Gefahr hatte, ging er nach Hollywood, träumte von einem entspannten Leben als Setfotograf – und landete ausgerechnet bei Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“. Seine Bilder von den vermutlich wahnsinnigsten Dreharbeiten der Filmgeschichte lagen jahrzehntelang im Archiv. Jetzt hat der 78-Jährige sie in einem opulenten Bildband herausgegeben.
Chas Gerretsen: Apocalypse Now. The Lost Photo Archive. Prestel. 256 Seiten, 45 Euro.
Carolin Gasteiger
EINE WIEDERENTDECKUNG
In ihrem Erstlingswerk von 1931 schildert Gabriele Tergit, wie der Volkssänger Georg Käsebier im Berlin der Dreißigerjahre von heute auf morgen zum Star hochgeschrieben wird. Ein liebevoll-bissiger Blick auf die Zeitungsbranche, nicht nur für diejenigen, die zu ihr gehören. Pointiert geschrieben – und, wenn auch bereits vor neunzig Jahren erschienen, nach wie vor aktuell.
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Btb Verlag. 400 Seiten, 11 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Hart, rotzig, tiefgründig – das zweite Album der Rapperin Shirin David erwischt einen mit voller Wucht. Was die 26-Jährige auf „Bitches brauchen Rap“ abliefert, ist ein einziger treffsicherer, feministischer Kommentar. Da frage noch mal jemand, wer im Deutsch-Rap jetzt eigentlich was zu sagen hat.
Shirin David: Bitches brauchen Rap. Universal.
EINE HERAUSFORDERUNG
Achatz von Müller legt zu Dantes 700. Todestag dar, was der italienische Nationaldichter und Autor der „Divina Commedia“ mit unserer Moderne zu tun hat. Ein nicht immer einfacher, aber grandioser Abriss auf gut 200 Seiten, inklusive Ezra Pound und Hannah Arendt.
Achatz von Müller: Dante. Imaginationen der Moderne. Wallstein. 222 Seiten, 22 Euro.
Christiane Lutz
EIN LIEBESBEWEIS
Diesen Roman sollte man wirklich nur ausgewählten Menschen schenken, weil er so berührend ist. Gut, dass wir hier unter uns sind: „Die Vögel“ von dem norwegischen Autor Tarjei Vesaas wurde schon 1957 veröffentlicht, der Guggolz-Verlag hat 2020 eine wunderbare Neuübersetzung herausgebracht. Der Roman betrachtet die Welt durch die Augen von Mattis, einem „Dussel“, wie ihn die anderen nennen. Mattis sieht den Himmel, die Schnepfen und findet das Glück an dem Tag, als er zwei Mädchen über den See rudert. Mattis ist pur in seiner Liebe zur Natur und zu seiner Schwester, und vielleicht ist Mattis der einzige, der klarsieht. Eine Geschichte, schlicht und überreich an Schönheit.
Tarjei Vesaas: Die Vögel. Guggolz Verlag. 276 Seiten, 23 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Wenn Menschen in die Natur eingreifen, um Probleme zu lösen, schaffen sie oft neue. Etwa südöstlich von New Orleans, wo der Kontinent nur noch aus ein paar Landzungen besteht. Dort bauten die Siedler einst Dämme gegen drohende Überflutung. Doch dadurch fehlte dem Boden der durchs Wasser angespülte Sand, so muss das Land dort heute künstlich und systematisch geflutet werden. Das Beispiel stammt aus einem Essay der Journalistin Elizabeth Kolbert. Eindrucksvoll und erschreckend logisch schlüsselt sie in „Under a White Sky“ das große Versagen des Menschen im Anthropozän auf.
Elizabeth Kolbert: Under a White Sky. Bodley Head. 256 Seiten, 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
für
den Kopf
Die Tage werden kürzer,
und es droht eine noch stillere Zeit
als sonst um Weihnachten.
Höchste Zeit für Bücher, Filme, Musik.
Empfehlungen aus dem
Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Moritz Baumstieger
EIN GROSSER SPASS
Ist er’s? Ist er’s nicht? 25 Jahre nachdem ein namenloser Autor in „Faserland“ einen Roadtrip nach Zürich unternahm, begibt sich in „Eurotrash“ ein „Faserland“-Autor namens Christian Kracht mit seiner Mutter auf eine Reise durch die Schweiz – und gleichzeitig durch die eigene Familiengeschichte.
Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer & Witsch. 224 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Wenn sich ein 1,84 Meter großer Schreiber und ein 1,92 Meter großer Fotograf in einen Cinquecento quetschen und damit 7000 Kilometer abfahren, müssen sie von irrationalen Gefühlen geleitet sein. Im Falle der amici Marco Maurer und Daniel Etter war es die Liebe zu Italien, gutem Essen und Geschichten. Ihr Buch verführt zu einer Reise im Kopf – ein Konzept, das angesichts der Inzidenzen wieder in Mode kommt. Marco Maurer: Meine italienische Reise. Prestel Verlag. 240 Seiten, 26 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor Copy & Paste war Ausschneiden & Kleben – und nichts machte das Basteln von Einladungen, Collagen und Kinderquatsch lustiger als das anarchische „Schnippelbuch“: Tausende kleiner Bilder in einem Wälzer, den man mit der Schere traktieren durfte. Man darf es immer noch: Ein zweiter Band wurde 2015 neu aufgelegt, inklusive einem Text von Christian Ude zum Urheberrecht. Schnippelbuch 2: Schwarz-weißes Bilderarchiv. 503 Seiten, 40 Euro. www.schnippelbuch.de.
Hilmar Klute
EIN LIEBESBEWEIS
Wo rührt unsere Italiensehnsucht her? Richtig: Goethe hat sie entfacht! Aber was für Tricks und Heimlichkeiten waren nötig, bis der für beinahe alles zuständige Geheime Rat sich vom Weimarer Fürstenhof stehlen und die Tour seines Lebens machen konnte. Fein ironisch und mit großer Kennerschaft erzählt Golo Maurer diese klassische Aussteigergeschichte als Blaupause für spätere Romfahrten. Ohne Goethes Flucht ins Zitronenland wären weder Rudolf Borchardt noch Ernst Robert Curtius Gelegenheitsrömer geworden, noch wäre Ingeborg Bachmann dort „zum Schauen erwacht“ und aus Rolf Dieter Brinkmanns Klassikerzorn („Man müsste es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden“) wäre nichts geworden.
Golo Maurer: Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst. Rowohlt. 539 Seiten, 28 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Pong ist wieder da. Er hat ein bisschen geschlafen, schlecht geträumt, und jetzt will eine Frau, die Pong bald „meine Johanna“ nennt, die Wohnung über ihm mieten. Sibylle Lewitscharoff, die große, höllenkomische Stilistin, hat ihren weltkritischen, in Fremdheit und Scheu verpuppten Helden zeitgerecht mit der „Corona-Mütze“ ausgestattet und in eine kleine, abgründige Liaison mit der grässlichen Wirklichkeit getrieben. Ein poetisches Kleinod – zauberhaft, komisch, anrührend.
Sibylle Lewitscharoff: Pong am Abgrund. Insel-Bücherei. 137 Seiten, 14 Euro.
Johanna Adorján
EINE HILFE
Helene Hegemann hat ein Buch geschrieben, das Patti Smith benutzt, um in Wahrheit von etwas ganz anderem zu erzählen. Es handelt von einer 13-Jährigen (ihr selbst), deren Mutter sich gerade totgesoffen hat und deren Vater sie zu Theaterproben mitnimmt, bei denen sie erkennt, welche Kühnheit, Kraft und Freiheit Kunst einem zu schenken vermag und welche Magie sich entfaltet, wenn man Ja zum Leben sagt.
Helene Hegemann: Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition. KiWi Musikbibliothek. 112 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Nur weil jemand Johann Wolfgang von Goethe war, heißt das nicht, dass er nicht auch schlechte Gedichte geschrieben hat. Die schlechtesten (subjektive Auswahl des Herausgebers, aber sie sind wirklich sehr schlecht) sind nun in einem Band versammelt, okay, einem Bändchen, mit sehr schönen Illustrationen von Hauck & Bauer versehen.
Goethes schlechteste Gedichte. Mit Cartoons von Hauck & Bauer. Jung und Jung. 64 Seiten, 12 Euro.
Alex Rühle
EINE WIEDERENTDECKUNG
Bov Bjergs Debütroman „Deadline“, der wegen eines Druckereibrandes verschollen war, in einer Neuauflage. Der Tod und die Eltern, die Sprache und die Unmöglichkeit, die richtigen Worte zu finden, alles im Kopf einer Übersetzerin, die aus Boston ins Schwäbische zurückkommt. Sperrig, dicht wie Lyrik und abgrundtief grotesk. Bov Bjerg: Deadline. Kanon. 176 Seiten, 22 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Wenn man dieses Buch durchhat, will man sofort zum Bahnhof, egal wohin, Hauptsache los: Jaroslav Rudiš’ „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ ist eine enthusiastische Liebeserklärung an die Eisenbahn, das Unterwegssein und die europäische Geschichte. Rudiš erzählt mit großer Fabulierlust von seiner tschechischen Eisenbahnerfamilie, den besten Speisewagen und den schönsten Nachtzügen – ein Vergnügen erster Klasse. Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen. Piper. 256 Seiten, 15 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Timothy Snyder veröffentlichte 2017 nach dem Trump-Schock „Über Tyrannei, 20 Lektionen für den Widerstand“, eine Verhaltenslehre für politisch schwere Zeiten und die Frage nach dem richtigen Leben und demokratischem Engagement. Nora Krug hat diese Thesen nun mit großartigen Illustrationen, Fotocollagen und Comicpassagen angereichert. Timothy Snyder: Über Tyrannei. Illustriert von Nora Krug. C.H. Beck. 128 Seiten, 20 Euro.
David Steinitz
EIN LIEBESBEWEIS
Der Trost, den große Romane spenden, weil man mit dem Menschsein nicht mehr ganz so allein ist, findet sich in Jonathan Franzens „Crossroads“ in Hülle und Fülle. Ein Epos über eine Pastorenfamilie im Chicago der Siebzigerjahre. Über Geschwisterbande, Elternliebe, Einsamkeit, Obsessionen und Liebeskummer. So schnell und so gierig hat man lange keinen 800-Seiter mehr verschlungen.
Jonathan Franzen: Crossroads. Rowohlt. 832 Seiten, 28 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Der Niederländer Chas Gerretsen war eigentlich Kriegsfotograf, er dokumentierte Vietnam und den Militärputsch in Chile. Als er genug von Gewalt und Gefahr hatte, ging er nach Hollywood, träumte von einem entspannten Leben als Setfotograf – und landete ausgerechnet bei Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“. Seine Bilder von den vermutlich wahnsinnigsten Dreharbeiten der Filmgeschichte lagen jahrzehntelang im Archiv. Jetzt hat der 78-Jährige sie in einem opulenten Bildband herausgegeben.
Chas Gerretsen: Apocalypse Now. The Lost Photo Archive. Prestel. 256 Seiten, 45 Euro.
Carolin Gasteiger
EINE WIEDERENTDECKUNG
In ihrem Erstlingswerk von 1931 schildert Gabriele Tergit, wie der Volkssänger Georg Käsebier im Berlin der Dreißigerjahre von heute auf morgen zum Star hochgeschrieben wird. Ein liebevoll-bissiger Blick auf die Zeitungsbranche, nicht nur für diejenigen, die zu ihr gehören. Pointiert geschrieben – und, wenn auch bereits vor neunzig Jahren erschienen, nach wie vor aktuell.
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Btb Verlag. 400 Seiten, 11 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Hart, rotzig, tiefgründig – das zweite Album der Rapperin Shirin David erwischt einen mit voller Wucht. Was die 26-Jährige auf „Bitches brauchen Rap“ abliefert, ist ein einziger treffsicherer, feministischer Kommentar. Da frage noch mal jemand, wer im Deutsch-Rap jetzt eigentlich was zu sagen hat.
Shirin David: Bitches brauchen Rap. Universal.
EINE HERAUSFORDERUNG
Achatz von Müller legt zu Dantes 700. Todestag dar, was der italienische Nationaldichter und Autor der „Divina Commedia“ mit unserer Moderne zu tun hat. Ein nicht immer einfacher, aber grandioser Abriss auf gut 200 Seiten, inklusive Ezra Pound und Hannah Arendt.
Achatz von Müller: Dante. Imaginationen der Moderne. Wallstein. 222 Seiten, 22 Euro.
Christiane Lutz
EIN LIEBESBEWEIS
Diesen Roman sollte man wirklich nur ausgewählten Menschen schenken, weil er so berührend ist. Gut, dass wir hier unter uns sind: „Die Vögel“ von dem norwegischen Autor Tarjei Vesaas wurde schon 1957 veröffentlicht, der Guggolz-Verlag hat 2020 eine wunderbare Neuübersetzung herausgebracht. Der Roman betrachtet die Welt durch die Augen von Mattis, einem „Dussel“, wie ihn die anderen nennen. Mattis sieht den Himmel, die Schnepfen und findet das Glück an dem Tag, als er zwei Mädchen über den See rudert. Mattis ist pur in seiner Liebe zur Natur und zu seiner Schwester, und vielleicht ist Mattis der einzige, der klarsieht. Eine Geschichte, schlicht und überreich an Schönheit.
Tarjei Vesaas: Die Vögel. Guggolz Verlag. 276 Seiten, 23 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Wenn Menschen in die Natur eingreifen, um Probleme zu lösen, schaffen sie oft neue. Etwa südöstlich von New Orleans, wo der Kontinent nur noch aus ein paar Landzungen besteht. Dort bauten die Siedler einst Dämme gegen drohende Überflutung. Doch dadurch fehlte dem Boden der durchs Wasser angespülte Sand, so muss das Land dort heute künstlich und systematisch geflutet werden. Das Beispiel stammt aus einem Essay der Journalistin Elizabeth Kolbert. Eindrucksvoll und erschreckend logisch schlüsselt sie in „Under a White Sky“ das große Versagen des Menschen im Anthropozän auf.
Elizabeth Kolbert: Under a White Sky. Bodley Head. 256 Seiten, 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Peter Urban-Halle erkennt die romantische Note im Roman von Tarjei Vesaas. Wie sich der Autor seiner Hauptfigur nähert, einem Narren vor dem Herrn in einem norwegischen Dorf - über die Perspektive des geistig armen Außenseiters, dessen Welt von anderen Ordnungen bestimmt ist, scheint für den Rezensenten das Besondere dieser Sicht zu betonen. Die neue, "umgangssprachlichere" Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel trägt dem wirren Denken der Figur Rechnung, lobt Urban-Halle.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2021Draußen in der Welt oder im Kopf
Ist das der beste norwegische Roman aller Zeiten? Endlich wurde das Buch "Die Vögel" von Tarjei Vesaas übersetzt.
Warum ist es so, wie es ist?" Das fragt Mattis die Bauersfrau, auf deren Rübenfeld er beim Unkrautjäten helfen sollte, aber wie so oft, wie eigentlich immer, hat er beim Versuch, zu arbeiten, versagt. Mattis ist der "Dussel" des Dorfes, alle nennen ihn so, die Kinder offen ins Gesicht, die Erwachsenen hinter seinem Rücken. Zusammen mit seiner Schwester Hege lebt er abseits in einem kleinen Haus am See nahe dem Wald. Auch die Schwester weiß auf seine Frage, die er schon oft gestellt hat, nicht zu antworten, es ist eben, wie es ist. Nur für ihn, Mattis, der den Kopf voll hat mit nicht mitteilbaren Gedanken, der unmittelbar ergriffen wird von dem, was er sieht und hört, ist es oft unerträglich. Unerträglich demütigend, unerträglich einsam.
Wie ein Außerirdischer lebt Mattis unter den Menschen. Denn wer sich nicht in die herrschende Ordnung passt, muss sich permanent rechtfertigen, vor den anderen und vor sich selbst. Umso mehr, wenn er abhängig ist. Mattis soll arbeiten, sich nützlich machen, dabei ist er ein Kind, wenn auch in Gestalt eines 37-jährigen Mannes. Er lässt sich ablenken von jeder Kleinigkeit, sei sie draußen in der Welt oder in seinem Kopf. So kann er die Abkürzungen der Notwendigkeit und Routine nicht nehmen und erscheint in den Augen der anderen unbrauchbar.
Mattis ist die Hauptfigur in Tarjei Vesaas' Roman "Die Vögel" aus dem Jahr 1957. Der auf literarische Wiederentdeckungen aus Nord-, Mittel- und Osteuropa spezialisierte Guggolz Verlag hatte schon 2019 Vesaas' berührenden, in seiner feinen Genauigkeit für kindliche Empfindungen einzigartigen Roman "Das Eis-Schloss" in neuer Übersetzung herausgebracht und damit das Interesse an dem großen Norweger wieder geweckt. Nun liegt mit den "Vögeln" ein zweites Hauptwerk Vesaas' vor, abermals von Hinrich Schmidt-Henkel sehr gelungen und sprachlich nah am Original ins Deutsche übertragen - was Schmidt-Henkel die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 eingebracht hat, der am 28. Mai verliehen wird.
Immer wieder versucht Mattis, sich verständlich zu machen, aber er kann seine Gedanken nicht in die zwischen Menschen übliche Sprache übersetzen. Jedes Wort ist für Mattis eins mit seiner Bedeutung, das Wort "Blitz" gefährlich wie der Blitz selbst. Floskeln, gar ein Gespräch gelingen ihm, wenn überhaupt, nur mit größter Kraftanstrengung. Ihm begegnet dabei dieselbe Geringschätzung, die sich als vorübergehendes gesteigertes Interesse tarnt, sich als Befangenheit verrät, wie sie auch Kinder erfahren. Was das Kind sagt und tut, ist für die vernünftigen Erwachsenen, die "Klugen und Schnellen", wie Mattis sie nennt, nie das Eigentliche, es ist immer das Kind, das lernen und sich anpassen muss. Ebenso Mattis. Die "Klugen und Schnellen" dulden ihn, aber sie sind nicht bereit, seine fragile Welt zu betreten. Von niemandem erfährt er aufrichtige Wertschätzung oder gar Liebe. Auch nicht von seiner Schwester Hege. Sie ist die Pflichtbewusste, die Nüchterne, Strenge - was ihr aber auch den Zugang zu ihrer eigenen Weichheit, Sensibilität, ihren Wünschen und Träumen versperrt. Und auch zu ihrem Bruder Mattis.
Als Mattis eines Abends bemerkt, dass eine Schnepfe übers Haus fliegt, ist er tief ergriffen. Sofort stürzt er zur bereits schlafenden Hege in die Kammer. Aber sie wird vom Wunder nicht berührt, sie ist müde, will schlafen. Mattis ist erschüttert: "Ich sag doch, sie fliegt jetzt. Und das willst du nicht sehen? Ich versteh dich nicht, nichts findest du besonders!"
Hege sorgt für Mattis, gibt ihm zu essen und beschützt ihn. Sie wappnet sich aber auch gegen die Selbstbezogenheit des Bruders mit Strenge und Unduldsamkeit. Denn Mattis setzt, wie ein Vierjähriger, seine Bedürfnisse absolut. Trotz aller Minderwertigkeitskomplexe ist sein Ego monströs. Als Hege ihn bittet: "Denk auch ein bisschen an andere", antwortet er ratlos: "Was für andere?" Mattis spürt zwar, dass Hege noch etwas anderes will, als für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen. Aber was das sein könnte, weiß er nicht. Er spürt nur die Gefahr.
Dass dann ein fremder Mann ins Haus kommt und die Ordnung der Geschwister stört, ja mehr noch, dass dieser Jørgen, ein Holzfäller, und Hege ein Paar werden, ist für Mattis eine Katastrophe. Die Angst, dass Hege ihn allein lässt, wächst in ihm und wird so übermächtig, dass Mattis alles auf eine Karte setzt. Mit dem morschen Kahn rudert er hinaus auf den See und tritt an der tiefsten und dunkelsten Stelle den Boden des Bootes ein. Die Ruder sollen ihn, der nicht schwimmen kann, an Land bringen. Aber da kommt Wind auf; als Mattis seine schreckliche Verlorenheit erkennt, schreit er seinen Namen, als könne dieser Schrei ihn retten. Alles liegt in dem Ruf, seine ganze Existenz, seine ganze Einsamkeit - aber da ist kein Gott, keine Schnepfe, die ihn aus dem Wasser heraus hinauf in den Himmel zöge. Mattis ist ganz allein, die Natur um ihn her gleichgültig, er ertrinkt.
Tarjei Vesaas (1897-1970) schrieb auf Nynorsk, das auf westnorwegischen Dialekten beruhende zweite Schriftnorwegisch, das vor allem von den unteren sozialen Schichten, Arbeitern und Bauern, verwendet wird. Es ist eine mündliche Sprache, welche die großen Worte, Pathos und ausgestellte Künstlichkeit scheut. Schlicht und schön ist sie, pragmatisch, dennoch poetisch, herb, sensibel, flimmernd. Vesaas hat daraus eine moderne, präzise und zugleich lyrische Literatursprache geformt, die das Kunststück fertigbringt, zugleich innen und außen, symbolistisch und naturalistisch zu sein.
Und deshalb ist Mattis eben doch nicht ganz allein. Wir, die Leserinnen und Leser, sind bei ihm. Dank Vesaas' Kunst schauen wir Mattis in den Kopf und aus seinem Kopf heraus, denn neben Mattis ist da immer noch der Erzähler, der die Dinge anordnet und lenkt. Wie das ineinandergeht, oft mitten im Satz, ist höchst staunenswert, man erlebt jeden Satz wie aus zwei Perspektiven, der subjektiven, die Gefühle rasend schnell wechselnden, heftigen, heißen von Mattis und zugleich einer objektiven, kühlen, ruhig zuschauenden, genau beobachtenden. Karl Ove Knausgård nannte "Die Vögel" einmal den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Und da hat er wohl recht. BETTINA HARTZ
Tarjej Vesaas: "Die Vögel". Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz Verlag, 276 Seiten, 23 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist das der beste norwegische Roman aller Zeiten? Endlich wurde das Buch "Die Vögel" von Tarjei Vesaas übersetzt.
Warum ist es so, wie es ist?" Das fragt Mattis die Bauersfrau, auf deren Rübenfeld er beim Unkrautjäten helfen sollte, aber wie so oft, wie eigentlich immer, hat er beim Versuch, zu arbeiten, versagt. Mattis ist der "Dussel" des Dorfes, alle nennen ihn so, die Kinder offen ins Gesicht, die Erwachsenen hinter seinem Rücken. Zusammen mit seiner Schwester Hege lebt er abseits in einem kleinen Haus am See nahe dem Wald. Auch die Schwester weiß auf seine Frage, die er schon oft gestellt hat, nicht zu antworten, es ist eben, wie es ist. Nur für ihn, Mattis, der den Kopf voll hat mit nicht mitteilbaren Gedanken, der unmittelbar ergriffen wird von dem, was er sieht und hört, ist es oft unerträglich. Unerträglich demütigend, unerträglich einsam.
Wie ein Außerirdischer lebt Mattis unter den Menschen. Denn wer sich nicht in die herrschende Ordnung passt, muss sich permanent rechtfertigen, vor den anderen und vor sich selbst. Umso mehr, wenn er abhängig ist. Mattis soll arbeiten, sich nützlich machen, dabei ist er ein Kind, wenn auch in Gestalt eines 37-jährigen Mannes. Er lässt sich ablenken von jeder Kleinigkeit, sei sie draußen in der Welt oder in seinem Kopf. So kann er die Abkürzungen der Notwendigkeit und Routine nicht nehmen und erscheint in den Augen der anderen unbrauchbar.
Mattis ist die Hauptfigur in Tarjei Vesaas' Roman "Die Vögel" aus dem Jahr 1957. Der auf literarische Wiederentdeckungen aus Nord-, Mittel- und Osteuropa spezialisierte Guggolz Verlag hatte schon 2019 Vesaas' berührenden, in seiner feinen Genauigkeit für kindliche Empfindungen einzigartigen Roman "Das Eis-Schloss" in neuer Übersetzung herausgebracht und damit das Interesse an dem großen Norweger wieder geweckt. Nun liegt mit den "Vögeln" ein zweites Hauptwerk Vesaas' vor, abermals von Hinrich Schmidt-Henkel sehr gelungen und sprachlich nah am Original ins Deutsche übertragen - was Schmidt-Henkel die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 eingebracht hat, der am 28. Mai verliehen wird.
Immer wieder versucht Mattis, sich verständlich zu machen, aber er kann seine Gedanken nicht in die zwischen Menschen übliche Sprache übersetzen. Jedes Wort ist für Mattis eins mit seiner Bedeutung, das Wort "Blitz" gefährlich wie der Blitz selbst. Floskeln, gar ein Gespräch gelingen ihm, wenn überhaupt, nur mit größter Kraftanstrengung. Ihm begegnet dabei dieselbe Geringschätzung, die sich als vorübergehendes gesteigertes Interesse tarnt, sich als Befangenheit verrät, wie sie auch Kinder erfahren. Was das Kind sagt und tut, ist für die vernünftigen Erwachsenen, die "Klugen und Schnellen", wie Mattis sie nennt, nie das Eigentliche, es ist immer das Kind, das lernen und sich anpassen muss. Ebenso Mattis. Die "Klugen und Schnellen" dulden ihn, aber sie sind nicht bereit, seine fragile Welt zu betreten. Von niemandem erfährt er aufrichtige Wertschätzung oder gar Liebe. Auch nicht von seiner Schwester Hege. Sie ist die Pflichtbewusste, die Nüchterne, Strenge - was ihr aber auch den Zugang zu ihrer eigenen Weichheit, Sensibilität, ihren Wünschen und Träumen versperrt. Und auch zu ihrem Bruder Mattis.
Als Mattis eines Abends bemerkt, dass eine Schnepfe übers Haus fliegt, ist er tief ergriffen. Sofort stürzt er zur bereits schlafenden Hege in die Kammer. Aber sie wird vom Wunder nicht berührt, sie ist müde, will schlafen. Mattis ist erschüttert: "Ich sag doch, sie fliegt jetzt. Und das willst du nicht sehen? Ich versteh dich nicht, nichts findest du besonders!"
Hege sorgt für Mattis, gibt ihm zu essen und beschützt ihn. Sie wappnet sich aber auch gegen die Selbstbezogenheit des Bruders mit Strenge und Unduldsamkeit. Denn Mattis setzt, wie ein Vierjähriger, seine Bedürfnisse absolut. Trotz aller Minderwertigkeitskomplexe ist sein Ego monströs. Als Hege ihn bittet: "Denk auch ein bisschen an andere", antwortet er ratlos: "Was für andere?" Mattis spürt zwar, dass Hege noch etwas anderes will, als für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen. Aber was das sein könnte, weiß er nicht. Er spürt nur die Gefahr.
Dass dann ein fremder Mann ins Haus kommt und die Ordnung der Geschwister stört, ja mehr noch, dass dieser Jørgen, ein Holzfäller, und Hege ein Paar werden, ist für Mattis eine Katastrophe. Die Angst, dass Hege ihn allein lässt, wächst in ihm und wird so übermächtig, dass Mattis alles auf eine Karte setzt. Mit dem morschen Kahn rudert er hinaus auf den See und tritt an der tiefsten und dunkelsten Stelle den Boden des Bootes ein. Die Ruder sollen ihn, der nicht schwimmen kann, an Land bringen. Aber da kommt Wind auf; als Mattis seine schreckliche Verlorenheit erkennt, schreit er seinen Namen, als könne dieser Schrei ihn retten. Alles liegt in dem Ruf, seine ganze Existenz, seine ganze Einsamkeit - aber da ist kein Gott, keine Schnepfe, die ihn aus dem Wasser heraus hinauf in den Himmel zöge. Mattis ist ganz allein, die Natur um ihn her gleichgültig, er ertrinkt.
Tarjei Vesaas (1897-1970) schrieb auf Nynorsk, das auf westnorwegischen Dialekten beruhende zweite Schriftnorwegisch, das vor allem von den unteren sozialen Schichten, Arbeitern und Bauern, verwendet wird. Es ist eine mündliche Sprache, welche die großen Worte, Pathos und ausgestellte Künstlichkeit scheut. Schlicht und schön ist sie, pragmatisch, dennoch poetisch, herb, sensibel, flimmernd. Vesaas hat daraus eine moderne, präzise und zugleich lyrische Literatursprache geformt, die das Kunststück fertigbringt, zugleich innen und außen, symbolistisch und naturalistisch zu sein.
Und deshalb ist Mattis eben doch nicht ganz allein. Wir, die Leserinnen und Leser, sind bei ihm. Dank Vesaas' Kunst schauen wir Mattis in den Kopf und aus seinem Kopf heraus, denn neben Mattis ist da immer noch der Erzähler, der die Dinge anordnet und lenkt. Wie das ineinandergeht, oft mitten im Satz, ist höchst staunenswert, man erlebt jeden Satz wie aus zwei Perspektiven, der subjektiven, die Gefühle rasend schnell wechselnden, heftigen, heißen von Mattis und zugleich einer objektiven, kühlen, ruhig zuschauenden, genau beobachtenden. Karl Ove Knausgård nannte "Die Vögel" einmal den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Und da hat er wohl recht. BETTINA HARTZ
Tarjej Vesaas: "Die Vögel". Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz Verlag, 276 Seiten, 23 Euro.
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