Ungesagtes und Unsagbares zwischen den Zeilen
Der Außenseiter Mattis hat sich in seine innere Welt zurückgezogen. Mit seiner Schwester Hege lebt er in einer Hütte am See und fühlt sich mit der Natur ringsum verbunden. Besonders ziehen ihn die Waldschnepfen an, deren frühlingshaften Balzflug er als Zeichen sieht, als Verheißung, die er nicht entschlüsseln kann. Als eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, sich in Hege verliebt - und dann auch noch eine Schnepfe erschossen wird, wirft es Mattis aus der Bahn. Das Ungesagte, Unsagbare zwischen den Zeilen erzeugt eine hypnotische poetische Spannung und macht diesen Roman zu einem einzigartigen norwegischen Juwel.
Der Außenseiter Mattis hat sich in seine innere Welt zurückgezogen. Mit seiner Schwester Hege lebt er in einer Hütte am See und fühlt sich mit der Natur ringsum verbunden. Besonders ziehen ihn die Waldschnepfen an, deren frühlingshaften Balzflug er als Zeichen sieht, als Verheißung, die er nicht entschlüsseln kann. Als eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, sich in Hege verliebt - und dann auch noch eine Schnepfe erschossen wird, wirft es Mattis aus der Bahn. Das Ungesagte, Unsagbare zwischen den Zeilen erzeugt eine hypnotische poetische Spannung und macht diesen Roman zu einem einzigartigen norwegischen Juwel.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Peter Urban-Halle erkennt die romantische Note im Roman von Tarjei Vesaas. Wie sich der Autor seiner Hauptfigur nähert, einem Narren vor dem Herrn in einem norwegischen Dorf - über die Perspektive des geistig armen Außenseiters, dessen Welt von anderen Ordnungen bestimmt ist, scheint für den Rezensenten das Besondere dieser Sicht zu betonen. Die neue, "umgangssprachlichere" Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel trägt dem wirren Denken der Figur Rechnung, lobt Urban-Halle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2021Draußen in der Welt oder im Kopf
Ist das der beste norwegische Roman aller Zeiten? Endlich wurde das Buch "Die Vögel" von Tarjei Vesaas übersetzt.
Warum ist es so, wie es ist?" Das fragt Mattis die Bauersfrau, auf deren Rübenfeld er beim Unkrautjäten helfen sollte, aber wie so oft, wie eigentlich immer, hat er beim Versuch, zu arbeiten, versagt. Mattis ist der "Dussel" des Dorfes, alle nennen ihn so, die Kinder offen ins Gesicht, die Erwachsenen hinter seinem Rücken. Zusammen mit seiner Schwester Hege lebt er abseits in einem kleinen Haus am See nahe dem Wald. Auch die Schwester weiß auf seine Frage, die er schon oft gestellt hat, nicht zu antworten, es ist eben, wie es ist. Nur für ihn, Mattis, der den Kopf voll hat mit nicht mitteilbaren Gedanken, der unmittelbar ergriffen wird von dem, was er sieht und hört, ist es oft unerträglich. Unerträglich demütigend, unerträglich einsam.
Wie ein Außerirdischer lebt Mattis unter den Menschen. Denn wer sich nicht in die herrschende Ordnung passt, muss sich permanent rechtfertigen, vor den anderen und vor sich selbst. Umso mehr, wenn er abhängig ist. Mattis soll arbeiten, sich nützlich machen, dabei ist er ein Kind, wenn auch in Gestalt eines 37-jährigen Mannes. Er lässt sich ablenken von jeder Kleinigkeit, sei sie draußen in der Welt oder in seinem Kopf. So kann er die Abkürzungen der Notwendigkeit und Routine nicht nehmen und erscheint in den Augen der anderen unbrauchbar.
Mattis ist die Hauptfigur in Tarjei Vesaas' Roman "Die Vögel" aus dem Jahr 1957. Der auf literarische Wiederentdeckungen aus Nord-, Mittel- und Osteuropa spezialisierte Guggolz Verlag hatte schon 2019 Vesaas' berührenden, in seiner feinen Genauigkeit für kindliche Empfindungen einzigartigen Roman "Das Eis-Schloss" in neuer Übersetzung herausgebracht und damit das Interesse an dem großen Norweger wieder geweckt. Nun liegt mit den "Vögeln" ein zweites Hauptwerk Vesaas' vor, abermals von Hinrich Schmidt-Henkel sehr gelungen und sprachlich nah am Original ins Deutsche übertragen - was Schmidt-Henkel die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 eingebracht hat, der am 28. Mai verliehen wird.
Immer wieder versucht Mattis, sich verständlich zu machen, aber er kann seine Gedanken nicht in die zwischen Menschen übliche Sprache übersetzen. Jedes Wort ist für Mattis eins mit seiner Bedeutung, das Wort "Blitz" gefährlich wie der Blitz selbst. Floskeln, gar ein Gespräch gelingen ihm, wenn überhaupt, nur mit größter Kraftanstrengung. Ihm begegnet dabei dieselbe Geringschätzung, die sich als vorübergehendes gesteigertes Interesse tarnt, sich als Befangenheit verrät, wie sie auch Kinder erfahren. Was das Kind sagt und tut, ist für die vernünftigen Erwachsenen, die "Klugen und Schnellen", wie Mattis sie nennt, nie das Eigentliche, es ist immer das Kind, das lernen und sich anpassen muss. Ebenso Mattis. Die "Klugen und Schnellen" dulden ihn, aber sie sind nicht bereit, seine fragile Welt zu betreten. Von niemandem erfährt er aufrichtige Wertschätzung oder gar Liebe. Auch nicht von seiner Schwester Hege. Sie ist die Pflichtbewusste, die Nüchterne, Strenge - was ihr aber auch den Zugang zu ihrer eigenen Weichheit, Sensibilität, ihren Wünschen und Träumen versperrt. Und auch zu ihrem Bruder Mattis.
Als Mattis eines Abends bemerkt, dass eine Schnepfe übers Haus fliegt, ist er tief ergriffen. Sofort stürzt er zur bereits schlafenden Hege in die Kammer. Aber sie wird vom Wunder nicht berührt, sie ist müde, will schlafen. Mattis ist erschüttert: "Ich sag doch, sie fliegt jetzt. Und das willst du nicht sehen? Ich versteh dich nicht, nichts findest du besonders!"
Hege sorgt für Mattis, gibt ihm zu essen und beschützt ihn. Sie wappnet sich aber auch gegen die Selbstbezogenheit des Bruders mit Strenge und Unduldsamkeit. Denn Mattis setzt, wie ein Vierjähriger, seine Bedürfnisse absolut. Trotz aller Minderwertigkeitskomplexe ist sein Ego monströs. Als Hege ihn bittet: "Denk auch ein bisschen an andere", antwortet er ratlos: "Was für andere?" Mattis spürt zwar, dass Hege noch etwas anderes will, als für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen. Aber was das sein könnte, weiß er nicht. Er spürt nur die Gefahr.
Dass dann ein fremder Mann ins Haus kommt und die Ordnung der Geschwister stört, ja mehr noch, dass dieser Jørgen, ein Holzfäller, und Hege ein Paar werden, ist für Mattis eine Katastrophe. Die Angst, dass Hege ihn allein lässt, wächst in ihm und wird so übermächtig, dass Mattis alles auf eine Karte setzt. Mit dem morschen Kahn rudert er hinaus auf den See und tritt an der tiefsten und dunkelsten Stelle den Boden des Bootes ein. Die Ruder sollen ihn, der nicht schwimmen kann, an Land bringen. Aber da kommt Wind auf; als Mattis seine schreckliche Verlorenheit erkennt, schreit er seinen Namen, als könne dieser Schrei ihn retten. Alles liegt in dem Ruf, seine ganze Existenz, seine ganze Einsamkeit - aber da ist kein Gott, keine Schnepfe, die ihn aus dem Wasser heraus hinauf in den Himmel zöge. Mattis ist ganz allein, die Natur um ihn her gleichgültig, er ertrinkt.
Tarjei Vesaas (1897-1970) schrieb auf Nynorsk, das auf westnorwegischen Dialekten beruhende zweite Schriftnorwegisch, das vor allem von den unteren sozialen Schichten, Arbeitern und Bauern, verwendet wird. Es ist eine mündliche Sprache, welche die großen Worte, Pathos und ausgestellte Künstlichkeit scheut. Schlicht und schön ist sie, pragmatisch, dennoch poetisch, herb, sensibel, flimmernd. Vesaas hat daraus eine moderne, präzise und zugleich lyrische Literatursprache geformt, die das Kunststück fertigbringt, zugleich innen und außen, symbolistisch und naturalistisch zu sein.
Und deshalb ist Mattis eben doch nicht ganz allein. Wir, die Leserinnen und Leser, sind bei ihm. Dank Vesaas' Kunst schauen wir Mattis in den Kopf und aus seinem Kopf heraus, denn neben Mattis ist da immer noch der Erzähler, der die Dinge anordnet und lenkt. Wie das ineinandergeht, oft mitten im Satz, ist höchst staunenswert, man erlebt jeden Satz wie aus zwei Perspektiven, der subjektiven, die Gefühle rasend schnell wechselnden, heftigen, heißen von Mattis und zugleich einer objektiven, kühlen, ruhig zuschauenden, genau beobachtenden. Karl Ove Knausgård nannte "Die Vögel" einmal den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Und da hat er wohl recht. BETTINA HARTZ
Tarjej Vesaas: "Die Vögel". Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz Verlag, 276 Seiten, 23 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist das der beste norwegische Roman aller Zeiten? Endlich wurde das Buch "Die Vögel" von Tarjei Vesaas übersetzt.
Warum ist es so, wie es ist?" Das fragt Mattis die Bauersfrau, auf deren Rübenfeld er beim Unkrautjäten helfen sollte, aber wie so oft, wie eigentlich immer, hat er beim Versuch, zu arbeiten, versagt. Mattis ist der "Dussel" des Dorfes, alle nennen ihn so, die Kinder offen ins Gesicht, die Erwachsenen hinter seinem Rücken. Zusammen mit seiner Schwester Hege lebt er abseits in einem kleinen Haus am See nahe dem Wald. Auch die Schwester weiß auf seine Frage, die er schon oft gestellt hat, nicht zu antworten, es ist eben, wie es ist. Nur für ihn, Mattis, der den Kopf voll hat mit nicht mitteilbaren Gedanken, der unmittelbar ergriffen wird von dem, was er sieht und hört, ist es oft unerträglich. Unerträglich demütigend, unerträglich einsam.
Wie ein Außerirdischer lebt Mattis unter den Menschen. Denn wer sich nicht in die herrschende Ordnung passt, muss sich permanent rechtfertigen, vor den anderen und vor sich selbst. Umso mehr, wenn er abhängig ist. Mattis soll arbeiten, sich nützlich machen, dabei ist er ein Kind, wenn auch in Gestalt eines 37-jährigen Mannes. Er lässt sich ablenken von jeder Kleinigkeit, sei sie draußen in der Welt oder in seinem Kopf. So kann er die Abkürzungen der Notwendigkeit und Routine nicht nehmen und erscheint in den Augen der anderen unbrauchbar.
Mattis ist die Hauptfigur in Tarjei Vesaas' Roman "Die Vögel" aus dem Jahr 1957. Der auf literarische Wiederentdeckungen aus Nord-, Mittel- und Osteuropa spezialisierte Guggolz Verlag hatte schon 2019 Vesaas' berührenden, in seiner feinen Genauigkeit für kindliche Empfindungen einzigartigen Roman "Das Eis-Schloss" in neuer Übersetzung herausgebracht und damit das Interesse an dem großen Norweger wieder geweckt. Nun liegt mit den "Vögeln" ein zweites Hauptwerk Vesaas' vor, abermals von Hinrich Schmidt-Henkel sehr gelungen und sprachlich nah am Original ins Deutsche übertragen - was Schmidt-Henkel die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 eingebracht hat, der am 28. Mai verliehen wird.
Immer wieder versucht Mattis, sich verständlich zu machen, aber er kann seine Gedanken nicht in die zwischen Menschen übliche Sprache übersetzen. Jedes Wort ist für Mattis eins mit seiner Bedeutung, das Wort "Blitz" gefährlich wie der Blitz selbst. Floskeln, gar ein Gespräch gelingen ihm, wenn überhaupt, nur mit größter Kraftanstrengung. Ihm begegnet dabei dieselbe Geringschätzung, die sich als vorübergehendes gesteigertes Interesse tarnt, sich als Befangenheit verrät, wie sie auch Kinder erfahren. Was das Kind sagt und tut, ist für die vernünftigen Erwachsenen, die "Klugen und Schnellen", wie Mattis sie nennt, nie das Eigentliche, es ist immer das Kind, das lernen und sich anpassen muss. Ebenso Mattis. Die "Klugen und Schnellen" dulden ihn, aber sie sind nicht bereit, seine fragile Welt zu betreten. Von niemandem erfährt er aufrichtige Wertschätzung oder gar Liebe. Auch nicht von seiner Schwester Hege. Sie ist die Pflichtbewusste, die Nüchterne, Strenge - was ihr aber auch den Zugang zu ihrer eigenen Weichheit, Sensibilität, ihren Wünschen und Träumen versperrt. Und auch zu ihrem Bruder Mattis.
Als Mattis eines Abends bemerkt, dass eine Schnepfe übers Haus fliegt, ist er tief ergriffen. Sofort stürzt er zur bereits schlafenden Hege in die Kammer. Aber sie wird vom Wunder nicht berührt, sie ist müde, will schlafen. Mattis ist erschüttert: "Ich sag doch, sie fliegt jetzt. Und das willst du nicht sehen? Ich versteh dich nicht, nichts findest du besonders!"
Hege sorgt für Mattis, gibt ihm zu essen und beschützt ihn. Sie wappnet sich aber auch gegen die Selbstbezogenheit des Bruders mit Strenge und Unduldsamkeit. Denn Mattis setzt, wie ein Vierjähriger, seine Bedürfnisse absolut. Trotz aller Minderwertigkeitskomplexe ist sein Ego monströs. Als Hege ihn bittet: "Denk auch ein bisschen an andere", antwortet er ratlos: "Was für andere?" Mattis spürt zwar, dass Hege noch etwas anderes will, als für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen. Aber was das sein könnte, weiß er nicht. Er spürt nur die Gefahr.
Dass dann ein fremder Mann ins Haus kommt und die Ordnung der Geschwister stört, ja mehr noch, dass dieser Jørgen, ein Holzfäller, und Hege ein Paar werden, ist für Mattis eine Katastrophe. Die Angst, dass Hege ihn allein lässt, wächst in ihm und wird so übermächtig, dass Mattis alles auf eine Karte setzt. Mit dem morschen Kahn rudert er hinaus auf den See und tritt an der tiefsten und dunkelsten Stelle den Boden des Bootes ein. Die Ruder sollen ihn, der nicht schwimmen kann, an Land bringen. Aber da kommt Wind auf; als Mattis seine schreckliche Verlorenheit erkennt, schreit er seinen Namen, als könne dieser Schrei ihn retten. Alles liegt in dem Ruf, seine ganze Existenz, seine ganze Einsamkeit - aber da ist kein Gott, keine Schnepfe, die ihn aus dem Wasser heraus hinauf in den Himmel zöge. Mattis ist ganz allein, die Natur um ihn her gleichgültig, er ertrinkt.
Tarjei Vesaas (1897-1970) schrieb auf Nynorsk, das auf westnorwegischen Dialekten beruhende zweite Schriftnorwegisch, das vor allem von den unteren sozialen Schichten, Arbeitern und Bauern, verwendet wird. Es ist eine mündliche Sprache, welche die großen Worte, Pathos und ausgestellte Künstlichkeit scheut. Schlicht und schön ist sie, pragmatisch, dennoch poetisch, herb, sensibel, flimmernd. Vesaas hat daraus eine moderne, präzise und zugleich lyrische Literatursprache geformt, die das Kunststück fertigbringt, zugleich innen und außen, symbolistisch und naturalistisch zu sein.
Und deshalb ist Mattis eben doch nicht ganz allein. Wir, die Leserinnen und Leser, sind bei ihm. Dank Vesaas' Kunst schauen wir Mattis in den Kopf und aus seinem Kopf heraus, denn neben Mattis ist da immer noch der Erzähler, der die Dinge anordnet und lenkt. Wie das ineinandergeht, oft mitten im Satz, ist höchst staunenswert, man erlebt jeden Satz wie aus zwei Perspektiven, der subjektiven, die Gefühle rasend schnell wechselnden, heftigen, heißen von Mattis und zugleich einer objektiven, kühlen, ruhig zuschauenden, genau beobachtenden. Karl Ove Knausgård nannte "Die Vögel" einmal den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Und da hat er wohl recht. BETTINA HARTZ
Tarjej Vesaas: "Die Vögel". Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz Verlag, 276 Seiten, 23 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main