Ziel dieses Bandes ist es, die grundlegenden Erfordernisse eines modernen Minderheitenschutze aufzuzeigen und vor allem die quantitative Dimension der Ethnizität in Europa aufzuzeigen: Wieviele Völker oder Sprachen gibt es in Europa und wieviele Volksgruppen? Wie groß sind diese und wo leben sie? Die Beantwortung genau dieser Fragen ist das zentrale Anliegen des als Nachschlagewerk konzipierten Handbuches.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2001Von Tabasaranern und Lakken
Wer zählt die Völker, nennt die Namen? Ein Südtiroler Handbuch tut es
Christoph Pan, Beate Sibylle Pfeil: Die Volksgruppen in Europa. Ein Handbuch. Ethnos Band 56. Universitäts-Verlagsbuchhandlung Wilhelm Braumüller, Wien 2000. 318 Seiten, 66,- Mark.
Schon mal etwas von den Tabasaranern gehört? Oder von den Lakken? Nein? Alles Europäer. Wer zählt die Völker, nennt die Namen? Das Südtiroler Volksgruppen-Institut hat es getan und ist auf 87 Völker gekommen, die in 36 europäischen Staaten (mit mehr als einer Million Einwohnern) leben.
"Es gibt doppelt so viele Völker wie Staaten oder halb so viele Staaten wie Völker" in Europa. Das Südtiroler Institut, das nach eigenen Angaben "seit dreißig Jahren als Selbsthilfeeinrichtung der deutschsprachigen und ladinischen Volksgruppe deren Problematik wissenschaftlich untersucht und praktische Lösungsvorschläge vorgelegt hat", fühlte sich besonders geeignet, "auf die grundlegenden Erfordernisse eines modernen Minderheitenschutzes einzugehen, vor allem aber den empirischen Hintergrund der Nationalitätenproblematik darzustellen".
Tatsächlich haben die Kriege auf dem Balkan und in der Kaukasus-Region, die Konflikte im Baskenland und in Nordirland den Europäern vor Augen geführt, welche Sprengkraft ethnische Spannungen haben können. Aber noch "wenig ist die quantitative Dimension der Ethnizität in Europa bekannt".
Dem wollen die Autoren abhelfen. Das gelingt ihnen insbesondere in dem Teil ihres Werkes, der mit übersichtlichen Karten, zahlreichen Tabellen und Graphiken die Vielfalt der in Europa lebenden Völker und ihrer Sprachen darstellt. Wer in dem Handbuch blättert, wird bald begreifen, warum es nicht gelingen kann, die Staats- und Siedlungsgrenzen überall in Übereinstimmung zu bringen. Durch die Neugründung von Staaten, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg und dann wieder zu Beginn der neunziger Jahre stattgefunden hat, ist die Zahl der Minderheiten nicht etwa kleiner, sondern größer geworden. Mittlerweile gibt es in Europa zwischen dem Atlantik und dem Ural "bereits 300 größere und kleinere Minderheiten mit zusammen mindestens 103 Millionen Angehörigen", wie das Institut herausgefunden hat. Außer Island und San Marino ist nach Angaben der Forschungsgruppe kein einziges Land in Europa ein ethnisch einheitlicher Staat, obwohl die 36 Staaten Europas nach wie vor als "Nationalstaaten" konzipiert sind. In Wirklichkeit sind sie "multinationale", zumindest "multiethnische" Staaten mit Volksgruppen oder Minderheiten, deren Bevölkerungsanteil von einigen wenigen Prozenten bis zu 45 Prozent (Lettland) reicht. Daß die Hälfte der europäischen Staaten bislang von Spannungen verschont geblieben ist, die von Minderheitenfragen ausgehen könnten, bedeutet nach Ansicht der Autoren nicht, "daß alle dagegen gefeit sind".
Im Zeitalter von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit haben, wie die Verfasser bemerken, "viele europäische Staaten mittel- und langfristig gesehen keine Chance, sich dem Erfordernis des Volksgruppenschutzes und der damit verbundenen Machtumverteilung zu entziehen". Auf der anderen Seite macht das Südtiroler Institut auch den Minderheiten wenig Hoffnung, ihre Schutzrechte "gegen den Willen der ihnen zahlenmäßig überlegenen nationalen Mehrheiten durchzusetzen". Die Autoren empfehlen daher, "anstelle der nationalen Konfrontation die nationale Partnerschaft zu suchen". Das klingt vernünftig, doch wird solcher Rat von vielen, an die er sich richtet, als naiv empfunden werden. Die Südtiroler, denen ein Interessenausgleich mit dem italienischen Nationalstaat, in welchem sie leben, gelungen ist, haben gut reden. Ein andermal wird sich ein solches "Wunder" nicht so bald wiederholen.
Im Handbuch sind einige wichtige Dokumente zum Thema im Wortlaut abgedruckt, zum Beispiel die Sprachencharta und das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates, zwei Entwürfe eines Minderheiten-Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtserklärung und ein Entwurf für eine europäische Autonomie-Sonderkonvention. Eine umfangreiche Bibliographie schließt sich an. Das Südtiroler Volksgruppen-Institut hat mit seiner Arbeit eine Lücke gefüllt, denn eine vollständige Erfassung der in Europa lebenden Volksgruppen gab es bisher nicht.
KLAUS NATORP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer zählt die Völker, nennt die Namen? Ein Südtiroler Handbuch tut es
Christoph Pan, Beate Sibylle Pfeil: Die Volksgruppen in Europa. Ein Handbuch. Ethnos Band 56. Universitäts-Verlagsbuchhandlung Wilhelm Braumüller, Wien 2000. 318 Seiten, 66,- Mark.
Schon mal etwas von den Tabasaranern gehört? Oder von den Lakken? Nein? Alles Europäer. Wer zählt die Völker, nennt die Namen? Das Südtiroler Volksgruppen-Institut hat es getan und ist auf 87 Völker gekommen, die in 36 europäischen Staaten (mit mehr als einer Million Einwohnern) leben.
"Es gibt doppelt so viele Völker wie Staaten oder halb so viele Staaten wie Völker" in Europa. Das Südtiroler Institut, das nach eigenen Angaben "seit dreißig Jahren als Selbsthilfeeinrichtung der deutschsprachigen und ladinischen Volksgruppe deren Problematik wissenschaftlich untersucht und praktische Lösungsvorschläge vorgelegt hat", fühlte sich besonders geeignet, "auf die grundlegenden Erfordernisse eines modernen Minderheitenschutzes einzugehen, vor allem aber den empirischen Hintergrund der Nationalitätenproblematik darzustellen".
Tatsächlich haben die Kriege auf dem Balkan und in der Kaukasus-Region, die Konflikte im Baskenland und in Nordirland den Europäern vor Augen geführt, welche Sprengkraft ethnische Spannungen haben können. Aber noch "wenig ist die quantitative Dimension der Ethnizität in Europa bekannt".
Dem wollen die Autoren abhelfen. Das gelingt ihnen insbesondere in dem Teil ihres Werkes, der mit übersichtlichen Karten, zahlreichen Tabellen und Graphiken die Vielfalt der in Europa lebenden Völker und ihrer Sprachen darstellt. Wer in dem Handbuch blättert, wird bald begreifen, warum es nicht gelingen kann, die Staats- und Siedlungsgrenzen überall in Übereinstimmung zu bringen. Durch die Neugründung von Staaten, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg und dann wieder zu Beginn der neunziger Jahre stattgefunden hat, ist die Zahl der Minderheiten nicht etwa kleiner, sondern größer geworden. Mittlerweile gibt es in Europa zwischen dem Atlantik und dem Ural "bereits 300 größere und kleinere Minderheiten mit zusammen mindestens 103 Millionen Angehörigen", wie das Institut herausgefunden hat. Außer Island und San Marino ist nach Angaben der Forschungsgruppe kein einziges Land in Europa ein ethnisch einheitlicher Staat, obwohl die 36 Staaten Europas nach wie vor als "Nationalstaaten" konzipiert sind. In Wirklichkeit sind sie "multinationale", zumindest "multiethnische" Staaten mit Volksgruppen oder Minderheiten, deren Bevölkerungsanteil von einigen wenigen Prozenten bis zu 45 Prozent (Lettland) reicht. Daß die Hälfte der europäischen Staaten bislang von Spannungen verschont geblieben ist, die von Minderheitenfragen ausgehen könnten, bedeutet nach Ansicht der Autoren nicht, "daß alle dagegen gefeit sind".
Im Zeitalter von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit haben, wie die Verfasser bemerken, "viele europäische Staaten mittel- und langfristig gesehen keine Chance, sich dem Erfordernis des Volksgruppenschutzes und der damit verbundenen Machtumverteilung zu entziehen". Auf der anderen Seite macht das Südtiroler Institut auch den Minderheiten wenig Hoffnung, ihre Schutzrechte "gegen den Willen der ihnen zahlenmäßig überlegenen nationalen Mehrheiten durchzusetzen". Die Autoren empfehlen daher, "anstelle der nationalen Konfrontation die nationale Partnerschaft zu suchen". Das klingt vernünftig, doch wird solcher Rat von vielen, an die er sich richtet, als naiv empfunden werden. Die Südtiroler, denen ein Interessenausgleich mit dem italienischen Nationalstaat, in welchem sie leben, gelungen ist, haben gut reden. Ein andermal wird sich ein solches "Wunder" nicht so bald wiederholen.
Im Handbuch sind einige wichtige Dokumente zum Thema im Wortlaut abgedruckt, zum Beispiel die Sprachencharta und das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates, zwei Entwürfe eines Minderheiten-Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtserklärung und ein Entwurf für eine europäische Autonomie-Sonderkonvention. Eine umfangreiche Bibliographie schließt sich an. Das Südtiroler Volksgruppen-Institut hat mit seiner Arbeit eine Lücke gefüllt, denn eine vollständige Erfassung der in Europa lebenden Volksgruppen gab es bisher nicht.
KLAUS NATORP
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