Die Vollzähligkeit der Sterne ist eine Sammlung astronoetischer Glossen. "Astronoetik" ist Blumenbergs ironische Antwort auf die Frage, die immer wieder gestellt wurde, als Ende der fünfziger Jahre der erste falsche Komet, der piepende Kunstmond "Sputnik", die Erde umkreiste und in der westlichen Welt den "Sputnik-Schock" auslöste: Und was haben wir Vergleichbares?
"Die Texte dieses Buches sind in fast drei Jahrzehnten entstanden, als leise Ausbildung einer Umkreisung des Begriffs von Theorie aus der instrumentellen Ohnmacht und dem Schwund des Spektakulären heraus: Wie befand man sich in dieser Welt von Welten und zu ihr? Was blieb den Daheimgebliebenen der Astronautik? Sicher nicht nur, Glossen zu machen, aber das doch auch als heitere Kompensation dafür, daß dieses Daheim nicht gemütlicher werden wollte." Hans Blumenberg
"Die Texte dieses Buches sind in fast drei Jahrzehnten entstanden, als leise Ausbildung einer Umkreisung des Begriffs von Theorie aus der instrumentellen Ohnmacht und dem Schwund des Spektakulären heraus: Wie befand man sich in dieser Welt von Welten und zu ihr? Was blieb den Daheimgebliebenen der Astronautik? Sicher nicht nur, Glossen zu machen, aber das doch auch als heitere Kompensation dafür, daß dieses Daheim nicht gemütlicher werden wollte." Hans Blumenberg
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Hans Blumenbergs wunderbare Reise mit den Sternen
Der Sonne kam er nie zu nahe: Der Freund des Mondes suchte am Ende festen Boden auf der Erde zu gewinnen / Von Lorenz Jäger
Eine Wissenschaftlerin, die, auf einer Wiese vor monumentalen Parabolantennen sitzend, mit Kopfhörern konzentriert in die Tiefen des Weltraums horcht - das ist ein Bild aus dem neuen Film mit Jodie Foster: "Contact". Die Sterne sind das, was ganz weit weg ist, aber plötzlich kommen von dort Impulse, die sich auf dem Schirm als rätselhafte Zeichen und Symbole, schließlich als Bauanweisung für ein Raumschiff erweisen, mit dem Jodie Foster am Schluß in Richtung Wega entschwindet. Wer wissen will, was es mit diesen Bildern auf sich hat, kann nichts Besseres tun, als sich bei Hans Blumenberg zu informieren: "Wir blicken", heißt es in seinem neuen, aus dem Nachlaß edierten Werk, "botschaftsgläubig ins Weltall, unseren letzten und äußersten ,Erwartungshorizont' für unverhoffte Mitteilungen von gelingenden Glücken."
Blumenberg ordnet die imaginierten Außerirdischen in die Nachwirkung der Aufklärung und ihrer Idee der Pluralität der Welten ein. Erst mit der Annahme von Aliens ist die Vernunft wirklich universell. Schon 1713 konnte man daher lesen, "daß es wohl möglich seye, daß einige von unsern Nachkommen ein Mittel ausfinden dörfften, wie man in diese andere Welt gelangen, und so anders sich allda Inwohner befinden, eine Bekandtschaft mit denselben haben mögte". Eine Fülle von Kuriosa der Vernunftgeschichte taucht vor dem Leser auf, denen Blumenbergs unermüdliche Kombinationen zum Sinn verhelfen. "Astronoetik" hat er das Erkenntnisziel dieser Studien genannt. Diese bestehe "nicht aus science fiction, wohl aber aus Gedankenexperimenten, die sich der phänomenologischen Verfahrensweise freie Variation zuordnen lassen müssen". Dem leicht ironischen Neologismus "Astronoetik" wird eine ebenso ironische Ursprungsgeschichte beigegeben: Am Anfang stand der Sputnik-Schock von 1957. Blumenbergs Resultat liegt allerdings nicht auf der Linie der üblichen kulturkritischen Einwände, die da behaupten, mit der Raumfahrt sei nichts gewonnen.
Zwar hält der Philosoph Sternenreisen wegen ihrer Disproportion zur Lebenszeit für eine (im Buch vielfach sarkastisch kommentierte) Illusion; die Erde dagegen erscheine im Rückblick vom Mond, als leuchtende Scheibe im schwarzen Raum, in einer vorher ungeahnten Anmut und Würde. Rückkehr ist das Leitmotiv der Astronoetik: "Es ist zu erwarten, daß die idealiter durchvollzogene Astronautik aus lauter Umkehrimplikationen bestände." So hat sich auch Jodie Foster in einem Interview mit dem klassischen Blumenberg-Argument der begrenzten Lebenszeit von ihrer Rolle distanziert: "Abschied für immer? Von allen Leuten, die ich liebe? Das wäre mir ein zu hoher Preis für die Begegnung mit tentakelnden Schwellköpfen."
Der Himmel mittlerer Entfernung, der unseres Planetensystems, taucht in diesen Studien nur fragmentarisch auf. Kurz angeschnitten wird Lichtenbergs Vorausahnung eines Planeten jenseits des Saturns, den er "Minerva" benannt wissen wollte: "Nach den rabiaten Göttern Mars und Saturn, Jupiter dazwischen, war eine der Venus adäquate, freundliche Gestalt fällig", eine aufklärerische "Eulengöttin der Kopfgeburten", wie Blumenberg kommentiert. Als der Planet dann allerdings entdeckt wurde, ging es genealogisch korrekt mit dem Namen Uranus weiter - ein Sieg der "Arbeit am Mythos" gegen die politisierte Namensgebung des Astronomen Herschel, der mit dem Namen "Georgsstern" seinem König hatte huldigen wollen. Zu Lichtenbergs Saturn-Spekulationen muß man allerdings "Die Lesbarkeit der Welt" nachschlagen, zur Venus, der schönsten Erscheinung des Nachthimmels, fehlt jede ausführliche Stellungnahme.
Man kann die Gründe vermuten: Das Gewicht des astrologischen Mythos ist in dieser Sphäre zu stark, als daß sie dem Philosophen Raum für Gedankenspiele gelassen hätte. Der Leser stößt hier förmlich auf die Perspektiven, die sich Blumenberg versagt hat. Als er die Enttäuschungen diskutiert, die die Erforschung des Marsbodens durch unbemannte Sonden der Menschheit bereitet hat, fügt er eine im gleichen Tenor gehaltene Tagebuchnotiz Ernst Jüngers an: "Die Landung auf unbelebten Himmelskörpern hat manche Erwartungen enttäuscht." Aber Jünger fährt, wie Blumenberg ratlos weiterzitiert, in einer mythischen Sprache fort: "Sollte aber dort nicht mehr verborgen sein, als wir erhofften - Einsichten, vielleicht sogar eine Befriedigung über die faustische Unruhe hinaus? Die Planeten als Götter. Keine Wiederholung, sondern ein Wiederfinden; auch das eine Perspektive aus der Synthesis und über sie hinaus." Plötzlich spielt der Philosoph nicht mehr mit und ruft zur Ordnung: "Da wir ohnehin nicht wissen, was ein Gott ist, wissen wir auch nicht, worin sich Götter unterscheiden." Die Stelle ist nicht völlig klar. Jünger jedenfalls weiß nur allzu genau, welchen Gott er auf ebenjenem durch die Sonde auf seine Bodenbeschaffenheit untersuchten Mars wiederfinden möchte - den Kriegsgott nämlich, der ihm beim Einmarsch in Frankreich im Sommer 1940 gewogen war, wie es das Tagebuch "Gärten und Straßen" formulierte. Als ein Untergebener sich damals verwundert zeigte, daß bei den Kampfhandlungen die Musikinstrumente zuallererst zertrümmert würden, kommentiert Jünger: "Das ist ein Symbol für den unmusischen Charakter des Mars und, wenn ich mich recht entsinne, schon auf einem großen Bilde von Rubens vermerkt, das dem Thema ,Mars und die Musen' gewidmet ist." Blumenbergs Unwille gegenüber Jüngers mythologischen Überlegungen kann damit zusammenhängen, daß er sich auf den Mythos eines "rabiaten Gottes" nicht einlassen mochte.
Mehr noch als in seinen früheren, großen Büchern liest Blumenberg hier die "Vermischten Meldungen" der Wissenschaftsgeschichte. Anekdoten sind ihm, was für die Psychoanalyse Träume und Fehlleistungen waren: die Via regia zum Unbewußten der Vernunft. Wo in Forscherautobiographien falsche Pointen auftauchen, wo sich unerwartet Langeweile meldet, da wird der Philosoph hellhörig. Eine offensichtliche Falschmeldung aus dem Stalingrad-Jahr 1943, zwischen dem Merkur und der Sonne sei ein neuer Planet entdeckt worden, der demnächst in die Sonne zu stürzen drohe, wird unerwartet zum großen, furchtbaren Dokument. Nachdem Blumenberg die Deutung Heinrich Manns zurückgewiesen hat, hier sei dem Volk propagandistisch die reale Katastrophe durch eine imaginäre kosmische relativiert worden, kommt er zur Sache selbst. Der Planet Merkur zeigt Eigentümlichkeiten seiner Bahn, die nur die Relativitätstheorie erklären konnte. War aber ein neuer Planet in Merkurnähe entdeckt, dann war die Bahn traditionell erklärt und Einstein zugunsten der "Deutschen Physik" widerlegt. Die Falschmeldung vom neuen Planeten, so Blumenbergs lakonischer Befund, gehört in die Zeit der "Endlösung".
Die Sterne sind auch das, was lebensweltlich nah ist. Merkwürdig an dem Buch mutet an, daß Blumenberg, dessen Untersuchungen zur "Kopernikanischen Wende", 1965 erschienen, die Wissenschaftsgeschichte des heliozentrischen Weltbildes schrieben, über die Sonne wenig Gutes zu sagen weiß. Diese sei vielmehr, so liest man, "eine Wohltäterin, der wie allen Wohltätern nur wenig zur Tyrannei fehlt. Sie anzubeten, ist eine der ältesten Religionen und einer der modernsten Kulte. Sie läßt sich nicht ansehen und stürzte doch die Menschen in Angst und Schrecken, wenn sie sich verfinsterte. Das Verhältnis der Menschen zur Sonne ist triebhaft; sie sind bereit, alle Hüllen fallen zu lassen, damit der Strahl sie bis in die letzten Winkel erreicht. Es gibt nichts Vergleichbares zu dieser Abhängigkeit, zu diesem Genuß unter der Fuchtel eines Despotismus, dem zumindest keiner zu widersprechen wagt." Der Schlußsatz zeigt, daß hier die Philosophie selbst auf dem Spiel steht.
Eine Instanz, der man nicht zu widersprechen wagt: Ist das nicht die Metapher der metaphernfrei gedachten "nuda veritas", jener "nackten Wahrheit", der eine frühe Abhandlung Blumenbergs nachgegangen war? Sind nicht die Anhänger des Sonnenkultes, die ihre Hüllen fallen lassen, Nachkommen jener, die sich die Wahrheit als "schamverletzende Enthüllung" - so Blumenberg 1960 - dachten? Der Philosoph, der in einer seiner ersten Studien das "Licht als Metapher der Wahrheit" untersuchte, hat im Bild der Sonne den Despotismus der Vernunft beschrieben, der in der adamitischen Nacktheit seine eigenen Barbaren hervorbringt. Von einem "neueren Wahn der nackten, brutalen Wahrheit" hatte Blumenberg einige Seiten zuvor gesprochen. Die Rede war von Ernst Wilhelm von Brücke, einem Arzt mit einer anderen Auffassung dessen, was einem todkranken Patienten gegenüber Wahrheit bedeuten kann. Von Brücke war der Lehrer Freuds, und es trifft sich, daß von ihm eine Mond-Anekdote überliefert ist.
Die Alternative des Metaphorologen, das Leitgestirn des Begriffsgeschichtlers ist der Mond: "der zwar milde, doch entschiedene Widerspruch gegen die Sonne, die ihre Peitsche über der Tageswelt und ihrer Geschäftigkeit schwingt". In ihm erkennt Blumenberg die poetische Erscheinung schlechthin, und sein Buch ist nicht zuletzt ein verlängerter gedanklicher Hymnus auf den Mond. Der Abwendung vom "Kult der Sonne", der nur orthodoxe Anhänger dulde, entspricht die propädeutische Einführung in die "Häresien des Mondes". Zu den gewichtigsten Argumenten des Buches gehört der Nachweis, daß die poetische Qualität des Mondes unter der Aufklärung über seine materielle Beschaffenheit nicht nur nicht gelitten hat, vielmehr von ihr freigesetzt wurde. Die Antike, so Blumenberg, kannte keine Poesie des Mondes, erst das 18. Jahrhundert hat sie gewonnen. "Würde der Mond aus dem Repertoire unserer Stimmungen und Wünsche, aus seiner Zeugenschaft unserer Liebesnächte verschwinden, wenn unbezweifelbar geworden wäre, daß er den Vermutungen entsprach und aus Steinen bestand?"
Der Mond, so heißt es hier mit Schopenhauer, sei "der Freund unseres Busens", und Blumenberg fügt in einer der vielen kaustischen Nebenbemerkungen des Buches an: "So brauchen wir weder Mondcremes noch Mondbrillen." Der Mond strahlt eine Lichtart aus - milde, wechselhaft in den Erscheinungen, ästhetisierbar -, die dem metaphorologischen Unternehmen gemäß ist. Dieses Licht meint nicht den Despotismus der einen und endgültigen Vernunft, sondern die Welt der "Konjekturen und Projektionen, der ,Phantasie'". In der Ästhetisierung des Erdenmondes melde sich, so der abschließende Befund, der "Einspruch gegen den theoretischen Grundzug" der Aufklärung.
Das Buch regt dazu an, Blumenbergs Werke neu zu lesen: nicht mehr linear, der Geschichte einer Metapher folgend, sondern synchron, indem man sie wie Folien übereinanderlegt. Man kann das Gedankenexperiment mit den Konstellationen von Sonne und Mond machen: dann findet man als wissenschaftsgeschichtliche Formulierung des Themas nicht nur die Studien zu Kopernikus, sondern auch die zu Galilei, für den die Mondbeobachtung durchs Fernrohr entscheidend war. In der philosophischen Urszene tritt Thales auf, der eine Sonnenfinsternis korrekt vorhersagte, aber, die irdische Umwelt nicht beachtend, in einen Brunnen fiel. Als kosmologischen Rest im Kirchenjahr kann man sich Ostern denken, das auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang fällt. Hier ließe sich "Matthäuspassion" eintragen.
Man kann aber auch, weniger spekulativ, die großen Werke "Höhlenausgänge" und "Die Vollzähligkeit der Sterne" als Sequenz lesen: Wer aus der Höhle heraustritt, erblickt den Sternenhimmel. Hier trifft man auf das Motiv der Fußspur, in dem sich die Frühgeschichte des aufrecht gehenden Wesens mit der technisch spätesten - Blumenberg denkt an die Fußspuren, die die "Apollo"-Astronauten auf dem Mond zurückließen - trifft. Blumenberg hat die Geschichte des Denkens als irdische Sequenz entfaltet; er hat, mit allen metaphorischen Implikationen, die Menschen wieder auf der Erde angesiedelt. Auch die Astronoetik schließt deshalb mit Betrachtungen der Erde: mit Wegeners Kontinentaldrift-Hypothese, mit dem Rückblick zur Erde aus dem Weltraum, mit einer Apologie des lebensweltlichen Grundes gegen die Rede vom "Raumschiff Erde", die dem utopischen Optimismus der Hippies zugehörte: "Alle Weltabenteuer des Menschen setzen voraus, daß er sich immer wieder und irgendwann wieder auf ein Stück festen Bodens stellen kann." Die Rehabilitierung des festen Bodens - das war die durchdachteste Antwort, die sich auf die Lehren vom Nicht-Ort, von der Utopie geben ließ.
Hans Blumenberg: "Die Vollzähligkeit der Sterne". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 557 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Sonne kam er nie zu nahe: Der Freund des Mondes suchte am Ende festen Boden auf der Erde zu gewinnen / Von Lorenz Jäger
Eine Wissenschaftlerin, die, auf einer Wiese vor monumentalen Parabolantennen sitzend, mit Kopfhörern konzentriert in die Tiefen des Weltraums horcht - das ist ein Bild aus dem neuen Film mit Jodie Foster: "Contact". Die Sterne sind das, was ganz weit weg ist, aber plötzlich kommen von dort Impulse, die sich auf dem Schirm als rätselhafte Zeichen und Symbole, schließlich als Bauanweisung für ein Raumschiff erweisen, mit dem Jodie Foster am Schluß in Richtung Wega entschwindet. Wer wissen will, was es mit diesen Bildern auf sich hat, kann nichts Besseres tun, als sich bei Hans Blumenberg zu informieren: "Wir blicken", heißt es in seinem neuen, aus dem Nachlaß edierten Werk, "botschaftsgläubig ins Weltall, unseren letzten und äußersten ,Erwartungshorizont' für unverhoffte Mitteilungen von gelingenden Glücken."
Blumenberg ordnet die imaginierten Außerirdischen in die Nachwirkung der Aufklärung und ihrer Idee der Pluralität der Welten ein. Erst mit der Annahme von Aliens ist die Vernunft wirklich universell. Schon 1713 konnte man daher lesen, "daß es wohl möglich seye, daß einige von unsern Nachkommen ein Mittel ausfinden dörfften, wie man in diese andere Welt gelangen, und so anders sich allda Inwohner befinden, eine Bekandtschaft mit denselben haben mögte". Eine Fülle von Kuriosa der Vernunftgeschichte taucht vor dem Leser auf, denen Blumenbergs unermüdliche Kombinationen zum Sinn verhelfen. "Astronoetik" hat er das Erkenntnisziel dieser Studien genannt. Diese bestehe "nicht aus science fiction, wohl aber aus Gedankenexperimenten, die sich der phänomenologischen Verfahrensweise freie Variation zuordnen lassen müssen". Dem leicht ironischen Neologismus "Astronoetik" wird eine ebenso ironische Ursprungsgeschichte beigegeben: Am Anfang stand der Sputnik-Schock von 1957. Blumenbergs Resultat liegt allerdings nicht auf der Linie der üblichen kulturkritischen Einwände, die da behaupten, mit der Raumfahrt sei nichts gewonnen.
Zwar hält der Philosoph Sternenreisen wegen ihrer Disproportion zur Lebenszeit für eine (im Buch vielfach sarkastisch kommentierte) Illusion; die Erde dagegen erscheine im Rückblick vom Mond, als leuchtende Scheibe im schwarzen Raum, in einer vorher ungeahnten Anmut und Würde. Rückkehr ist das Leitmotiv der Astronoetik: "Es ist zu erwarten, daß die idealiter durchvollzogene Astronautik aus lauter Umkehrimplikationen bestände." So hat sich auch Jodie Foster in einem Interview mit dem klassischen Blumenberg-Argument der begrenzten Lebenszeit von ihrer Rolle distanziert: "Abschied für immer? Von allen Leuten, die ich liebe? Das wäre mir ein zu hoher Preis für die Begegnung mit tentakelnden Schwellköpfen."
Der Himmel mittlerer Entfernung, der unseres Planetensystems, taucht in diesen Studien nur fragmentarisch auf. Kurz angeschnitten wird Lichtenbergs Vorausahnung eines Planeten jenseits des Saturns, den er "Minerva" benannt wissen wollte: "Nach den rabiaten Göttern Mars und Saturn, Jupiter dazwischen, war eine der Venus adäquate, freundliche Gestalt fällig", eine aufklärerische "Eulengöttin der Kopfgeburten", wie Blumenberg kommentiert. Als der Planet dann allerdings entdeckt wurde, ging es genealogisch korrekt mit dem Namen Uranus weiter - ein Sieg der "Arbeit am Mythos" gegen die politisierte Namensgebung des Astronomen Herschel, der mit dem Namen "Georgsstern" seinem König hatte huldigen wollen. Zu Lichtenbergs Saturn-Spekulationen muß man allerdings "Die Lesbarkeit der Welt" nachschlagen, zur Venus, der schönsten Erscheinung des Nachthimmels, fehlt jede ausführliche Stellungnahme.
Man kann die Gründe vermuten: Das Gewicht des astrologischen Mythos ist in dieser Sphäre zu stark, als daß sie dem Philosophen Raum für Gedankenspiele gelassen hätte. Der Leser stößt hier förmlich auf die Perspektiven, die sich Blumenberg versagt hat. Als er die Enttäuschungen diskutiert, die die Erforschung des Marsbodens durch unbemannte Sonden der Menschheit bereitet hat, fügt er eine im gleichen Tenor gehaltene Tagebuchnotiz Ernst Jüngers an: "Die Landung auf unbelebten Himmelskörpern hat manche Erwartungen enttäuscht." Aber Jünger fährt, wie Blumenberg ratlos weiterzitiert, in einer mythischen Sprache fort: "Sollte aber dort nicht mehr verborgen sein, als wir erhofften - Einsichten, vielleicht sogar eine Befriedigung über die faustische Unruhe hinaus? Die Planeten als Götter. Keine Wiederholung, sondern ein Wiederfinden; auch das eine Perspektive aus der Synthesis und über sie hinaus." Plötzlich spielt der Philosoph nicht mehr mit und ruft zur Ordnung: "Da wir ohnehin nicht wissen, was ein Gott ist, wissen wir auch nicht, worin sich Götter unterscheiden." Die Stelle ist nicht völlig klar. Jünger jedenfalls weiß nur allzu genau, welchen Gott er auf ebenjenem durch die Sonde auf seine Bodenbeschaffenheit untersuchten Mars wiederfinden möchte - den Kriegsgott nämlich, der ihm beim Einmarsch in Frankreich im Sommer 1940 gewogen war, wie es das Tagebuch "Gärten und Straßen" formulierte. Als ein Untergebener sich damals verwundert zeigte, daß bei den Kampfhandlungen die Musikinstrumente zuallererst zertrümmert würden, kommentiert Jünger: "Das ist ein Symbol für den unmusischen Charakter des Mars und, wenn ich mich recht entsinne, schon auf einem großen Bilde von Rubens vermerkt, das dem Thema ,Mars und die Musen' gewidmet ist." Blumenbergs Unwille gegenüber Jüngers mythologischen Überlegungen kann damit zusammenhängen, daß er sich auf den Mythos eines "rabiaten Gottes" nicht einlassen mochte.
Mehr noch als in seinen früheren, großen Büchern liest Blumenberg hier die "Vermischten Meldungen" der Wissenschaftsgeschichte. Anekdoten sind ihm, was für die Psychoanalyse Träume und Fehlleistungen waren: die Via regia zum Unbewußten der Vernunft. Wo in Forscherautobiographien falsche Pointen auftauchen, wo sich unerwartet Langeweile meldet, da wird der Philosoph hellhörig. Eine offensichtliche Falschmeldung aus dem Stalingrad-Jahr 1943, zwischen dem Merkur und der Sonne sei ein neuer Planet entdeckt worden, der demnächst in die Sonne zu stürzen drohe, wird unerwartet zum großen, furchtbaren Dokument. Nachdem Blumenberg die Deutung Heinrich Manns zurückgewiesen hat, hier sei dem Volk propagandistisch die reale Katastrophe durch eine imaginäre kosmische relativiert worden, kommt er zur Sache selbst. Der Planet Merkur zeigt Eigentümlichkeiten seiner Bahn, die nur die Relativitätstheorie erklären konnte. War aber ein neuer Planet in Merkurnähe entdeckt, dann war die Bahn traditionell erklärt und Einstein zugunsten der "Deutschen Physik" widerlegt. Die Falschmeldung vom neuen Planeten, so Blumenbergs lakonischer Befund, gehört in die Zeit der "Endlösung".
Die Sterne sind auch das, was lebensweltlich nah ist. Merkwürdig an dem Buch mutet an, daß Blumenberg, dessen Untersuchungen zur "Kopernikanischen Wende", 1965 erschienen, die Wissenschaftsgeschichte des heliozentrischen Weltbildes schrieben, über die Sonne wenig Gutes zu sagen weiß. Diese sei vielmehr, so liest man, "eine Wohltäterin, der wie allen Wohltätern nur wenig zur Tyrannei fehlt. Sie anzubeten, ist eine der ältesten Religionen und einer der modernsten Kulte. Sie läßt sich nicht ansehen und stürzte doch die Menschen in Angst und Schrecken, wenn sie sich verfinsterte. Das Verhältnis der Menschen zur Sonne ist triebhaft; sie sind bereit, alle Hüllen fallen zu lassen, damit der Strahl sie bis in die letzten Winkel erreicht. Es gibt nichts Vergleichbares zu dieser Abhängigkeit, zu diesem Genuß unter der Fuchtel eines Despotismus, dem zumindest keiner zu widersprechen wagt." Der Schlußsatz zeigt, daß hier die Philosophie selbst auf dem Spiel steht.
Eine Instanz, der man nicht zu widersprechen wagt: Ist das nicht die Metapher der metaphernfrei gedachten "nuda veritas", jener "nackten Wahrheit", der eine frühe Abhandlung Blumenbergs nachgegangen war? Sind nicht die Anhänger des Sonnenkultes, die ihre Hüllen fallen lassen, Nachkommen jener, die sich die Wahrheit als "schamverletzende Enthüllung" - so Blumenberg 1960 - dachten? Der Philosoph, der in einer seiner ersten Studien das "Licht als Metapher der Wahrheit" untersuchte, hat im Bild der Sonne den Despotismus der Vernunft beschrieben, der in der adamitischen Nacktheit seine eigenen Barbaren hervorbringt. Von einem "neueren Wahn der nackten, brutalen Wahrheit" hatte Blumenberg einige Seiten zuvor gesprochen. Die Rede war von Ernst Wilhelm von Brücke, einem Arzt mit einer anderen Auffassung dessen, was einem todkranken Patienten gegenüber Wahrheit bedeuten kann. Von Brücke war der Lehrer Freuds, und es trifft sich, daß von ihm eine Mond-Anekdote überliefert ist.
Die Alternative des Metaphorologen, das Leitgestirn des Begriffsgeschichtlers ist der Mond: "der zwar milde, doch entschiedene Widerspruch gegen die Sonne, die ihre Peitsche über der Tageswelt und ihrer Geschäftigkeit schwingt". In ihm erkennt Blumenberg die poetische Erscheinung schlechthin, und sein Buch ist nicht zuletzt ein verlängerter gedanklicher Hymnus auf den Mond. Der Abwendung vom "Kult der Sonne", der nur orthodoxe Anhänger dulde, entspricht die propädeutische Einführung in die "Häresien des Mondes". Zu den gewichtigsten Argumenten des Buches gehört der Nachweis, daß die poetische Qualität des Mondes unter der Aufklärung über seine materielle Beschaffenheit nicht nur nicht gelitten hat, vielmehr von ihr freigesetzt wurde. Die Antike, so Blumenberg, kannte keine Poesie des Mondes, erst das 18. Jahrhundert hat sie gewonnen. "Würde der Mond aus dem Repertoire unserer Stimmungen und Wünsche, aus seiner Zeugenschaft unserer Liebesnächte verschwinden, wenn unbezweifelbar geworden wäre, daß er den Vermutungen entsprach und aus Steinen bestand?"
Der Mond, so heißt es hier mit Schopenhauer, sei "der Freund unseres Busens", und Blumenberg fügt in einer der vielen kaustischen Nebenbemerkungen des Buches an: "So brauchen wir weder Mondcremes noch Mondbrillen." Der Mond strahlt eine Lichtart aus - milde, wechselhaft in den Erscheinungen, ästhetisierbar -, die dem metaphorologischen Unternehmen gemäß ist. Dieses Licht meint nicht den Despotismus der einen und endgültigen Vernunft, sondern die Welt der "Konjekturen und Projektionen, der ,Phantasie'". In der Ästhetisierung des Erdenmondes melde sich, so der abschließende Befund, der "Einspruch gegen den theoretischen Grundzug" der Aufklärung.
Das Buch regt dazu an, Blumenbergs Werke neu zu lesen: nicht mehr linear, der Geschichte einer Metapher folgend, sondern synchron, indem man sie wie Folien übereinanderlegt. Man kann das Gedankenexperiment mit den Konstellationen von Sonne und Mond machen: dann findet man als wissenschaftsgeschichtliche Formulierung des Themas nicht nur die Studien zu Kopernikus, sondern auch die zu Galilei, für den die Mondbeobachtung durchs Fernrohr entscheidend war. In der philosophischen Urszene tritt Thales auf, der eine Sonnenfinsternis korrekt vorhersagte, aber, die irdische Umwelt nicht beachtend, in einen Brunnen fiel. Als kosmologischen Rest im Kirchenjahr kann man sich Ostern denken, das auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang fällt. Hier ließe sich "Matthäuspassion" eintragen.
Man kann aber auch, weniger spekulativ, die großen Werke "Höhlenausgänge" und "Die Vollzähligkeit der Sterne" als Sequenz lesen: Wer aus der Höhle heraustritt, erblickt den Sternenhimmel. Hier trifft man auf das Motiv der Fußspur, in dem sich die Frühgeschichte des aufrecht gehenden Wesens mit der technisch spätesten - Blumenberg denkt an die Fußspuren, die die "Apollo"-Astronauten auf dem Mond zurückließen - trifft. Blumenberg hat die Geschichte des Denkens als irdische Sequenz entfaltet; er hat, mit allen metaphorischen Implikationen, die Menschen wieder auf der Erde angesiedelt. Auch die Astronoetik schließt deshalb mit Betrachtungen der Erde: mit Wegeners Kontinentaldrift-Hypothese, mit dem Rückblick zur Erde aus dem Weltraum, mit einer Apologie des lebensweltlichen Grundes gegen die Rede vom "Raumschiff Erde", die dem utopischen Optimismus der Hippies zugehörte: "Alle Weltabenteuer des Menschen setzen voraus, daß er sich immer wieder und irgendwann wieder auf ein Stück festen Bodens stellen kann." Die Rehabilitierung des festen Bodens - das war die durchdachteste Antwort, die sich auf die Lehren vom Nicht-Ort, von der Utopie geben ließ.
Hans Blumenberg: "Die Vollzähligkeit der Sterne". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 557 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main