Ror Wolf, der große Sprachartist und Meister der grotesken Komik, legt zu seinem 80. Geburtstag einen neuen Roman vor. Er berichtet vom Aufbruch des Ich-Erzählers in eine entfesselte Wirklichkeit, von seiner Reise durch wuchernde, apokalyptisch anmutende Landschaften, bevölkert von namenlosen, gefräßigen Kreaturen, seinen Begegnungen mit geheimnisvollen Damen in Bahnhofshotels und Bierkneipen. Innerhalb eines Lidschlags wechseln die Kontinente. Losgelöst von Raum und Zeit entsteht ein Stück des einzigartigen Kosmos von Ror Wolf: ein zugleich alptraumhaftes und faszinierendes Panoptikum voll doppelter Böden, Tapetentüren und plötzlich aufreißender Abgründe.Ror Wolf schreibt kraftvoll, wortmächtig und verstörend komisch - aber niemals gefällig. Abseits jeder Regel konventioneller Literatur führt er seine Leser in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, auf eine Expedition in die unberechenbaren Welten jenseits unserer Realität.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Einen Horrorroman in Anführungszeichen hat Ror Wolf hier nun im hohen Alter in seiner "Wirklichkeitswerkstatt" gezimmert, informiert Rezensent Tim Caspar Boehme, der sich über die weltenschaffenden Qualitäten des Autors und dessen ausgefeilter Stilistik, die sich ohne jede Lustfeindlichkeit gegen das "sinnstiftende Erzählen" richtet, so sehr freut, dass er kaum ein Wort zum Inhalt verliert. Man erfährt jedenfalls, dass sich "Schreckliches" und "seltsame Geschehnisse aller Art" in der motivischen Nähe von Hieronymus Bosch abspielen, ohne dass dabei der Humor zu kurz komme. Die zentrale Genussqualität des Romans liege dabei in dessen "poetischer Strategie", die sich ganz auf die Sprache zurückziehe: "Auf der Ebene des Satzes" erlebt Tim Caspar Boehme hier allerlei unerwartete Abenteuer und hofft schon jetzt inständig auf einen weiteren "Horrorroman" aus Wolfs Feder.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2012Der diabolische Gärtner
Zu seinem 80. Geburtstag hat Ror Wolf einen Horrorroman vorgelegt – das Buch bündelt noch einmal alle Schrecken dieses abgründigen Idyllikers der deutschen Literatur
Ein paar Fragen vorweg: Wenn die Welt so ist, wie sie ist, flüchtig also, in ständigem Wegflutschen begriffen, brüchig und kalt – wie beschreibt man das? Und welche Geschichte von der Welt muss ein Schriftsteller erzählen, wenn er wahrhaftig bleiben will? Muss er von der Liebe erzählen, von der Suche nach Heimat, von Mord und Totschlag oder vom Reisen, von der befremdlichen Schönheit und dem gewohnten Schrecken hienieden?
Eines von diesen Themen muss sich der Schriftsteller wohl aussuchen, denn wer bitte kann schon das alles auf einmal und womöglich in einem einzigen Text darstellen? Die Antwort ist einfach und wird anlässlich des Jubiläums von einer schlanken, feierlichen Fanfare begleitet: Niemand kann das. Niemand außer dem Schriftsteller Ror Wolf, der an diesem Freitag achtzig Jahre alt wird. Pünktlich zum Ereignis hat er einen neuen Roman veröffentlicht, und der Schöffling Verlag legt zwei weitere Folgen der großen Werkausgabe vor: einen Band mit Prosatexten, darunter die genialen Küzestgeschichten „Mehrere Männer“, sowie die Hörspiele und Toncollagen.
Ror Wolf hat die allumfassende Weltbeschreibung früh zum poetischen Programm erhoben. Seit seinen ersten Prosastücken, Hörcollagen und Gedichten, seit seinem ersten Roman „Fortsetzung des Berichts“ geht es immer um das Ganze, und das Ganze ist bei Wolf die Sprache, deren Wirkmacht so groß ist, dass sie keine Ideen transportieren muss, um so etwas wie eine wahrnehmbare Wirklichkeit zu erzeugen: „Diese Welt bestand, wie ich später in einem meiner Aufsätze beschrieben habe, wirklich aus einer Reihe sehr schöner Worte, die mir immer dann einfielen, wenn ich sie nötig hatte.“ Das ist ein – im besten Sinn poetologischer – Satz aus Ror Wolfs neuem Roman „Die Vorzüge der Dunkelheit – Neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen“. Wolf nennt seinen Text Horrorroman, vielleicht weil er noch einmal alle Schrecken der Wolf’schen Welterfahrung bündelt: den Verlust des Körpers, das Verlorengehen in den Wildnissen der Zivilisation, die Fremdheit zwischen den Menschen und den sich ständig wiederholenden Verlust von Heimat. Wenn es so etwas wie eine vegetative Literatur gibt, eine, die sich selbst weiterzeugt und später wieder verschlingt, dann ist Ror Wolf ihr diabolischer Gärtner, der mit seinem neuen Roman eine besonders schöne fleischfressende Pflanze gezüchtet hat.
Hoch oben über Mainz, an der eleganten Kupferbergterrasse, wohnt Ror Wolf mit seinen Büchern, seinem Archiv und seinem in Zettelkästen und Dateien gesammelten Wirklichkeitsmaterial: Notizen, Gesprächsaufzeichnungen und Protokolle, die er früher Tag für Tag angefertigt hat. Ror Wolf ist ein über die Maßen höflicher Mann, und wenn er dem Besucher einen Platz anbietet, bittet er ihn, zunächst jeden der Ledersessel auf seine Bequemlichkeit hin zu prüfen, bevor er sich für einen entscheidet. Er selbst setzt sich in den Sessel, der vor dem Bücherregal steht: Kafka, Joyce, Robert Walser, Jean Paul – seine großen Vorbilder stehen in Gesamtausgaben hinter ihm. Wenn er noch etwas liest, sagt er, dann in den Sachen der Alten, ansonsten muss er seine Kräfte fürs eigene Schreiben bündeln.
Dieser Roman, sagt Wolf, sei deshalb auch sein letzter, danach werde er damit fortfahren, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben – die Geschichte eines Schriftstellers also, der wie kein zweiter eine eigene magische Welt erschaffen hat, eine gewaltige Dystopie, in welcher Schrecken und Komik einander bedingen. „Die Vorzüge der Dunkelheit“ ist zwar noch nicht dieses autobiographische Buch, aber es hat trotzdem mit der konkreten Lebenswirklichkeit des Ror Wolf zu tun. Vor zehn Jahren musste er sich einer radikalen Krebsoperation unterziehen. „Ich hatte danach Halluzinationen“, sagt er. „Und weil ich die Angewohnheit habe, alles aufzuschreiben, habe ich die Protokolle meiner Frau mitgegeben.“ Und er wusste ja auch nicht, ob er überhaupt wieder aus dem Hospital rauskäme, nur dass er am Ende nicht ohne Verluste dastehen würde, das war ganz sicher. Dass er heute noch lebt, versetze sogar die Operateure in Erstaunen.
„Das Schreiben“, sagt Ror Wolf, „hält mich am Leben. Ich denke dann nicht an die Verluste und Prognosen. Ich denke nicht an die Unfähigkeit zu reisen.“ In den letzten zehn Jahren hat Ror Wolf Mainz dreimal verlassen, gezwungenermaßen, weil er jedesmal einen Literaturpreis abzuholen hatte. Nächstes Jahr sollte er unbedingt gezwungen werden, nach Darmstadt zu reisen, um dort den Preis abzuholen, den er schon lange verdient hat, den Büchner-Preis nämlich.
Was geht denn nun eigentlich vor in Ror Wolfs neuem Roman, der den Blick auf eine poröse Welt öffnet, jene nun schon seit fünfzig Jahren existente entsetzliche, komische Ror-Wolf-Welt, die binnen eines Atemzugs Kulisse und Beschaffenheit verändert, die jederzeit mit apokalyptischen Kapricen dienen kann, in der abwechselnd nasse Wäsche, Käfer und tote Vögel vom Himmel fallen und die Ereignisse so flüchtig sind, dass der Erzähler den Bericht über sie gleich wieder zurücknimmt: „Ich möchte noch hinzufügen, nein, ich möchte nichts mehr hinzufügen?“
In die geläufige Ausrede, es gebe nun einmal keine nachvollziehbare Handlung in Wolfs Geschichten, mag man sich ungern flüchten, zumal sie auch gar nicht stimmt. Es passieren schließlich ungeheuerliche Dinge: Ein Mann wacht auf und findet eine Hand neben sich, von der er bald annehmen muss, es sei seine eigene Hand. Nach und nach rekonstruiert sich eine menschliche Gestalt, die sich bei ihrer Verfertigung zusieht und dem Erzähler davon berichtet. Dieser Erzähler wechselt ebenfalls ständig Farbe, Standpunkt und Mitteilungsabsicht. Mal lässt er sich von einem Mann erzählen, mal scheint er selbst dieser Mann zu sein, von sich selbst sagt er, er sei ein großer Reisender gewesen, „der die Absicht hatte, die Welt zu verschlingen“. Aber was bedeuten schon Absichten in Ror Wolfs Romanwelt? Die Männer tragen ihre ungeheuerlichen Beobachtungen ohne großes Staunen vor, was geschieht, geschieht jetzt oder wird als Geschehen in Frage gestellt; Menschen fallen durch Kofferböden in ein fremdes Land, wässrige Fräuleins huschen über ein Männergesicht und versickern im Boden, und wer sich an irgendeinem Ort aufhält, hält sich genauso gut nicht an diesem Ort auf. Wolfs Roman ist eine aufregend kalte Veranstaltung, eine opulente Feier der Verlorenheit und des exotischen Grauens. Wo findet man in der subjekt- und utopieverliebten deutschen Literatur einen solchen Satz: „Ich lag da und wußte nicht, wer ich war. Ich erinnerte mich nicht an mich, schon gar nicht, woher ich kam und wohin ich wollte.“
Natürlich werden Wolfs Idyllen in der Wirklichkeitsfabrik des Schriftstellers produziert. Und es ist ein Glück, dem alten Wolf zuhören zu können, wie er vom „Akt der Aufbewahrung“ erzählt, einer Technik, die er schon beim Zettelkasten-Arno-Schmidt bewundert hat.
Aber das Material, die Bildversatzstücke, die das Gesamtmuster seiner entgleitenden Welten bilden, kommen aus dem Leben des Richard Georg Wolf, der am 29. Juni 1932 in Saalfeld geboren wurde. Sein Vater geriet nach dem Krieg in Gefangenschaft, die Mutter wurde ins Gefängnis gesteckt, der Junge wuchs alleine auf zwischen den Büchern des Vaters, notdürftig versorgt vom Großvater. Die Welt muss damals schon eine Ror-Wolf-Landschaft gewesen sein: „Alles lag durcheinander“, sagt Wolf, und er erzählt es exakt so wie es in seinen Büchern stehen könnte: „Die Kassen waren aufgeplatzt, die Zettel flogen in der Luft herum da lag eine Leiche, etwas brannte.“
Anfang der fünfziger Jahre flüchtete Ror Wolf aus der DDR nach Frankfurt, auch in der Absicht, Abenteuer zu erleben, wie er sagt. Aber es sind beileibe nicht die Abenteuer geworden, die ihm vorgeschwebt hatten, sondern elende Anstellungen als Straßen- und Hilfsarbeiter, der in einem mit Krempel vollgestellten teuren kleinen Zimmer leben musste. Warum diese großen Beschreibungsexzesse, der Wunsch, die Welt nach den Prinzipien des radikal Subjektiven zu ordnen, die große Geste der Ideenverweigerung? Ror Wolf selbst erklärt es so: „Ich lasse mir keine ideologischen Anweisungen geben.“ Zweimal sei er unter der Knute von Gesinnungsterroristen gewesen, als Junge musste er im Internat jeden Morgen ein Nazilied singen, dann ging es zum Frühstück in Uniform, dann kam ein Bach-Präludium. In der DDR durfte er nicht studieren, also floh er aus dem Land, zog 34 Mal um, so wie die Figuren in seinen Büchern binnen eines Wimpernschlags Land, Identität und Erinnerung hinter sich lassen.
Als er 1968 von Basel, wo er damals wohnte, kurzzeitig nach Frankfurt zog, erlebte er die Studentenbewegung dann anders als erhofft. Es handelte sich bei den Revoltierenden eben doch nicht um Geschwister im Geiste, denen eine neue, unerhörte Bewertung von Kunst und Gesellschaft am Herzen lag; Wolf erlebte sie eher als bilderstürmende Patriarchen, die aus Literatur Wandzeitungen machten. Im Herbst 1971 lud ihn der Luchterhand-Lektor Klaus Röhler zu einem Weinabend zu sich nach Hause. Die anderen Gäste kamen kurze Zeit später, ein Mann, zwei junge Frauen. Der Mann, es war Andreas Baader, eröffnete die Unterhaltung mit dem Satz: „Wir können jetzt schon das Wasser von Berlin vergiften.“ Danach habe er den beiden Damen ein Zeichen gegeben, die daraufhin aufsprangen und mit ihm verschwanden.
„Er war dämlich, eitel und autoritär“, sagt Ror Wolf. „Der Mann verkörperte all das, wogegen ich schon bei meinem Vater opponiert hatte.“ Und dennoch – der Bundesnachrichtendienst nahm den Namen Ror Wolf in seine Sympathisantenliste auf und beschattete den Dichter bis in die späten achtziger Jahre.
Die Welt in eine Ordnung bringen – so könnte man antworten, wenn einer auf der Frage nach Wolfs Absichten bestehen möchte. So wie Wolf das in seinen opulenten absurd-peniblen „Ratschläger“-Bänden tat, die er unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer publiziert hat – der Name ist ein erweitertes Anagramm seines ersten Vornamens Richard, so wie Wolf auch seinen Künstlernamen „Ror“ aus Richard und Georg herausgemeißelt hat.
Im ersten Stock seiner Wohnung in Mainz hat Ror Wolf das Material geordnet. Manuskriptschränke mit den Originalen seiner wichtigen Erzählungen „Die Gefährlichkeit der großen Ebene“, „Pilzer und Pelzer“; seine formal perfekten, inhaltlich rau-komischen Gedichte und Moritaten, seine Fußballhörspiele, die ihn sogar ein bisschen populär gemacht haben. Und natürlich die an Max Ernst geschulten Collagen mit den schwebenden Herren auf Laufrädern, die von riesenhaften Insekten in einer öden Mondlandschaft beäugt werden. Wolf zieht eine Schublade aus, entnimmt ihr ein Kuvert mit einer sorgsam ausgeschnittenen Papier-Kakerlake. „Schalentiere“ steht auf dem Umschlagpapier. Ror Wolf muss nur ein paar Fächer aufziehen, um seine unheimlichen Welten zusammenzubauen, Welten, die unserer realen immer mehr zu ähneln scheinen. „Ich hab’ ein gutes Gefühl für die Zeit“, sagt Ror Wolf. Und er hat ein gutes Gefühl dafür, wie eine Geschichte ausgehen kann, ohne wirklich zu Ende zu sein.
Am Ende kommt Wolfs Welten-Verschlinger in Nord-Amerika an und legt sich schlafen. Die Bilanz muss der Erzähler selbst nachliefern: „Manchmal geschah dies, manchmal geschah das. Manchmal geschah überhaupt nichts.“ Ja, wenn wir am Ende so klug sein könnten wie die Texte von Ror Wolf, dann hätten wir schon ein bisschen was von der Welt und vom Leben verstanden.
HILMAR KLUTE
ROR WOLF: Die Vorzüge der Dunkelheit. 29 Arten die Welt zu verschlingen. Roman. 272 Seiten mit Collagen des Autors. 24,95 Euro.
Die Einsamkeit des Meeresgrunds. Die Hörspiele, 376 Seiten mit mp3-CD, 49 Euro.
Die Gefährlichkeit der großen Ebene, Prosa III. 370 Seiten, 39 Euro.
Alle erschienen im: Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012.
Der neue Roman ist eine
aufregend kalte Feier
der existenziellen Verlorenheit
Die Studentenproteste erlebte
Wolf als Bildersturm, der aus
Literatur Wandzeitungen machte
Seine Fußball-Hörspiele
machten ihn zwischenzeitlich
sogar ein wenig populär
Den neuen Band hat Ror Wolf mit eigenen Collagen im Stile des Surrealisten Max Ernst illustriert. Abb.: Ror Wolf
„Ich lag da und wußte nicht, wer ich war. Ich erinnerte mich nicht an mich, schon gar nicht, woher ich kam und wohin ich wollte“, lautet so ein typischer Satz aus der Wirklichkeitsfabrik des Ror Wolf, der nach 34 Umzügen in Mainz landete und blieb.
Foto: Jürgen Bauer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zu seinem 80. Geburtstag hat Ror Wolf einen Horrorroman vorgelegt – das Buch bündelt noch einmal alle Schrecken dieses abgründigen Idyllikers der deutschen Literatur
Ein paar Fragen vorweg: Wenn die Welt so ist, wie sie ist, flüchtig also, in ständigem Wegflutschen begriffen, brüchig und kalt – wie beschreibt man das? Und welche Geschichte von der Welt muss ein Schriftsteller erzählen, wenn er wahrhaftig bleiben will? Muss er von der Liebe erzählen, von der Suche nach Heimat, von Mord und Totschlag oder vom Reisen, von der befremdlichen Schönheit und dem gewohnten Schrecken hienieden?
Eines von diesen Themen muss sich der Schriftsteller wohl aussuchen, denn wer bitte kann schon das alles auf einmal und womöglich in einem einzigen Text darstellen? Die Antwort ist einfach und wird anlässlich des Jubiläums von einer schlanken, feierlichen Fanfare begleitet: Niemand kann das. Niemand außer dem Schriftsteller Ror Wolf, der an diesem Freitag achtzig Jahre alt wird. Pünktlich zum Ereignis hat er einen neuen Roman veröffentlicht, und der Schöffling Verlag legt zwei weitere Folgen der großen Werkausgabe vor: einen Band mit Prosatexten, darunter die genialen Küzestgeschichten „Mehrere Männer“, sowie die Hörspiele und Toncollagen.
Ror Wolf hat die allumfassende Weltbeschreibung früh zum poetischen Programm erhoben. Seit seinen ersten Prosastücken, Hörcollagen und Gedichten, seit seinem ersten Roman „Fortsetzung des Berichts“ geht es immer um das Ganze, und das Ganze ist bei Wolf die Sprache, deren Wirkmacht so groß ist, dass sie keine Ideen transportieren muss, um so etwas wie eine wahrnehmbare Wirklichkeit zu erzeugen: „Diese Welt bestand, wie ich später in einem meiner Aufsätze beschrieben habe, wirklich aus einer Reihe sehr schöner Worte, die mir immer dann einfielen, wenn ich sie nötig hatte.“ Das ist ein – im besten Sinn poetologischer – Satz aus Ror Wolfs neuem Roman „Die Vorzüge der Dunkelheit – Neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen“. Wolf nennt seinen Text Horrorroman, vielleicht weil er noch einmal alle Schrecken der Wolf’schen Welterfahrung bündelt: den Verlust des Körpers, das Verlorengehen in den Wildnissen der Zivilisation, die Fremdheit zwischen den Menschen und den sich ständig wiederholenden Verlust von Heimat. Wenn es so etwas wie eine vegetative Literatur gibt, eine, die sich selbst weiterzeugt und später wieder verschlingt, dann ist Ror Wolf ihr diabolischer Gärtner, der mit seinem neuen Roman eine besonders schöne fleischfressende Pflanze gezüchtet hat.
Hoch oben über Mainz, an der eleganten Kupferbergterrasse, wohnt Ror Wolf mit seinen Büchern, seinem Archiv und seinem in Zettelkästen und Dateien gesammelten Wirklichkeitsmaterial: Notizen, Gesprächsaufzeichnungen und Protokolle, die er früher Tag für Tag angefertigt hat. Ror Wolf ist ein über die Maßen höflicher Mann, und wenn er dem Besucher einen Platz anbietet, bittet er ihn, zunächst jeden der Ledersessel auf seine Bequemlichkeit hin zu prüfen, bevor er sich für einen entscheidet. Er selbst setzt sich in den Sessel, der vor dem Bücherregal steht: Kafka, Joyce, Robert Walser, Jean Paul – seine großen Vorbilder stehen in Gesamtausgaben hinter ihm. Wenn er noch etwas liest, sagt er, dann in den Sachen der Alten, ansonsten muss er seine Kräfte fürs eigene Schreiben bündeln.
Dieser Roman, sagt Wolf, sei deshalb auch sein letzter, danach werde er damit fortfahren, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben – die Geschichte eines Schriftstellers also, der wie kein zweiter eine eigene magische Welt erschaffen hat, eine gewaltige Dystopie, in welcher Schrecken und Komik einander bedingen. „Die Vorzüge der Dunkelheit“ ist zwar noch nicht dieses autobiographische Buch, aber es hat trotzdem mit der konkreten Lebenswirklichkeit des Ror Wolf zu tun. Vor zehn Jahren musste er sich einer radikalen Krebsoperation unterziehen. „Ich hatte danach Halluzinationen“, sagt er. „Und weil ich die Angewohnheit habe, alles aufzuschreiben, habe ich die Protokolle meiner Frau mitgegeben.“ Und er wusste ja auch nicht, ob er überhaupt wieder aus dem Hospital rauskäme, nur dass er am Ende nicht ohne Verluste dastehen würde, das war ganz sicher. Dass er heute noch lebt, versetze sogar die Operateure in Erstaunen.
„Das Schreiben“, sagt Ror Wolf, „hält mich am Leben. Ich denke dann nicht an die Verluste und Prognosen. Ich denke nicht an die Unfähigkeit zu reisen.“ In den letzten zehn Jahren hat Ror Wolf Mainz dreimal verlassen, gezwungenermaßen, weil er jedesmal einen Literaturpreis abzuholen hatte. Nächstes Jahr sollte er unbedingt gezwungen werden, nach Darmstadt zu reisen, um dort den Preis abzuholen, den er schon lange verdient hat, den Büchner-Preis nämlich.
Was geht denn nun eigentlich vor in Ror Wolfs neuem Roman, der den Blick auf eine poröse Welt öffnet, jene nun schon seit fünfzig Jahren existente entsetzliche, komische Ror-Wolf-Welt, die binnen eines Atemzugs Kulisse und Beschaffenheit verändert, die jederzeit mit apokalyptischen Kapricen dienen kann, in der abwechselnd nasse Wäsche, Käfer und tote Vögel vom Himmel fallen und die Ereignisse so flüchtig sind, dass der Erzähler den Bericht über sie gleich wieder zurücknimmt: „Ich möchte noch hinzufügen, nein, ich möchte nichts mehr hinzufügen?“
In die geläufige Ausrede, es gebe nun einmal keine nachvollziehbare Handlung in Wolfs Geschichten, mag man sich ungern flüchten, zumal sie auch gar nicht stimmt. Es passieren schließlich ungeheuerliche Dinge: Ein Mann wacht auf und findet eine Hand neben sich, von der er bald annehmen muss, es sei seine eigene Hand. Nach und nach rekonstruiert sich eine menschliche Gestalt, die sich bei ihrer Verfertigung zusieht und dem Erzähler davon berichtet. Dieser Erzähler wechselt ebenfalls ständig Farbe, Standpunkt und Mitteilungsabsicht. Mal lässt er sich von einem Mann erzählen, mal scheint er selbst dieser Mann zu sein, von sich selbst sagt er, er sei ein großer Reisender gewesen, „der die Absicht hatte, die Welt zu verschlingen“. Aber was bedeuten schon Absichten in Ror Wolfs Romanwelt? Die Männer tragen ihre ungeheuerlichen Beobachtungen ohne großes Staunen vor, was geschieht, geschieht jetzt oder wird als Geschehen in Frage gestellt; Menschen fallen durch Kofferböden in ein fremdes Land, wässrige Fräuleins huschen über ein Männergesicht und versickern im Boden, und wer sich an irgendeinem Ort aufhält, hält sich genauso gut nicht an diesem Ort auf. Wolfs Roman ist eine aufregend kalte Veranstaltung, eine opulente Feier der Verlorenheit und des exotischen Grauens. Wo findet man in der subjekt- und utopieverliebten deutschen Literatur einen solchen Satz: „Ich lag da und wußte nicht, wer ich war. Ich erinnerte mich nicht an mich, schon gar nicht, woher ich kam und wohin ich wollte.“
Natürlich werden Wolfs Idyllen in der Wirklichkeitsfabrik des Schriftstellers produziert. Und es ist ein Glück, dem alten Wolf zuhören zu können, wie er vom „Akt der Aufbewahrung“ erzählt, einer Technik, die er schon beim Zettelkasten-Arno-Schmidt bewundert hat.
Aber das Material, die Bildversatzstücke, die das Gesamtmuster seiner entgleitenden Welten bilden, kommen aus dem Leben des Richard Georg Wolf, der am 29. Juni 1932 in Saalfeld geboren wurde. Sein Vater geriet nach dem Krieg in Gefangenschaft, die Mutter wurde ins Gefängnis gesteckt, der Junge wuchs alleine auf zwischen den Büchern des Vaters, notdürftig versorgt vom Großvater. Die Welt muss damals schon eine Ror-Wolf-Landschaft gewesen sein: „Alles lag durcheinander“, sagt Wolf, und er erzählt es exakt so wie es in seinen Büchern stehen könnte: „Die Kassen waren aufgeplatzt, die Zettel flogen in der Luft herum da lag eine Leiche, etwas brannte.“
Anfang der fünfziger Jahre flüchtete Ror Wolf aus der DDR nach Frankfurt, auch in der Absicht, Abenteuer zu erleben, wie er sagt. Aber es sind beileibe nicht die Abenteuer geworden, die ihm vorgeschwebt hatten, sondern elende Anstellungen als Straßen- und Hilfsarbeiter, der in einem mit Krempel vollgestellten teuren kleinen Zimmer leben musste. Warum diese großen Beschreibungsexzesse, der Wunsch, die Welt nach den Prinzipien des radikal Subjektiven zu ordnen, die große Geste der Ideenverweigerung? Ror Wolf selbst erklärt es so: „Ich lasse mir keine ideologischen Anweisungen geben.“ Zweimal sei er unter der Knute von Gesinnungsterroristen gewesen, als Junge musste er im Internat jeden Morgen ein Nazilied singen, dann ging es zum Frühstück in Uniform, dann kam ein Bach-Präludium. In der DDR durfte er nicht studieren, also floh er aus dem Land, zog 34 Mal um, so wie die Figuren in seinen Büchern binnen eines Wimpernschlags Land, Identität und Erinnerung hinter sich lassen.
Als er 1968 von Basel, wo er damals wohnte, kurzzeitig nach Frankfurt zog, erlebte er die Studentenbewegung dann anders als erhofft. Es handelte sich bei den Revoltierenden eben doch nicht um Geschwister im Geiste, denen eine neue, unerhörte Bewertung von Kunst und Gesellschaft am Herzen lag; Wolf erlebte sie eher als bilderstürmende Patriarchen, die aus Literatur Wandzeitungen machten. Im Herbst 1971 lud ihn der Luchterhand-Lektor Klaus Röhler zu einem Weinabend zu sich nach Hause. Die anderen Gäste kamen kurze Zeit später, ein Mann, zwei junge Frauen. Der Mann, es war Andreas Baader, eröffnete die Unterhaltung mit dem Satz: „Wir können jetzt schon das Wasser von Berlin vergiften.“ Danach habe er den beiden Damen ein Zeichen gegeben, die daraufhin aufsprangen und mit ihm verschwanden.
„Er war dämlich, eitel und autoritär“, sagt Ror Wolf. „Der Mann verkörperte all das, wogegen ich schon bei meinem Vater opponiert hatte.“ Und dennoch – der Bundesnachrichtendienst nahm den Namen Ror Wolf in seine Sympathisantenliste auf und beschattete den Dichter bis in die späten achtziger Jahre.
Die Welt in eine Ordnung bringen – so könnte man antworten, wenn einer auf der Frage nach Wolfs Absichten bestehen möchte. So wie Wolf das in seinen opulenten absurd-peniblen „Ratschläger“-Bänden tat, die er unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer publiziert hat – der Name ist ein erweitertes Anagramm seines ersten Vornamens Richard, so wie Wolf auch seinen Künstlernamen „Ror“ aus Richard und Georg herausgemeißelt hat.
Im ersten Stock seiner Wohnung in Mainz hat Ror Wolf das Material geordnet. Manuskriptschränke mit den Originalen seiner wichtigen Erzählungen „Die Gefährlichkeit der großen Ebene“, „Pilzer und Pelzer“; seine formal perfekten, inhaltlich rau-komischen Gedichte und Moritaten, seine Fußballhörspiele, die ihn sogar ein bisschen populär gemacht haben. Und natürlich die an Max Ernst geschulten Collagen mit den schwebenden Herren auf Laufrädern, die von riesenhaften Insekten in einer öden Mondlandschaft beäugt werden. Wolf zieht eine Schublade aus, entnimmt ihr ein Kuvert mit einer sorgsam ausgeschnittenen Papier-Kakerlake. „Schalentiere“ steht auf dem Umschlagpapier. Ror Wolf muss nur ein paar Fächer aufziehen, um seine unheimlichen Welten zusammenzubauen, Welten, die unserer realen immer mehr zu ähneln scheinen. „Ich hab’ ein gutes Gefühl für die Zeit“, sagt Ror Wolf. Und er hat ein gutes Gefühl dafür, wie eine Geschichte ausgehen kann, ohne wirklich zu Ende zu sein.
Am Ende kommt Wolfs Welten-Verschlinger in Nord-Amerika an und legt sich schlafen. Die Bilanz muss der Erzähler selbst nachliefern: „Manchmal geschah dies, manchmal geschah das. Manchmal geschah überhaupt nichts.“ Ja, wenn wir am Ende so klug sein könnten wie die Texte von Ror Wolf, dann hätten wir schon ein bisschen was von der Welt und vom Leben verstanden.
HILMAR KLUTE
ROR WOLF: Die Vorzüge der Dunkelheit. 29 Arten die Welt zu verschlingen. Roman. 272 Seiten mit Collagen des Autors. 24,95 Euro.
Die Einsamkeit des Meeresgrunds. Die Hörspiele, 376 Seiten mit mp3-CD, 49 Euro.
Die Gefährlichkeit der großen Ebene, Prosa III. 370 Seiten, 39 Euro.
Alle erschienen im: Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012.
Der neue Roman ist eine
aufregend kalte Feier
der existenziellen Verlorenheit
Die Studentenproteste erlebte
Wolf als Bildersturm, der aus
Literatur Wandzeitungen machte
Seine Fußball-Hörspiele
machten ihn zwischenzeitlich
sogar ein wenig populär
Den neuen Band hat Ror Wolf mit eigenen Collagen im Stile des Surrealisten Max Ernst illustriert. Abb.: Ror Wolf
„Ich lag da und wußte nicht, wer ich war. Ich erinnerte mich nicht an mich, schon gar nicht, woher ich kam und wohin ich wollte“, lautet so ein typischer Satz aus der Wirklichkeitsfabrik des Ror Wolf, der nach 34 Umzügen in Mainz landete und blieb.
Foto: Jürgen Bauer
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»Ror Wolf hat einen besonderen Blick für das Alltägliche, die Grotesken und Fährnisse des Lebens, die Schräglagen des Moments.«Katrin Hillgruber, Bayerischer Rundfunk»Ein ebenso aufregendes, wie verstörendes Meisterwerk. .. Ein surrealistischer Horrortrip auf höchstem sprachlichen Niveau. Aufwändig gestaltet ist dieser Roman ein nachhaltig irritierendes Lese- und Schauererlebnis.«HR 2 Kultur»Schrecken und Schönheit: Ror Wolf, Großmeister des (post-)avantgardistischen Sprachspiels, entwirft in seinem ironischen Horrorroman das Bild einer fantastischen, katastrophisch zersplitternden Welt.«Jan Schmelcher, Hessischer Rundfunk Online»Es sind die Falltüren des Bewusstseins, die den Schriftsteller udn sein Alter Ego Raoul Tranchirer seit Jahrzehnten beschäftigen.«Katrin Hillgruber, Stuttgarter Zeitung»Ror Wolfs Spezialität sind kleine, oft winzige, kaum wahrnehmbare semantische Verschiebungen zum Zwecke einer 'Verfälschung der Wirklichkeit durch Worte'.«Martin Zingg, Neue Zürcher Zeitun