Produktdetails
- Verlag: Fest
- Originaltitel: Vardia
- Seitenzahl: 294
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 443g
- ISBN-13: 9783828601680
- ISBN-10: 3828601685
- Artikelnr.: 24015572
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2002Sofern die Winde wehen
Nikos Kavvadias über melancholische Machos auf der Schiffsbrücke
Diamandis, neunzehn Jahre alt und nautischer Assistent auf dem griechischen Frachter "Pytheas", hat an seinem Körper etwas Beunruhigendes entdeckt. "Unten . . . ist wie'n Pickel, klein, tut nicht weh." Nikolas, der Funker, schaut es sich an und weiß sofort Diagnose und Interims-Therapie: "Tu Watte mit Salzwasser drauf. Wenn wir den Hafen erreichen, sofort zum Arzt. Ist nichts Ungewöhnliches." Solch kleinen Pickel haben die älteren Seeleute auf der "Pytheas" alle schon vor Jahren an sich wahrgenommen und die Ärzte für venerische Krankheiten im nächsten Hafen den dann als Symptom der Syphilis erklärt und dagegen seit einiger Zeit Penicillin verabreicht. Vorher gab's die Quecksilberkur.
Danach ist dann keinem etwa die Nase verfault, wie die Lehrbücher es für die nicht behandelte Syphilis androhen, aber so richtig austherapiert fühlen sie sich deshalb noch lange nicht. Sie begeben sich gleichwohl weiter in Konstellationen, die gehäuft die kleinen Pickel generieren, weil Männer gewöhnlich Frauen suchen, die Hafenstädte voll von entsprechenden Angeboten sind und die Ehefrauen, so vorhanden, weit entfernt und womöglich oder erwiesen untreu.
Ob das Sprechen über Diamandis' Ansteckung ein Dammbruch war oder auch schon vorher das Thema in den langen Stunden während der Wache, kann nicht entschieden werden - es gibt ja auch die Vermutung, daß Männer unter sich sowieso meist über den potentiellen oder realen Umgang mit abwesenden Frauen sprechen -, die Männer hier haben jedenfalls Zeit. Ihr Zielhafen mit Waffen für den Bürgerkrieg in China ist Shantou, der in Algier kontrahierte Pickel wurde in der Höhe von Singapur entdeckt, und die Pytheas schafft sieben Knoten in der Stunde - bei ruhigem Wetter, das hier selten gegeben ist. Jerasimos, der Steuermann, und Nikolas, der Funker, die waren vor achtzehn Jahren einmal zusammen am Golf bei schwarzen Frauen, das war eher exotisch, und Panajis, jetzt der 2. Offizier, war vor Jahrzehnten bei einer Aleutin. Das war eher bizarr, weil er nie wußte, wie lange sie noch allein bleiben würden, denn der jeweils nächste Schlitten, der sich durch Glockengeläut ankündigte, konnte den Gatten der Dame mit sich bringen, und die mußte sich erst zeitaufwendig aus ungeahnt vielen Bekleidungsschichten schälen und obendrein hochfrequent zwei immer wieder schreiende Kleinstkinder in ihren Hängematten besänftigen.
Auch aus den Bordells rund ums Mittelmeer, in Beirut, Alexandria und Marseille, gibt es genug zu erzählen, von patenten Puffmüttern, anbetungswürdigen Damen wie auch von Mädchen, die plötzlich weg waren. Dabei fallen durchaus sexistisch anmutende Kernsätze wie "Frauen haben von der Hüfte abwärts keine Heimat" und "Hauptsache, da sind rote Lichter", aber der Eindruck täuscht, denn es sind alles andere als selbstbewußte Sexprotze, die hier erzählen, eher melancholische milde Machos auf schwankendem Grund. "Du fährst auf dem Meer, weil du dich vor dem Festland fürchtest. Du schläfst mit Prostituierten, weil du feige bist", sinniert Funker Nikos im Mittelteil des Buches in der Ich-Form, durch allerlei Drogen in verschärfte Introspektion katapultiert.
Dabei pointiert er dort letztlich das, was der auktoriale Erzähler im Vorder- und Schlußteil den Sailors auf der Brücke als Diskurs mit sexuellem basso continuo zuschreibt: daß hier keine Seewölfe oder Seeteufel oder marine Helden ähnlichen Kalibers unterwegs sind, sondern eher fliegende Niederländer auf fast lebenslanger Gruppenreise mit einem gerade noch seetauglichen Schiff, der Traum von einer erlösenden Senta weitgehend ausgeträumt und selbst die Interims-Sentas für die Liegezeit im Hafen bisweilen nicht verfügbar. "Wo sind die Mädchen?" fragt Nikolas irritiert im Rotlichtbezirk von Marseille. "Frag besser nicht. Die haben sie auf Karren geladen und in Deutschland zu Seife verarbeitet", wird ihm geantwortet. So wie hier die Geschichte in Nikolas' Intimleben grätscht, so ist es bei anderen und zu anderer Zeit die Polizei, die sie wegen Kleinschmuggels zur Subsistenzsicherung oder auch zur Finanzierung von Weiterbildungsvorhaben festsetzt und an die Justiz weiterreicht, und selbst der Versuch der Aufbesserung der geringen Heuer durch Ladegutdiebstahl kann fruchtlos sein, wenn ein findiger Schuhfabrikant zwar seine Produkte mit ihrem Schiff expediert, aber nur die für die linken Füße, die für die rechten mit einem anderen. Die Verhältnisse sind der Feind des Seemanns, an Land wie auf See, und nur einer findet, wenn man so will, den Ausgang: Panajis. Der stirbt im Bordell in Shantou und wird von den dort dienenden Damen auf der Straße zwischengelagert, bis ihn seine Kameraden zur Seebestattung auf das Schiff zurückbringen.
Nikos Kavvadias hat "Die Wache" vor fast fünfzig Jahren geschrieben, das Buch spielt in einer versunkenen politischen Welt, aber auch diese nautische gibt es nicht mehr. Die Mannschaft der "Pytheas" ist landsmannschaftlich fast homogen, sie stammt überwiegend von der Insel Kefalonia, Verständigung ist deshalb problemlos möglich. Dagegen ist die lingua franca auf der Brücke von heute meist das rudimentäre Pidgin-Englisch. Und auch sonst hätten Seeleute nichts mehr zu erzählen von den Mädels, weil die Kürzestliegezeiten der Containerschiffahrt den Besuch bei den Damen nicht erlauben - die Luden in den Hafenstädten mußten schon vor Jahren ihre Ami-Schlitten gegen Kleinwagen tauschen.
Kavvadias kannte diese Welt, er fuhr zur See wie sein Namensvetter auf der "Pytheas", in derselben Position, als Funker. Griechische Gewährsleute bestätigen die Behauptung seiner Übersetzerin Maria Petersen im Nachwort, Kavvadias, gestorben 1975, sei in seiner Heimat bis heute ein bekannter Autor, als Lyriker wie als Verfasser dieses seines einzigen Romans. Die Möglichkeit, ihm mit diesem Werk auch auf deutsch zu begegnen, ist sehr zu begrüßen; obendrein ist die Übersetzung lebendig und jargongerecht. Lobenswert auch, daß maritime und nautische Spezialbegriffe qua Fußnote gleich auf der Seite ihres Vorkommens erklärt werden. Nur die Erläuterungen auf Seite 187 und 188 enttäuschen. "Türkische (bzw. spanische) Schimpfwörter" steht da. So weit ist man auch schon ohne Fußnote, beim Spanischen sogar weit darüber hinaus, wegen dieses einen sehr bekannten Schimpfwortes, das man nie in Gegenwart von Damen - aber lesen wird man's doch noch dürfen!
BURKHARD SCHERER.
Nikos Kavvadias: "Die Wache". Roman. Aus dem Neugriechischen übersetzt von Maria Petersen. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 295 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nikos Kavvadias über melancholische Machos auf der Schiffsbrücke
Diamandis, neunzehn Jahre alt und nautischer Assistent auf dem griechischen Frachter "Pytheas", hat an seinem Körper etwas Beunruhigendes entdeckt. "Unten . . . ist wie'n Pickel, klein, tut nicht weh." Nikolas, der Funker, schaut es sich an und weiß sofort Diagnose und Interims-Therapie: "Tu Watte mit Salzwasser drauf. Wenn wir den Hafen erreichen, sofort zum Arzt. Ist nichts Ungewöhnliches." Solch kleinen Pickel haben die älteren Seeleute auf der "Pytheas" alle schon vor Jahren an sich wahrgenommen und die Ärzte für venerische Krankheiten im nächsten Hafen den dann als Symptom der Syphilis erklärt und dagegen seit einiger Zeit Penicillin verabreicht. Vorher gab's die Quecksilberkur.
Danach ist dann keinem etwa die Nase verfault, wie die Lehrbücher es für die nicht behandelte Syphilis androhen, aber so richtig austherapiert fühlen sie sich deshalb noch lange nicht. Sie begeben sich gleichwohl weiter in Konstellationen, die gehäuft die kleinen Pickel generieren, weil Männer gewöhnlich Frauen suchen, die Hafenstädte voll von entsprechenden Angeboten sind und die Ehefrauen, so vorhanden, weit entfernt und womöglich oder erwiesen untreu.
Ob das Sprechen über Diamandis' Ansteckung ein Dammbruch war oder auch schon vorher das Thema in den langen Stunden während der Wache, kann nicht entschieden werden - es gibt ja auch die Vermutung, daß Männer unter sich sowieso meist über den potentiellen oder realen Umgang mit abwesenden Frauen sprechen -, die Männer hier haben jedenfalls Zeit. Ihr Zielhafen mit Waffen für den Bürgerkrieg in China ist Shantou, der in Algier kontrahierte Pickel wurde in der Höhe von Singapur entdeckt, und die Pytheas schafft sieben Knoten in der Stunde - bei ruhigem Wetter, das hier selten gegeben ist. Jerasimos, der Steuermann, und Nikolas, der Funker, die waren vor achtzehn Jahren einmal zusammen am Golf bei schwarzen Frauen, das war eher exotisch, und Panajis, jetzt der 2. Offizier, war vor Jahrzehnten bei einer Aleutin. Das war eher bizarr, weil er nie wußte, wie lange sie noch allein bleiben würden, denn der jeweils nächste Schlitten, der sich durch Glockengeläut ankündigte, konnte den Gatten der Dame mit sich bringen, und die mußte sich erst zeitaufwendig aus ungeahnt vielen Bekleidungsschichten schälen und obendrein hochfrequent zwei immer wieder schreiende Kleinstkinder in ihren Hängematten besänftigen.
Auch aus den Bordells rund ums Mittelmeer, in Beirut, Alexandria und Marseille, gibt es genug zu erzählen, von patenten Puffmüttern, anbetungswürdigen Damen wie auch von Mädchen, die plötzlich weg waren. Dabei fallen durchaus sexistisch anmutende Kernsätze wie "Frauen haben von der Hüfte abwärts keine Heimat" und "Hauptsache, da sind rote Lichter", aber der Eindruck täuscht, denn es sind alles andere als selbstbewußte Sexprotze, die hier erzählen, eher melancholische milde Machos auf schwankendem Grund. "Du fährst auf dem Meer, weil du dich vor dem Festland fürchtest. Du schläfst mit Prostituierten, weil du feige bist", sinniert Funker Nikos im Mittelteil des Buches in der Ich-Form, durch allerlei Drogen in verschärfte Introspektion katapultiert.
Dabei pointiert er dort letztlich das, was der auktoriale Erzähler im Vorder- und Schlußteil den Sailors auf der Brücke als Diskurs mit sexuellem basso continuo zuschreibt: daß hier keine Seewölfe oder Seeteufel oder marine Helden ähnlichen Kalibers unterwegs sind, sondern eher fliegende Niederländer auf fast lebenslanger Gruppenreise mit einem gerade noch seetauglichen Schiff, der Traum von einer erlösenden Senta weitgehend ausgeträumt und selbst die Interims-Sentas für die Liegezeit im Hafen bisweilen nicht verfügbar. "Wo sind die Mädchen?" fragt Nikolas irritiert im Rotlichtbezirk von Marseille. "Frag besser nicht. Die haben sie auf Karren geladen und in Deutschland zu Seife verarbeitet", wird ihm geantwortet. So wie hier die Geschichte in Nikolas' Intimleben grätscht, so ist es bei anderen und zu anderer Zeit die Polizei, die sie wegen Kleinschmuggels zur Subsistenzsicherung oder auch zur Finanzierung von Weiterbildungsvorhaben festsetzt und an die Justiz weiterreicht, und selbst der Versuch der Aufbesserung der geringen Heuer durch Ladegutdiebstahl kann fruchtlos sein, wenn ein findiger Schuhfabrikant zwar seine Produkte mit ihrem Schiff expediert, aber nur die für die linken Füße, die für die rechten mit einem anderen. Die Verhältnisse sind der Feind des Seemanns, an Land wie auf See, und nur einer findet, wenn man so will, den Ausgang: Panajis. Der stirbt im Bordell in Shantou und wird von den dort dienenden Damen auf der Straße zwischengelagert, bis ihn seine Kameraden zur Seebestattung auf das Schiff zurückbringen.
Nikos Kavvadias hat "Die Wache" vor fast fünfzig Jahren geschrieben, das Buch spielt in einer versunkenen politischen Welt, aber auch diese nautische gibt es nicht mehr. Die Mannschaft der "Pytheas" ist landsmannschaftlich fast homogen, sie stammt überwiegend von der Insel Kefalonia, Verständigung ist deshalb problemlos möglich. Dagegen ist die lingua franca auf der Brücke von heute meist das rudimentäre Pidgin-Englisch. Und auch sonst hätten Seeleute nichts mehr zu erzählen von den Mädels, weil die Kürzestliegezeiten der Containerschiffahrt den Besuch bei den Damen nicht erlauben - die Luden in den Hafenstädten mußten schon vor Jahren ihre Ami-Schlitten gegen Kleinwagen tauschen.
Kavvadias kannte diese Welt, er fuhr zur See wie sein Namensvetter auf der "Pytheas", in derselben Position, als Funker. Griechische Gewährsleute bestätigen die Behauptung seiner Übersetzerin Maria Petersen im Nachwort, Kavvadias, gestorben 1975, sei in seiner Heimat bis heute ein bekannter Autor, als Lyriker wie als Verfasser dieses seines einzigen Romans. Die Möglichkeit, ihm mit diesem Werk auch auf deutsch zu begegnen, ist sehr zu begrüßen; obendrein ist die Übersetzung lebendig und jargongerecht. Lobenswert auch, daß maritime und nautische Spezialbegriffe qua Fußnote gleich auf der Seite ihres Vorkommens erklärt werden. Nur die Erläuterungen auf Seite 187 und 188 enttäuschen. "Türkische (bzw. spanische) Schimpfwörter" steht da. So weit ist man auch schon ohne Fußnote, beim Spanischen sogar weit darüber hinaus, wegen dieses einen sehr bekannten Schimpfwortes, das man nie in Gegenwart von Damen - aber lesen wird man's doch noch dürfen!
BURKHARD SCHERER.
Nikos Kavvadias: "Die Wache". Roman. Aus dem Neugriechischen übersetzt von Maria Petersen. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 295 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dem Rezensent Eberhard Falcke gefällt recht gut, was Nikos Kavvadias in diesem Roman an Geschichten über das Meer und die Seefahrt erzählt - obwohl das Buch seiner Ansicht nach definitiv "kein literarisches Wunderwerk" ist. Er nennt es eher ein "Logbuch der existenzialistischen Seefahrt" und findet, dass der Autor insgesamt den richtigen Ton trifft und sein alter ego in dem Roman auch mit genügend Ironie betrachtet. Deswegen rutschen die Erzählungen kaum ins Peinliche oder ins Sentimentale. Manchmal wird solche "Genrephilosophie" allerdings angedeutet und an einigen Stellen gibt es nach Falckes Geschmack ein bisschen zuviel "Vagabundenromantik" - alles in allem aber haben die Abenteuer der Protagonisten "kaum noch die Aura von Tragik und Heldentum".
© Perlentaucher Medien GmbH
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