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Produktdetails
  • Verlag: Jung und Jung
  • Originaltitel: The Faithful Narrative of a Pastor's Disappearance
  • Seitenzahl: 351
  • Deutsch
  • Abmessung: 30mm x 125mm x 192mm
  • Gewicht: 406g
  • ISBN-13: 9783902144393
  • ISBN-10: 3902144394
  • Artikelnr.: 11193324
Autorenporträt
Benjamin Anastas, geb. 1969 in Gloucester, Massachusetts, lebt heute in der Toskana.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2003

In geheimer Missionarsstellung
Benjamin Anastas sucht einen verschwundenen Pastor in Neuengland
„Lieber Rev. Mosher, ich stecke in einer Zwickmühle. In Ihre Kirche zu kommen, macht mich richtig fickrig”, steht auf dem anonymen Zettel an den neuen Pastor. Reverend Thomas Mosher, geistliches Oberhaupt der Pilgrims’ Congregational Church in einer Kleinstadt in Massachusetts, hat ein Verhältnis mit einer frustrierten Vorstadtehefrau und erscheint eines Morgens nicht zum Bibelgesprächskreis seiner Gemeinde.
Doch „Die wahre Geschichte vom Verschwinden eines Pastors” spielt nicht nur mit den puritanischen Alpträumen, die seit Hawthornes Ehebruchklassiker „Der scharlachrote Buchstabe” um unzüchtige Gottesdiener kreisen. Benjamin Anastas, Jahrgang 1969, seziert die Allianz von seelischer Leere und reformatorischer Nüchternheit, Marketing-Vokabular und biblischer Gemeinschaftspropaganda, die die moderne amerikanische Gesellschaft prägt. Alte und neue Machtmechanismen überlagern sich: Religion und das „Evangelium des Marktes”, Selbstdisziplinierung und die Neurosen des Mittelstands.
Als Thomas Mosher verschwindet, versucht seine Geliebte gerade, ihre pharmazeutischen Stimmungsaufheller abzusetzen, greift aber um so häufiger zum Chardonnay-Kanister im Kühlschrank. Eine verständliche Geste, denn ihr tumber Ehemann wartet im Wasserbett, während die konsumterroristischen Kinder ihre Muffins einfordern. Die Gemeindemitglieder, deren Perspektiven auf den Pastor recht unterschiedlich ausfallen, liefern feinkomponierte Charakterstudien der Clinton-Ära. Die Hilfspastorin, berüchtigt für „Lesbenpropaganda” und langweilige Predigten über die Wiederverwertung von Rohstoffen, findet ihren Gegenpart in einer diktatorischen Immobilienmaklerin. Diese „füllige Neuengland-Dame” mit den gut kaschierten rassistischen Grundüberzeugungen befürchtet angesichts des afroamerikanischen Pastors, dass er „womöglich die falsche Gefolgschaft in ihre stille Stadt zog”. Ihre Bedenken betreffen auch das Leistungsprofil des Geistlichen: „Reverend Moshers Fingernägel sahen ordentlich aus, aber an seinem Händedruck, der eher schwach ausfiel, musste er noch arbeiten, wenn er Vertrauen in seine Führungsqualitäten erwecken wollte.”
In der Tat irritiert Thomas mit seinen scholastischen Predigten, die sich mit der unendlichen Kugelform Gottes beschäftigen und vom gewünschten Pragmatismus weit entfernt sind. Er ist ein Zweifler, der sich, um ein Modeadjektiv zu benutzen, ziemlich alteuropäisch aufführt: Augustinus und Kierkegaard sind seine geistigen Stützen, während die puritanischen Draufgänger ihn selten inspirieren.
Aber nicht nur der spirituelle, spätkapitalistische und psychopathologische Kitt der Gemeinschaft findet Anastas’ Interesse. Der Roman, der im letzten Drittel an Zugkraft verliert, legt auch ein ausgeprägtes Faible für Kommunikationstechniken an den Tag. Neben dem Wort Gottes präsentieren Anrufbeantworter, Modems, Kurzschrift, die „Pilgrim Prayerline” (eine alphabetische Telefonkette aller Gemeindemitglieder), und natürlich der pornographische Zettel einen bunten Strauß von Verständigungsversuchen.
Wollte man die bekannten Chronisten amerikanischer Gefühlslagen in „weiche” Neurosen- und „harte” Psychosenspezialisten einteilen, läge Benjamin Anastas irgendwo in der Mitte: zwischen der Familiensaga im Stil von Jonathan Franzen und den durchgeknallten Szenarien eines Douglas Coupland. Anastas bleibt auf dem Teppich des realistischen Erzählens, hat aber den Mut zum artistischen Schnörkel. Die boshaft beschriebenen Charaktere streifen zwar das Vorstadt-Stereotyp, können aber das traurige Dilemma ihrer unmöglichen Lieben überzeugend vorführen. Mag der Pastor verschwunden sein – von seinem Autor wünscht man sich ein baldiges Wiederauftauchen.
JUTTA PERSON
BENJAMIN ANASTAS: Die wahre Geschichte vom Verschwinden eines Pastors. Roman. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2003. 352 Seiten24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2003

Liebe, jetzt und hier!
Neuenglische Seelsorge: Benjamin Anastas läßt die Kirche im Dorf

Pastor Thomas Mosher war ein guter Hirte und zu Recht beliebt. Anders als seine Stellvertreterin, eine hysterische feministische Lesbe, oder sein Vorgänger, ein knorriger Konservativer, hat er seine Gemeinde nicht gespalten, sondern mit linkischem Sanftmut und gelebtem Glauben versöhnt. Mag sich auch die kryptorassistische Maklerin Margaret Howard an seiner schwarzen Hautfarbe stoßen: Die meisten Frauen haben seine Predigten und Hausbesuche beinahe mehr genossen, als Gott erlaubte. Der Reverend hat verlorene Schäflein in den Schoß der Kirche (oder wenigstens in die Meditations-, Montagsgesprächs- und Donnerstagsputzgruppen) zurückgeführt, die spiritueller Leere frustrierter Hausfrauen mit Trost und Rat gefüllt und dabei zölibatär und spartanisch wie ein Einsiedler gelebt. Aber immer nur "auf dem Pastorenstuhl zu sitzen, mitfühlend dreinzuschauen und im rechten Moment die Kleenex-Box zu reichen" reicht einem gottesfürchtigen Melancholiker auf die Dauer auch nicht. Mosher ist nicht Pastor Fliege; aber auch er will die "Liebe im Hier und Jetzt" nicht nur predigen.

Bethany Caruso ist keine heilige Jungfrau, aber doch auch keine schlechte Mutter. Mit Geduld und Galgenhumor ertrug sie ihren langweiligen Bürojob, klatschende Nachbarn, zwei anstrengende Kinder und sogar ihren Mann, der seine Hippieträume von Sex im Wasserbett immer noch nicht begraben will. Beth mußte den lüsternen Kindskopf aus dem Schlafzimmer verbannen und ihre Depressionen mit Wohlfühlpillen, Chardonnay und gelegentlichen Joints abfedern. Aber "Mother's little Helpers" halfen nicht gegen Ennui und puritanische Bigotterie, und so entdeckte die Madame Bovary von Neuengland die Kirche als Fluchtraum und Thomas als Erlöser. Mit platonischer Caritas und heimlicher Anbetung gibt sich eine wie sie nicht zufrieden.

Reformationen beginnen oft mit Thesenanschlägen; Beth heftet anonym einen Zettel ans Portal der Pilgrim's Congregational Church, der die Gemeinde zu Donner rührt: "Lieber Rev. Mosher, ich stecke in einer Zwickmühle. In ihre Kirche zu kommen macht mich richtig fickrig. Würden Sie am Sonntag nach der Predigt mit mir vögeln?" Niemand werfe den ersten Stein: Das obszöne Angebot ist ein Hilferuf aus tiefer Not, die Affäre, die mit seelsorgerischen Gesprächen anhebt und mit verstohlenen Quickies zwischen Pfarrhaustür und Kirchenanger endet, ein "Kompromiß zweier Verzweifelter". Angst vor Entdeckung, Scham- und Schuldgefühle sind keine Aphrodisiaka, und der Pastor ist durchaus kein umwerfender Liebhaber: Aber in seinem Bett lernt Beth beten und Gottes Liebe kennen. Für die "medikamentös aufgehellte Agnosterikerin" wird das Opium des Volks zur Ersatzdroge, und anders als Beths Hausdealer, Margarets mißratener Sohn, ist der Mann Gottes jedenfalls kein teuflischer Erpresser.

Aber der Pastor ist nach einer fulminanten Predigt über die "Ausdrucksformen der Liebe" und die Kugelgestalt Gottes spurlos verschwunden. Das verklärt ihn in einer als Paradies getarnten Hölle von Egoismus, Materialismus und Geilheit erst recht zum Messias. Die rätselhafte Fahnenflucht des Reverends ist der Katalysator, der in Benjamin Anastas' tragikomischem Roman persönliche, familiäre und soziale Klärungsprozesse in Gang setzt: In seinem Namen werden die Zöllner von den Pharisäern, die lauen Freunde von den barmherzigen Samaritern geschieden, Freundschaften gekündigt, alte Rechnungen beglichen und zerrüttete Ehen geheilt. Am Ende wird Beth ihrem Geliebten unter Schmerzen entsagen, sich mit ihren Kindern und ihrer siechen Mutter aussöhnen - und vielleicht sogar Bobby, der lustlos im Hobbykeller masturbiert, aber die Versuchung durch das schwedische Kindermädchen abweist, wieder der Gnade von Tisch und Bett teilhaftig werden lassen.

Der vierunddreißigjährige Amerikaner Benjamin Anastas hat in seinem zweiten Roman den literarisch und religiös reich gedüngten Boden seiner Heimat Massachusetts auf fruchtbare und oft hochkomische Weise neu beackert. Seine "wahre Geschichte" ist eine Fortschreibung von Hawthornes "Scharlachrotem Buchstaben" ins Zeitalter von Nintendo, Psychotherapie und "Kirche von unten". Wie damals gewinnt der ehebrecherische Pfarrer durch Zweifel und Zerknirschung nur an Glaubens- und missionarischer Überzeugungskraft; allerdings bricht er bei Hawthorne in "triumphaler Schande" tot auf dem Pranger zusammen, während er hier, bar jeder dramatischen Apotheose, ins Nichts wegdriftet.

Wenn Anastas die spirituelle Wüste neuenglischer Mittelstandsfamilien mit sexuellen Körpersäften und göttlicher Ironie bewässert, wildert er natürlich in John Updikes Revier. Er kann seinem großen Konkurrenten das Weihwasser reichen: Selten ist der liberal aufgeklärte, politisch korrekte Puritanismus der Wasps in der Epoche von Bill Clinton mit so viel satirischem Witz, bibelfester Melancholie und erzählerischer Brillanz beschrieben worden. Anastas verfügt über einen präzisen, sardonischen Humor, aber er denunziert niemanden und verzeiht alles, und diese frohe Botschaft klingt manchmal doch ein wenig nach Pastor Fliege. Nicht nur, daß die konsum- und kulturkritischen Abschweifungen und der barocke Detailrealismus seiner Vorstadtsoziologie hin und wieder ermüden: Das Happy-End ist eine ziemlich sentimental erpreßte Versöhnung. Alle bleiben einsam und verloren hienieden, aber zumindest sind sie, wie so oft im neueren amerikanischen Roman, "immer noch eine Familie und nicht allein auf der Welt".

Aber selbst wenn Anastas sein satirisches Sittenbild hin und wieder zum Melodram verrutscht und ihm neben hinreißenden Porträts auch Karikaturen und Klischees unterlaufen, fühlt man sich doch schon nach wenigen Seiten wie zu Hause in diesem heimeligen Städtchen. Der Pastor ist weg, aber die Kirche und die Sehnsucht nach Transzendenz bleiben im Dorf.

MARTIN HALTER

Benjamin Anastas: "Die wahre Geschichte vom Verschwinden eines Pastors". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2003. 352 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Ein herzliches Lob von Ulrich Greiner, dem die tragisch-komische Geschichte eines in eine Ehebruch-Affäre verwickelten Pastors in Massachusetts außerordentlich gefallen hat. Greiner spricht von "Kunstgriff" und "Kunst": ersteres ist das Verschwinden des Pastors, dessen Person im Folgenden durch die Brille einiger unglücklicher Frauen der Gemeinde charakterisiert - oder fantasiert - wird, das andere die "für amerikanische Verhältnisse ungewöhnliche ästhetische Form", das heißt, es gibt weder lange Dialoge noch ein Aneinanderreihen kurzer Sätze. Im Gegenteil gelingt es dem jungen "Erzähltalent", schreibt Greiner, durch "lange Sätze, die sich selbst ins Wort fallen", durch eine dadurch entstehende reflexive Ebene und elegante Konstruktion, das an sich wenig originelle Thema allseitiger Abhängigkeiten einer Kirchengemeinde im ländlichen Amerika neu zum Glänzen zu bringen.

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