Der Geschichtswissenschaft, und nicht nur ihr, ist unmerklich der Begriff der Wahrheit abhandengekommen, und mit ihm auch derjenige von Tatsache und Quelle. Über die Rankesche Absicht, lediglich zu sagen, wie es eigentlich gewesen, lächeln die Kenner. Wenn alles Text ist und alles Rhetorik, wenn man nicht mehr wissen will, was war, sondern nur noch, wie darüber geredet wurde, wenn vorgeblich die Beobachtung das Beobachtete schafft und alle Erinnerung irreparabel alles verfälscht, dann verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion, geht die Wirklichkeit verloren, gilt nicht mehr Demut, sondern nur noch Deutungshoheit. Historiker sollten dann lieber gleich Romane schreiben. Dabei ist wahr/nicht wahr der Code und das Gesetz aller Wissenschaft. Es ist also zu fragen, ob nicht vor lauter Selbstkritik und Komplexitätsfreude einiges Grundsätzliche vergessen wurde. Es ist leicht, sich über den Erkenntnisoptimismus der "Positivisten" des 19. und 20. Jahrhundert lustig zu machen, aber das enthebt keineswegs davon, sich (oft mit ihrer Hilfe) um die Richtigkeit der Fakten zu bemühen, auch wenn diese nur ein Gerüst liefern können, mit dessen Hilfe der phantasiebegabte Historiker die Vergangenheiten rekonstruiert - das Konstruieren muß und darf er indes den Dichtern überlassen. Der vorliegende Essay verschafft Überblick über eine seit mehr als hundert Jahren währende, überaus aktuelle Diskussion, die an die Grundfesten der Geschichtswissenschaft rührt, und lädt dazu ein, zu Vernunft und Augenmaß zurückzufinden, damit Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung sich nicht so weit vom menschlichen Leben und Erleben entfernen, daß sie schließlich niemanden mehr interessieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2011Die Wahrheit aus der Zeitung
Um mit der Wahrheit ins Haus zu fallen: Wir dürfen dieses Buch (Werner Paravicini: "Die Wahrheit der Historiker". R. Oldenbourg Verlag, München 2010. 94 S., geb., 29,80 [Euro]) nicht rezensieren.
Werner Paravicini, der langjährige Direktor des Deutschen Historischen Instituts Paris, hat gelehrten Ruhm mit Forschungen über die inner- und gemeineuropäischen Kreuzzüge gegen die heidnischen Urpreußen erworben und ist selbst zum Kreuzzügler geworden. Er zieht zu Felde gegen die Wahrheitsvergessenheit seiner zum Konstruktivismus bekehrten Fachgenossen. Das Motto der Streitschrift könnte lauten: Clio vult! Die Muse der Geschichtsschreibung hat nicht viel übrig für bestrickende Erzähler, die pikante Anekdoten im Zweifel erfinden. Diese Herren mögen sich bitte an ihre Schwestern halten. Klio will die Wahrheit in Erfahrung gebracht sehen und liebt daher die tapferen Arbeiter, die hinaus ins feindliche Archiv gehen und nicht wissen, ob sie vor Erreichen der Emeritierungsgrenze zurückkehren werden.
Paravicini demonstriert, dass der Historiker selbst in einer Abhandlung zur Methode aus einer Überfülle von Belegen schöpfen kann. Sein Büchlein hat zehnmal so viele Anmerkungen wie Textseiten. Leider hat der Verlag der "Historischen Zeitschrift" sich durch Paravicinis Klage über die Verbannung der Fußnoten im modernen Buchwesen nicht beeindrucken lassen; unten auf den Seiten wäre augenfällig geworden, dass die 380 Anmerkungen das Fundament der Argumentation sein sollen. Sie bieten den Grundstoff historischer Darstellungen: vermischte Meldungen, faits divers, Zeitungsnotizen - fast ausschließlich aus dieser Zeitung.
Der Autor will für seine erkenntnistheoretische Botschaft, dass man den alten Ranke noch nicht für tot erklären soll, wissenssoziologische Evidenz schaffen. Er deutet die Ausbreitung der Überzeugung, dass der Historiker es nicht mit Sachen und Ereignissen zu tun habe, als Mode, die von den Produktionsbedingungen heutiger Wissenschaft begünstigt wird. Die Verlagerung der Aktivität von Monographien und Editionen auf Studienbücher und Projektanträge macht den praktizierenden, das heißt heute: den von der Praxis abgelenkten Historiker empfänglich für die Offenbarung, dass er nichts finden kann, sondern erfinden muss. In unseren Berichten aus dem Tagungsunwesen im weiten Feld der Exzellenz entdeckte Paravicini die Apologie einer Alltagsvernunft, die den Vorwurf der Naivität nicht scheut, wenn sie erwartet, dass Historiker sich um die Klärung tatsächlicher Zusammenhänge bemühen. Und so erscheinen neben verewigten und lebenden Klassikern wie Burckhardt, Huizinga, Heimpel und Esch Autoritäten wie Kaube, Geyer, Jäger, Jungen und Hirschi, Friederike und Edo Reents sowie Wolfgang Joop im Gespräch mit Swantje Karich. Aus der allerersten Ausgabe dieser Zeitung wird die Absicht zitiert, eine "neue Art Zeitung" zu schaffen. "Für sie müsste die Wahrheit der Tatsachen heilig sein."
An dieser Stelle müsste eine Rezension ansetzen und eine Historisierung des Wahrheitsbegriffs anmahnen. Aber wir dürfen sie nicht schreiben, um nicht den Verdacht zur Gewissheit zu machen, auch uns gehe es - gemäß dem Hinweis in Anmerkung 32 auf Bahners 2009 - mehr um Netzwerkbildung als um die Wahrheit.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Um mit der Wahrheit ins Haus zu fallen: Wir dürfen dieses Buch (Werner Paravicini: "Die Wahrheit der Historiker". R. Oldenbourg Verlag, München 2010. 94 S., geb., 29,80 [Euro]) nicht rezensieren.
Werner Paravicini, der langjährige Direktor des Deutschen Historischen Instituts Paris, hat gelehrten Ruhm mit Forschungen über die inner- und gemeineuropäischen Kreuzzüge gegen die heidnischen Urpreußen erworben und ist selbst zum Kreuzzügler geworden. Er zieht zu Felde gegen die Wahrheitsvergessenheit seiner zum Konstruktivismus bekehrten Fachgenossen. Das Motto der Streitschrift könnte lauten: Clio vult! Die Muse der Geschichtsschreibung hat nicht viel übrig für bestrickende Erzähler, die pikante Anekdoten im Zweifel erfinden. Diese Herren mögen sich bitte an ihre Schwestern halten. Klio will die Wahrheit in Erfahrung gebracht sehen und liebt daher die tapferen Arbeiter, die hinaus ins feindliche Archiv gehen und nicht wissen, ob sie vor Erreichen der Emeritierungsgrenze zurückkehren werden.
Paravicini demonstriert, dass der Historiker selbst in einer Abhandlung zur Methode aus einer Überfülle von Belegen schöpfen kann. Sein Büchlein hat zehnmal so viele Anmerkungen wie Textseiten. Leider hat der Verlag der "Historischen Zeitschrift" sich durch Paravicinis Klage über die Verbannung der Fußnoten im modernen Buchwesen nicht beeindrucken lassen; unten auf den Seiten wäre augenfällig geworden, dass die 380 Anmerkungen das Fundament der Argumentation sein sollen. Sie bieten den Grundstoff historischer Darstellungen: vermischte Meldungen, faits divers, Zeitungsnotizen - fast ausschließlich aus dieser Zeitung.
Der Autor will für seine erkenntnistheoretische Botschaft, dass man den alten Ranke noch nicht für tot erklären soll, wissenssoziologische Evidenz schaffen. Er deutet die Ausbreitung der Überzeugung, dass der Historiker es nicht mit Sachen und Ereignissen zu tun habe, als Mode, die von den Produktionsbedingungen heutiger Wissenschaft begünstigt wird. Die Verlagerung der Aktivität von Monographien und Editionen auf Studienbücher und Projektanträge macht den praktizierenden, das heißt heute: den von der Praxis abgelenkten Historiker empfänglich für die Offenbarung, dass er nichts finden kann, sondern erfinden muss. In unseren Berichten aus dem Tagungsunwesen im weiten Feld der Exzellenz entdeckte Paravicini die Apologie einer Alltagsvernunft, die den Vorwurf der Naivität nicht scheut, wenn sie erwartet, dass Historiker sich um die Klärung tatsächlicher Zusammenhänge bemühen. Und so erscheinen neben verewigten und lebenden Klassikern wie Burckhardt, Huizinga, Heimpel und Esch Autoritäten wie Kaube, Geyer, Jäger, Jungen und Hirschi, Friederike und Edo Reents sowie Wolfgang Joop im Gespräch mit Swantje Karich. Aus der allerersten Ausgabe dieser Zeitung wird die Absicht zitiert, eine "neue Art Zeitung" zu schaffen. "Für sie müsste die Wahrheit der Tatsachen heilig sein."
An dieser Stelle müsste eine Rezension ansetzen und eine Historisierung des Wahrheitsbegriffs anmahnen. Aber wir dürfen sie nicht schreiben, um nicht den Verdacht zur Gewissheit zu machen, auch uns gehe es - gemäß dem Hinweis in Anmerkung 32 auf Bahners 2009 - mehr um Netzwerkbildung als um die Wahrheit.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im etwas paradoxen Genre der besprechenden Nicht-Besprechung eines Buchs übt sich hier FAZ-Feuilletonchef Patrick Bahners. Die Grundtendenzen des Buches von Werner Paravicini stellt er durchaus vor: Es handelt sich um eine Streitschrift gegen den Konstruktivismus, der auch bei den Historikern inzwischen Einzug gehalten hat - die Einsicht also, dass auch historische "Wahrheiten? nicht ohne den Blick auf die narrativen und anderen Konventionen, denen die Geschichtserzählung folgt, zu haben sind. Bahners sieht die Thesen Paravicinis durchaus kritisch, kommt dann aber auf den Grund, aus dem das Buch für die FAZ nicht rezensierbar ist. Paravicini stützt sich in seinen (hunderten) Anmerkungen fast vollständig auf Artikel und Belege aus dem FAZ-Feuilleton. Darum verbietet sich die Besprechung, wolle die FAZ nicht den Eindruck erwecken, dass es ihr "mehr um Netzwerkbildung als um die Wahrheit? gehe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"In einem Atemzuge gelesen, ein Vergnügen für einen langen Nachmittag; Seite für Seite studiert und durchgearbeitet, kaum weniger als ein Kompendium geschichtstheoretischer Positionen der vergangenen Generationen. Ein großes, dabei schmales Buch!" Thomas Vogtherr, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 129 "Der Herold ist Werner Paravicini (...) dankbar, dass er sich der überfälligen Debatte stellt, in der er unermüdlich betont, dass Historiker finden und nicht erfinden sollten. Schließlich bleibt er 'Sklave seines Dokuments' (Marc Bloch). Andernfalls wäre die Geschichtsschreibung kaum den Aufwand wert, den sie betreibt." Eckart Henning, Herold-Jahrbuch, 16.Band(2011)