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Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch
  • Verlag: Suhrkamp
  • Abmessung: 177mm x 108mm x 12mm
  • Gewicht: 139g
  • ISBN-13: 9783518387832
  • Artikelnr.: 24399444
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.1995

Gottesmord
Vargas Llosas wahre Lügen Von Max Grosse

Man stelle sich vor, hierzulande brächte ein bekannter Autor, sagen wir Günter Grass, Martin Walser oder vielleicht auch Botho Strauß, einen Essayband heraus, der auf die kulturellen und politischen Debatten im deutschen Sprachraum höchstens beiläufig Bezug nähme, weil er ausschließlich Aufsätze zur spanischen, portugiesischen und lateinamerikanischen Literatur enthielte. Unwahrscheinlich? Unvorstellbar? Unmöglich? Eben, eben. Nichts wirft ein helleres Licht auf den Kosmopolitismus der führenden lateinamerikanischen Schriftsteller als das Scheitern des Versuches, den Spieß einmal umzudrehen und ihren deutschen Kollegen versuchsweise einen intellektuellen Horizont von ähnlicher geographischer Weite anzusinnen. Allerdings ist Weltläufigkeit häufig auch eine aus der Not der Emigration geborene Tugend: Kolonialisierung, Diktatur und Unterentwicklung haben Paris, Madrid, New York und London zu Hauptstädten der lateinamerikanischen Literatur werden lassen.

Auch Mario Vargas Llosa befindet sich wieder einmal im europäischen Exil; die meisten seiner unter dem paradoxen Titel "Die Wahrheit der Lügen" versammelten Versuche zum modernen Roman sind gegen Ende der achtziger Jahre in London entstanden. Stets hat der grandiose Geschichtenerzähler sich auch auf den Nebenkriegsschauplätzen der politischen Publizistik und der Literaturkritik getummelt; davon zeugen neben den drei dicken Aufsatzbänden "Gegen Wind und Wetter" vor allem die Studien zu Flaubert.

Deren Grundgedanken führt der hier anzuzeigende Band weiter, variiert und erprobt sie an fünfundzwanzig Werken der Erzählkunst von der Kurzgeschichte bis zum welterschaffenden großen Roman, von denen offenbar mit Bedacht keines dem iberoromanischen Kulturkreis entnommen ist. Cervantes und Borges, Carpentier und Lezama Lima tauchen nur gelegentlich am Horizont der Überlegungen auf. Zum Beispiel enthält die Überschrift "Dirne, Philosophin und Sentimentale" zum Artikel über Moravias "Die Römerin" eine augenzwinkernde Anspielung auf die von Valle-Inclán erdachte Reinkarnation Don Juans, den Marquis von Bradomín, der als "häßlich, katholisch und sentimental" chrarakterisiert worden war.

Als Kritiker analysiert der Romancier angelsächsische, deutsche, französische, italienische, japanische, russische Bücher, die in zeitlicher Folge von Thomas Manns "Tod in Venedig" (1911) bis zu Hemingways "Paris - ein Fest fürs Leben" (1964) reichen. Die einzelnen Essays überschreiten nie die Grenzen von zehn Druckseiten. Sie vereinen, was zumal in Deutschland selten nur zusammenfindet, bewundernswerte Bildung mit bewundernswertem Takt bei der Ausbreitung von deren Früchten. Wenn er ein Werk nicht in der Originalsprache gelesen hat, was bei den russischen, japanischen und deutschen en der Fall ist, dann merkt er das ausdrücklich an und urteilt über Stilistisches nur unter Vorbehalt. Zwar hält Vargas Llosa mit seinen notwendigerweise subjektiven Meinungen und Wertungen ebensowenig wie mit seinen persönlichen Erfahrungen hinter dem Berg, aber die Bücher sind ihm nie bloßer Vorwand, die eigenen Gedanken ins Rollen zu bringen.

Mittlerweile sind selbst die jüngsten der besprochenen Romane drei Jahrzehnte alt und damit vor 1965 erschienen, als Vargas Llosa mit seinem eigenen Roman "Das grüne Haus" den internationalen Durchbruch schaffte. So kommt der Kritiker nicht in die Lage, sich über seine unmittelbaren Konkurrenten auszulassen. Außerdem schadet der zeitliche Abstand nicht der Aktualität, sondern nützt der Reflexion, da der ersten Lektüre viele Jahre später eine zweite, mit zusätzlicher Lese- und Lebenserfahrung angereicherte folgen kann. So werden in dem Essay zu Hemingways Paris-Roman ein im Erscheinungsjahr 1964 und ein 1987 aus der Rückschau verfaßter Teil schroff gegeneinander montiert. Der junge, gerade in Paris lebende Vargas Llosa identifiziert sich begeistert mit dem jungen Hemingway. Der älter gewordene Vargas Llosa hingegen distanziert sich von dem machistischen Draufgänger, um für den alten verbrauchten Schriftsteller Sympathie zu empfinden, der in einer allerletzten Anstrengung die Enttäuschungen des Lebens durch die Kraft der Fiktion überwinden will.

Den Vorwurf der Lüge, den einst die spanische Inquisition den Fiktionen machte, wendet Vargas Llosa ins Positive: Der Roman wurzelt für ihn nicht in einem von der Lebenswirklichkeit abgehobenen Spiel, sondern im Zorn über die Unvollkommenheit der wirklichen Welt und in einer Sehnsucht nach Wunscherfüllung, die den Romancier zur Rivalität mit Gott antreibt, wie es in dem Hymnus auf die Blechtrommel heißt: "Auch im Zeitalter der großen Kinoerzählungen kann der Roman ein Gottesmord sein, kann er eine so genaue und umfassende Rekonstruktion der Wirklichkeit anbieten, daß er in Wettstreit zum Schöpfer zu treten scheint, denn er nimmt auseinander, was dieser schuf, und setzt es - in berichtigter Form - wieder zusammen."

Mario Vargas Llosa: "Die Wahrheit der Lügen". Essays zur Literatur. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994. 211 S., br. 16,80 DM.

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