Blickt man auf die Entwicklung Russlands unter Putin, dann erscheint der Angriff auf die Ukraine nicht überraschend. Seit dem «Anschluss» der Krim erfindet sich Russland neu: als eine Großmacht, die chauvinistisch spricht und aggressiv handelt. Das sagt Golineh Atai, die für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie erklärt die tieferen Gründe für eine Politik, die im Westen vielfach kaum wahrgenommen, in falsche Vergleiche heruntergebrochen oder einfach verdrängt wird. Die Wahrheit ist: Russland sieht sich im Krieg. Und Russlands Aggression existiert darüber hinaus auch in alten und neuen globalen Medien, im Cyberspace, im Wirtschaftsraum. Eine der besten Kennerinnen Russlands erklärt, warum Russland die globale Ordnung offen herausfordert - in einer Zeit, in der die Fortdauer ebendieser Ordnung ungewiss ist.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sofia Dreisbach empfiehlt dieses Buch der ehemaligen Moskau-Korrespondentin der ARD, Golineh Atai, als erhellenden Einblick in die russische Propaganda-Maschinerie. Auf der Grundlage "akribischer" Recherche kann die Autorin einen Teil der vom Kreml in Umlauf gebrachten Mythen und Falschmeldungen widerlegen, auch wenn Atai selbst bekennt, sie sei angesichts der Menge erfundener Geschichten kaum nachgekommen. In den hier analysierten Jahren 2011 bis 2019 entdeckt die Kritikerin allerdings schon einen ganzen Haufen Putin'scher Geschichtsverfälschungen: So liest sie etwa nach, dass in den seit 2015 erscheinenden russischen Schulbüchern behauptet werde, ohne Stalin hätte es den "überragenden Sieg" im Großen Vaterländischen Krieg nicht gegeben. Auch Putins Narrative hinsichtlich der Krim- und Syrienpolitik oder den Nervengift-Anschlag in Salisbury kann Atai systematisch sezieren, erkennt die Kritikerin. Nicht zuletzt geben Atais Gespräche mit russischen Wissenschaftlern oder ehemaligen Angestellten russischer Troll-Fabriken Aufschluss über Putins Propaganda-System, schließt Dreisbach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2019Russland befindet sich de facto im Krieg
Täglich frische Mythen aus dem Kreml: Golineh Atai seziert die Propagandamaschine Putins
Wladimir Putin ist seit zwanzig Jahren an der Macht. 1999 wurde der unbekannte Quereinsteiger und ehemalige Geheimdienstler überraschend Ministerpräsident. Dann war er acht Jahre lang Präsident, wieder Ministerpräsident, und nun ist Putin in seiner vierten Amtszeit russisches Staatsoberhaupt. Er hat eine Ideologie zementiert, die in der Innenpolitik und der Außenpolitik zur Richtschnur geworden ist. Für die Annexion der Krim gilt sie genauso wie für die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf, für den Krieg in der Ostukraine ebenso wie für die russische Beteiligung am Krieg in Syrien. Es ist eine "Ideologie der globalen Revanche": Imperialnationalisten bestimmen den politischen Diskurs und schüren die beständige Angst vor einer Bedrohung durch den Westen. Putin gibt sich als der "neue globale Anführer der Konservativen" - im Kampf gegen Feminismus, Homosexuellenrechte und "Chaos".
Mit welchen Mitteln Putin Russland in den vergangenen Jahren neu erfunden hat, beschreibt Golineh Atai in ihrem akribisch recherchierten und lesenswerten Buch bis ins kleinste Detail. Sie war bis 2018 fünf Jahre lang ARD-Korrespondentin in Moskau und wurde 2014 für ihre Berichterstattung über die Ukraine-Krise als "Journalistin des Jahres" ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede sagte sie damals im ersten Jahr des Krieges in der Ostukraine, die meisten Journalisten in Russland begriffen sich "mittlerweile als Informationskrieger" - "und sie sehen auch mich als Informationskriegerin an".
Atai sagte, sie habe sich vorgenommen, "einfach Stück für Stück die tausend erfundenen Geschichten, Verdrehungen und Verschleierungen" zu widerlegen, die jeden Tag vom Kreml produziert würden. "Aber ich komme nicht nach."
In vier Kapiteln über die Jahre 2011 bis 2019 demontiert Atai die russischen Narrative zu den großen Themen dieser Zeit. Sie beschreibt, wie Putin die Wahrheit kontrolliert und "Erzählungen" vorgibt, "die das einheimische und ausländische Publikum an den Fakten zweifeln lassen". Die hauptsächlichen Waffen des russischen Präsidenten: Informationsmanagement und Medienkontrolle, Mythen, die russisch-orthodoxe Kirche und die "russische Geschichte". So forderte Putin eine Neuauflage der Geschichtsbücher unter der Prämisse, sie sollten die Liebe für und den Stolz auf das Vaterland fördern und Respekt für die Vergangenheit lehren.
In den 2015 erschienenen Schulbüchern wird Stalins Großer Terror zwar nicht verschwiegen, doch der Tenor lautet: Ohne Stalin gäbe es den überragenden Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nicht, der neuerdings wieder im Selbstverständnis der Russen zementiert ist. "Mehrdeutigkeiten machen keine guten Mythen", schreibt Atai. "Und nur mit Mythen kann Protest und Demonstrationen gegen die Regierung vorgebeugt werden." Gleiches gilt für die Annexion der Krim. Nach dem "Referendum" zur "Wiedervereinigung der Krim mit Russland" im Februar 2014 zog Putin Vergleiche zur deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 - suggerierend, die Halbinsel hätte nach 1991 zur Russischen Föderation gehört.
Eine genaue Analyse würde das Narrativ der Zugehörigkeit nur stören, aber genau da setzt die Autorin Atai an, wenn sie zeigt, wie die Krim dem Zarenreich und später der Sowjetunion einverleibt wurde. Schon der exakte historische Rekurs zeigt, dass der Kreml Falschinformationen verbreitet. Es schmerzt die Autorin, dass die von Russland exzessiv betriebene Taktik der Desinformation auch in westlichen Ländern fruchtet. So teilten etliche ihrer Bekannten in den sozialen Medien fragwürdige russische Quellen, und Redaktionen fehle oft die Zeit, den floskelartigen und nachweislich falschen Dementis des Kremls eigene Nachforschungen entgegenzusetzen. "Die grundsätzliche Frage, wie in einem Informationskrieg Lügen einer Staatsführung berichtet, dargestellt, aufgedeckt werden können, wird nicht gestellt."
Eine systematische Entflechtung der Putin'schen Lügengebilde, wie sie Atai betreibt - sei es etwa in Bezug auf die Krim, auf Syrien oder auf den Nervengift-Anschlag in Salisbury -, bringt dagegen die erschreckende Willkür zu Tage, die in Russland herrscht, sei es in der Strafverfolgung, in den Medien, im Internet und in der Wirtschaft. Atai lässt immer wieder auch Menschen zu Wort kommen, die sie in ihrer Zeit als Korrespondentin getroffen hat. Neben Wissenschaftlern etwa ehemalige Angestellte der sogenannten Troll-Fabrik in Sankt Petersburg, von der aus massenhaft Falschinformationen im Netz gestreut werden.
Über Putin-Kritiker schreibt Atai: "Niemand ist sicher. Jeden kann es erwischen." Doch sie ist an keiner Stelle alarmistisch oder polemisch, jede ihrer Behauptungen untermauert sie mit Beispielen. Russland sehe sich de facto im Krieg. Im Grunde sei es sehr einfach: "Eine Weltmacht hat einen Kampf um Macht und Einfluss verloren. Sie will ihren verloren gegangenen Rang zurück - und macht dabei die gleichen Fehler, die einst zum Zusammenbruch seiner Führung und Einflusssphäre führten." Zwar nehme die Zufriedenheit der Bevölkerung mit Putin ab, und die anfängliche Begeisterung über Russlands Einmischung in der Ukraine schwinde, Atai hält es dennoch für unwahrscheinlich, dass nach Dutzenden gesetzlichen Einschränkungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit in den vergangenen Jahren bald eine Zeit offener Debatten anbrechen könnte.
Die Proteste gegen den Ausschluss von Kandidaten zur Wahl des Moskauer Stadtparlaments im September hat sie in ihrem Buch nicht mehr berücksichtigen können. Zehntausende gingen in den vergangenen Wochen trotz Verbots auf die Straßen, und das, obwohl die politischen Anführer der Demonstrationen zu großen Teilen (und aus vorgeschobenen Gründen) Arreststrafen absitzen. Das könnte Hoffnung auf eine Veränderung in Russland machen. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte und die mehr als tausend Verhaftungen untermauern dann allerdings wieder Atais Skepsis: "Viele Beobachter sehen in . . . autoritären Reflexen auf die Punktsiege der Liberalen eine typische Taktik des Kreml."
SOFIA DREISBACH
Golineh Atai: "Die Wahrheit ist der Feind". Warum Russland so anders ist.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019. 384 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Täglich frische Mythen aus dem Kreml: Golineh Atai seziert die Propagandamaschine Putins
Wladimir Putin ist seit zwanzig Jahren an der Macht. 1999 wurde der unbekannte Quereinsteiger und ehemalige Geheimdienstler überraschend Ministerpräsident. Dann war er acht Jahre lang Präsident, wieder Ministerpräsident, und nun ist Putin in seiner vierten Amtszeit russisches Staatsoberhaupt. Er hat eine Ideologie zementiert, die in der Innenpolitik und der Außenpolitik zur Richtschnur geworden ist. Für die Annexion der Krim gilt sie genauso wie für die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf, für den Krieg in der Ostukraine ebenso wie für die russische Beteiligung am Krieg in Syrien. Es ist eine "Ideologie der globalen Revanche": Imperialnationalisten bestimmen den politischen Diskurs und schüren die beständige Angst vor einer Bedrohung durch den Westen. Putin gibt sich als der "neue globale Anführer der Konservativen" - im Kampf gegen Feminismus, Homosexuellenrechte und "Chaos".
Mit welchen Mitteln Putin Russland in den vergangenen Jahren neu erfunden hat, beschreibt Golineh Atai in ihrem akribisch recherchierten und lesenswerten Buch bis ins kleinste Detail. Sie war bis 2018 fünf Jahre lang ARD-Korrespondentin in Moskau und wurde 2014 für ihre Berichterstattung über die Ukraine-Krise als "Journalistin des Jahres" ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede sagte sie damals im ersten Jahr des Krieges in der Ostukraine, die meisten Journalisten in Russland begriffen sich "mittlerweile als Informationskrieger" - "und sie sehen auch mich als Informationskriegerin an".
Atai sagte, sie habe sich vorgenommen, "einfach Stück für Stück die tausend erfundenen Geschichten, Verdrehungen und Verschleierungen" zu widerlegen, die jeden Tag vom Kreml produziert würden. "Aber ich komme nicht nach."
In vier Kapiteln über die Jahre 2011 bis 2019 demontiert Atai die russischen Narrative zu den großen Themen dieser Zeit. Sie beschreibt, wie Putin die Wahrheit kontrolliert und "Erzählungen" vorgibt, "die das einheimische und ausländische Publikum an den Fakten zweifeln lassen". Die hauptsächlichen Waffen des russischen Präsidenten: Informationsmanagement und Medienkontrolle, Mythen, die russisch-orthodoxe Kirche und die "russische Geschichte". So forderte Putin eine Neuauflage der Geschichtsbücher unter der Prämisse, sie sollten die Liebe für und den Stolz auf das Vaterland fördern und Respekt für die Vergangenheit lehren.
In den 2015 erschienenen Schulbüchern wird Stalins Großer Terror zwar nicht verschwiegen, doch der Tenor lautet: Ohne Stalin gäbe es den überragenden Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nicht, der neuerdings wieder im Selbstverständnis der Russen zementiert ist. "Mehrdeutigkeiten machen keine guten Mythen", schreibt Atai. "Und nur mit Mythen kann Protest und Demonstrationen gegen die Regierung vorgebeugt werden." Gleiches gilt für die Annexion der Krim. Nach dem "Referendum" zur "Wiedervereinigung der Krim mit Russland" im Februar 2014 zog Putin Vergleiche zur deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 - suggerierend, die Halbinsel hätte nach 1991 zur Russischen Föderation gehört.
Eine genaue Analyse würde das Narrativ der Zugehörigkeit nur stören, aber genau da setzt die Autorin Atai an, wenn sie zeigt, wie die Krim dem Zarenreich und später der Sowjetunion einverleibt wurde. Schon der exakte historische Rekurs zeigt, dass der Kreml Falschinformationen verbreitet. Es schmerzt die Autorin, dass die von Russland exzessiv betriebene Taktik der Desinformation auch in westlichen Ländern fruchtet. So teilten etliche ihrer Bekannten in den sozialen Medien fragwürdige russische Quellen, und Redaktionen fehle oft die Zeit, den floskelartigen und nachweislich falschen Dementis des Kremls eigene Nachforschungen entgegenzusetzen. "Die grundsätzliche Frage, wie in einem Informationskrieg Lügen einer Staatsführung berichtet, dargestellt, aufgedeckt werden können, wird nicht gestellt."
Eine systematische Entflechtung der Putin'schen Lügengebilde, wie sie Atai betreibt - sei es etwa in Bezug auf die Krim, auf Syrien oder auf den Nervengift-Anschlag in Salisbury -, bringt dagegen die erschreckende Willkür zu Tage, die in Russland herrscht, sei es in der Strafverfolgung, in den Medien, im Internet und in der Wirtschaft. Atai lässt immer wieder auch Menschen zu Wort kommen, die sie in ihrer Zeit als Korrespondentin getroffen hat. Neben Wissenschaftlern etwa ehemalige Angestellte der sogenannten Troll-Fabrik in Sankt Petersburg, von der aus massenhaft Falschinformationen im Netz gestreut werden.
Über Putin-Kritiker schreibt Atai: "Niemand ist sicher. Jeden kann es erwischen." Doch sie ist an keiner Stelle alarmistisch oder polemisch, jede ihrer Behauptungen untermauert sie mit Beispielen. Russland sehe sich de facto im Krieg. Im Grunde sei es sehr einfach: "Eine Weltmacht hat einen Kampf um Macht und Einfluss verloren. Sie will ihren verloren gegangenen Rang zurück - und macht dabei die gleichen Fehler, die einst zum Zusammenbruch seiner Führung und Einflusssphäre führten." Zwar nehme die Zufriedenheit der Bevölkerung mit Putin ab, und die anfängliche Begeisterung über Russlands Einmischung in der Ukraine schwinde, Atai hält es dennoch für unwahrscheinlich, dass nach Dutzenden gesetzlichen Einschränkungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit in den vergangenen Jahren bald eine Zeit offener Debatten anbrechen könnte.
Die Proteste gegen den Ausschluss von Kandidaten zur Wahl des Moskauer Stadtparlaments im September hat sie in ihrem Buch nicht mehr berücksichtigen können. Zehntausende gingen in den vergangenen Wochen trotz Verbots auf die Straßen, und das, obwohl die politischen Anführer der Demonstrationen zu großen Teilen (und aus vorgeschobenen Gründen) Arreststrafen absitzen. Das könnte Hoffnung auf eine Veränderung in Russland machen. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte und die mehr als tausend Verhaftungen untermauern dann allerdings wieder Atais Skepsis: "Viele Beobachter sehen in . . . autoritären Reflexen auf die Punktsiege der Liberalen eine typische Taktik des Kreml."
SOFIA DREISBACH
Golineh Atai: "Die Wahrheit ist der Feind". Warum Russland so anders ist.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019. 384 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine der besten Rußlandkennerinnen Deutschlands. Markus Lanz 20190612