Es geht um alles oder nichts in diesen Geschichten. Sie handeln vom Unglück, frei zu sein. Von einem Ort, an dem keiner freiwillig ist und der dennoch zur Heimat wird. Von einem erfolglosen Drehbuchautor der Gegenwart, der in das Hollywood des Jahres 1973 katapultiert wird, um die berühmteste Filmidee des 20. Jahrhunderts zu stehlen. Und nicht zuletzt eine Erzählung aus dem Universum des Romans 'Vom Ende der Einsamkeit', die Licht auf ein dunkles Familiengeheimnis wirft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2018Liebe oder Werk
Benedict Wells erzählt
moralische Geschichten
Als „Spielwiese für zwischendurch“ betrachte er diese Erzählungen, hat Benedict Wells selbst gesagt. Also zwischen dem Welterfolg „Vom Ende der Einsamkeit“ und vor dem nächsten Roman. Das ist sicher die Wahrheit und doch auch ein bisschen, pardon, gelogen.
Denn der Erzählband „Die Wahrheit über das Lügen“ zeigt erstens die große stilistische und formale Spannweite dieses immer noch unverschämt jungen Autors (geboren ist er 1984 in München als Sohn eines Deutschen und einer Schweizerin). Zweitens ist der Band klug komponiert: die erste und letzte Geschichte, jeweils über innerfamiliäres Verschweigen, Vermeiden und Verpassen, bilden einen Rahmen um ein gewichtiges Hauptstück, zwischen weiteren gibt es thematische und motivische Korrespondenzen. Und drittens behandelt er gewichtige Sujets in leichter Gangart - und lässt Einblicke in den eigenen kreativen Prozess zu.
Dieses Hauptstück (leider mit dem schrecklichen Titel „Das Franchise“) ist eine Fantasie über eine Zeitreise. Da empfängt der milliardenschwere Filmproduzent Adrian Brooks einen jungen Journalisten und eröffnet ihm Unglaubliches: Nicht er selbst, sondern der „ganz vergessene“ George Lucas sei der Erfinder von „Star Wars“. Brooks, erfolgloser Skriptautor, sei nämlich aus dem Jahr 2016 mit einem Aufzug ins Jahr 1973 gefahren und habe beschlossen, George Lucas seine Idee zu stehlen, noch ehe sie ausgereift war: „Denn im Unterschied zu ihm kannte ich ja den fertigen Film.“
Nun sind Zeitreisen ja aus logischen Gründen unmöglich (wie das „Großvaterparadox“ und der „Schmetterlingseffekt“ zeigen), wenn man sich nicht in parallele Wirklichkeiten flüchtet. Aber in der Literatur kann ja auch das Unmögliche gedacht und gestaltet werden. Und Wells denkt und gestaltet seine Idee, in die er als „Star Wars“-Fan und Kenner vielleicht ein bisschen zu sehr verliebt ist, schön aus, besonders witzig eben in Anwendung auf einen Science-Fiction-Stoff: Ein Mensch aus der Zukunft greift in die Vergangenheit ein. Und in der bleiben Lucas‘ „Indiana Jones“-Filme leider ungedreht.
Aus dem weiten Themenkreis Kreativität stammt auch die Erzählung „Die Muse“, in der unter der Fantasy-Oberfläche die Frage behandelt wird, wie weit und auf wessen Kosten ein Künstler zu gehen bereit ist. Der Künstler ist hier eine Künstlerin, die Autorin Margo Brodie, die Muse hingegen männlich: ein schöner junger Mann mit blauen Locken, der Margo aus einer Schreibkrise heraushelfen soll.
Das gelingt, hat aber Konsequenzen: Die Muse verliebt sich, gibt ihr Privileg der Unsterblichkeit auf („Er war vielleicht unsterblich, aber er hatte auch nie wirklich gelebt“: das ist der Undinen-Stoff). Küsse und Sex mit der personifizierten Inspiration machen aus der blockierten Frau ein Genie, sie schreibt und schreibt, während sich die Inspirationsquelle, der Mensch gewordene Muserich, langsam auflöst. So sind halt die Regeln in Wells‘ Musenreich.
Liebe oder Erfolg also? Nein, ganz so schnöde stellt sich das Dilemma für Margo nicht dar, sondern: Liebe oder Werk. Der Künstler-Egoismus siegt, weil das Werk leben soll. Aber ist es nicht ein Egoismus, von dem die Welt profitiert, der das Werk sonst vorenthalten wurde?
So öffnen sich in fast vignettenkleinen Erzählungen größere Denk-Räume. Umgekehrt verdichtet Wells ein ganzes versäumtes Leben in einen einzigen Nachmittag. Im ersten Stück des Bandes macht Henry M., der große Unternehmensfusionen managt, auch in den Familienferien sein eigenes Ding. Als er von einer Bergtour verspätet zurückkehrt, sind Jahre vergangen, der Sohn ist tot, die Tochter weggezogen: Wells dreht hier das klassische Rip-van-Winkle-Motiv ins Moralische.
Nicht alle Geschichten halten diese Höhe – aber in welchen Erzählbänden ist das schon so? Zwei sind Auskopplungen aus dem „Ende der Einsamkeit“; man begreift, warum der Autor an ihnen hängt, begrüßt es aber nachträglich, dass sie aus dem Roman entfernt wurden.
Eine klassische Short Story in der Tradition Earnest Hemingways ist „Die Fliege“: Indem der Mann sie im Cocktailglas ertränkt, besiegelt er das Ende seiner Ehe. Eher unausgereift und der Idee nicht ganz gewachsen wirken „Ping Pong“ oder „Richard“.
So sind die Spiele, die der Autor auf seiner Spielwiese spielt, bis auf ein paar schwächere Runden raffiniert angelegt, anspielungsreich und von nicht geringerer Ernsthaftigkeit als seine Romane. Und schlank und elegant geschrieben sind sie auch.
MARTIN EBEL
In die ein oder andere
Science-Fiction-Idee ist der Autor
vielleicht etwas zu verliebt
In den kleinen, vignettenartigen
Erzählungen öffnen
sich bisweilen große Denkräume
Benedict Wells:
Die Wahrheit über das Lügen. Zehn Geschichten. Diogenes, Zürich 2018. 242 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Benedict Wells erzählt
moralische Geschichten
Als „Spielwiese für zwischendurch“ betrachte er diese Erzählungen, hat Benedict Wells selbst gesagt. Also zwischen dem Welterfolg „Vom Ende der Einsamkeit“ und vor dem nächsten Roman. Das ist sicher die Wahrheit und doch auch ein bisschen, pardon, gelogen.
Denn der Erzählband „Die Wahrheit über das Lügen“ zeigt erstens die große stilistische und formale Spannweite dieses immer noch unverschämt jungen Autors (geboren ist er 1984 in München als Sohn eines Deutschen und einer Schweizerin). Zweitens ist der Band klug komponiert: die erste und letzte Geschichte, jeweils über innerfamiliäres Verschweigen, Vermeiden und Verpassen, bilden einen Rahmen um ein gewichtiges Hauptstück, zwischen weiteren gibt es thematische und motivische Korrespondenzen. Und drittens behandelt er gewichtige Sujets in leichter Gangart - und lässt Einblicke in den eigenen kreativen Prozess zu.
Dieses Hauptstück (leider mit dem schrecklichen Titel „Das Franchise“) ist eine Fantasie über eine Zeitreise. Da empfängt der milliardenschwere Filmproduzent Adrian Brooks einen jungen Journalisten und eröffnet ihm Unglaubliches: Nicht er selbst, sondern der „ganz vergessene“ George Lucas sei der Erfinder von „Star Wars“. Brooks, erfolgloser Skriptautor, sei nämlich aus dem Jahr 2016 mit einem Aufzug ins Jahr 1973 gefahren und habe beschlossen, George Lucas seine Idee zu stehlen, noch ehe sie ausgereift war: „Denn im Unterschied zu ihm kannte ich ja den fertigen Film.“
Nun sind Zeitreisen ja aus logischen Gründen unmöglich (wie das „Großvaterparadox“ und der „Schmetterlingseffekt“ zeigen), wenn man sich nicht in parallele Wirklichkeiten flüchtet. Aber in der Literatur kann ja auch das Unmögliche gedacht und gestaltet werden. Und Wells denkt und gestaltet seine Idee, in die er als „Star Wars“-Fan und Kenner vielleicht ein bisschen zu sehr verliebt ist, schön aus, besonders witzig eben in Anwendung auf einen Science-Fiction-Stoff: Ein Mensch aus der Zukunft greift in die Vergangenheit ein. Und in der bleiben Lucas‘ „Indiana Jones“-Filme leider ungedreht.
Aus dem weiten Themenkreis Kreativität stammt auch die Erzählung „Die Muse“, in der unter der Fantasy-Oberfläche die Frage behandelt wird, wie weit und auf wessen Kosten ein Künstler zu gehen bereit ist. Der Künstler ist hier eine Künstlerin, die Autorin Margo Brodie, die Muse hingegen männlich: ein schöner junger Mann mit blauen Locken, der Margo aus einer Schreibkrise heraushelfen soll.
Das gelingt, hat aber Konsequenzen: Die Muse verliebt sich, gibt ihr Privileg der Unsterblichkeit auf („Er war vielleicht unsterblich, aber er hatte auch nie wirklich gelebt“: das ist der Undinen-Stoff). Küsse und Sex mit der personifizierten Inspiration machen aus der blockierten Frau ein Genie, sie schreibt und schreibt, während sich die Inspirationsquelle, der Mensch gewordene Muserich, langsam auflöst. So sind halt die Regeln in Wells‘ Musenreich.
Liebe oder Erfolg also? Nein, ganz so schnöde stellt sich das Dilemma für Margo nicht dar, sondern: Liebe oder Werk. Der Künstler-Egoismus siegt, weil das Werk leben soll. Aber ist es nicht ein Egoismus, von dem die Welt profitiert, der das Werk sonst vorenthalten wurde?
So öffnen sich in fast vignettenkleinen Erzählungen größere Denk-Räume. Umgekehrt verdichtet Wells ein ganzes versäumtes Leben in einen einzigen Nachmittag. Im ersten Stück des Bandes macht Henry M., der große Unternehmensfusionen managt, auch in den Familienferien sein eigenes Ding. Als er von einer Bergtour verspätet zurückkehrt, sind Jahre vergangen, der Sohn ist tot, die Tochter weggezogen: Wells dreht hier das klassische Rip-van-Winkle-Motiv ins Moralische.
Nicht alle Geschichten halten diese Höhe – aber in welchen Erzählbänden ist das schon so? Zwei sind Auskopplungen aus dem „Ende der Einsamkeit“; man begreift, warum der Autor an ihnen hängt, begrüßt es aber nachträglich, dass sie aus dem Roman entfernt wurden.
Eine klassische Short Story in der Tradition Earnest Hemingways ist „Die Fliege“: Indem der Mann sie im Cocktailglas ertränkt, besiegelt er das Ende seiner Ehe. Eher unausgereift und der Idee nicht ganz gewachsen wirken „Ping Pong“ oder „Richard“.
So sind die Spiele, die der Autor auf seiner Spielwiese spielt, bis auf ein paar schwächere Runden raffiniert angelegt, anspielungsreich und von nicht geringerer Ernsthaftigkeit als seine Romane. Und schlank und elegant geschrieben sind sie auch.
MARTIN EBEL
In die ein oder andere
Science-Fiction-Idee ist der Autor
vielleicht etwas zu verliebt
In den kleinen, vignettenartigen
Erzählungen öffnen
sich bisweilen große Denkräume
Benedict Wells:
Die Wahrheit über das Lügen. Zehn Geschichten. Diogenes, Zürich 2018. 242 Seiten, 22 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2019Ertrunken in der Limonade
Erfindungsreich, aber nur mäßig überzeugend: Erzählungen von Benedict Wells
Die harte Wahrheit über das Lügen lautet, dass es keine Rolle spielt. Zumindest in künstlerischer Hinsicht. Selbst wenn alle Dichter platonisch lügen, macht nicht das Erfinden den Schriftsteller aus, sondern Stil, Klang, Sprachspiel, mitschwingender Sinn, Erfahrung. Es lässt sich kaum behaupten, dass sich die inhaltlich wie formal disparaten, allesamt harmlosen Erzählungen von Benedict Wells - was sich in zehn Jahren eben so ansammelt, sogar Auslektoriertes aus seinem Roman "Vom Ende der Einsamkeit" ist dabei - in auch nur einer der genannten Kategorien sonderlich hervortäten. Dafür gehen sie sämtlich mit ihrer Konstruktion hausieren, mit Konzepten, Ideen, der sogenannten Kreativität. Das Zuviel an Setting kann den Mangel an Literarizität aber nicht ausgleichen. Dass der Diogenes Verlag diese teils in schülerhafter Manier ausgeführten Schreibübungen als Hardcover druckt, darf verwundern.
Da gibt es Allegorien ohne jeden semantischen Unterbau wie die ins Reale gewendete, tragische Liebelei einer Jungautorin mit ihrer (hier männlichen) Muse oder das nächtliche Hauen und Stechen in einer Bibliothek, weil sich die Bücher nicht auf eine Gutenachtgeschichte einigen können. Proust träumt "von einem ganzen Berg von Madeleines", Hemingway flattert fluchend mit den Seiten, und Shakespeare betont, oft ausgeliehen zu werden: "woraufhin jemand erwiderte: ,Ja, aber nur von gelangweilten Schulklassen', was einige Lacher provozierte". Das ginge in seiner Plattheit nicht einmal in Creative-writing-Kursen an der Volkshochschule durch.
Auch der neueste Text überzeugt nicht. In leicht surrealer Zuspitzung erzählt er von einem Karrieremann, der sein Leben verpasst hat. Ordentlich ist der Einfall, den Helden während einer Wanderung zum - was sonst? - Gipfel auf einen jahrzehntelangen, ihm jedoch nur wie wenige Stunden dauernd vorkommenden Irrweg zu schicken. Dieser Manager aber, einen großen Deal einfädelnd, bleibt allzu ausgedachte Klischeefigur. Die Einfühlung wirkt unbeholfen: "er hasste es, einmal gefasste Beschlüsse zu verwerfen". Mehr als Klischeemoral ergibt sich dann auch nicht: "jetzt, allein in dem matschigen Wald, musste er sich eingestehen, dass er ein schlechter Vater gewesen war". Auch die übrigen Figuren in diesem Buch sind vor allem Behauptungen, ein selbstgefälliger Verleger, eine einsame Seniorin, die um ihren Kater trauert, ein Tischtennisspieler, der in der Unfreiheit seiner Lehrjahre am glücklichsten war. Niemandem kommt man näher, weil nirgends echtes Leben ist.
Die Naivität ist keine intendierte, sie ergibt sich aus kindisch schlichten Sätzen ("War da nicht gerade ein Geräusch gewesen?" - "Das Wasser aus dem Hahn war eiskalt." - "Verzweifelt streckte er noch seine Hand nach ihr aus.") und aus der Kunstlosigkeit, mit der ihnen Symbolisches angetackert wird. Jede Metapher marschiert hier mit Ansage ein. Geht es um das alte Patriarchat, um toxische Männlichkeit, wie das heute heißt, ertränkt der Protagonist "spielerisch" eine Fliege, die sich nach langer Strampelei in der Limonade gerade auf den Strohhalm gerettet hatte. Herrje.
Drei Texte ragen dann doch ein wenig heraus. Neben Erinnerungen an Internatszeiten, in denen nichts geschieht, aber alles erlebnisgesättigt wirkt, ist das die Abschlusserzählung "Hunderttausend", die auf recht feinfühlige Weise von einer späten Aussprache zwischen Vater und Sohn handelt. Diesmal wird die Symbolik sogar inhaltlich aufgefangen, denn die Figuren selbst thematisieren, dass sie seit dreißig Jahren, dem Suizid der Mutter, auf das Umspringen des Tachostands auf lauter Nullen warten. Der Neuanfang geschieht auch, aber nicht ganz ohne Komplikationen.
Am pfiffigsten ist sicherlich die lange Titelerzählung. Sie wendet die Obsession des Sciencefiction-Genres in Bezug auf alternative Realitäten amüsant gegen sich selbst, denn hier gesteht der fiktive Hollywood-Produzent Adrian Brooks einem Journalisten, dass eigentlich nicht er, sondern ein kaum noch bekannter George Lucas "Star Wars" erfunden habe. Durch eine zufällige Zeitreise à la "Zurück in die Zukunft" aber konnte der "Star Wars"Fan-Brooks ihm die Idee vor der Nase wegschnappen. Diese lockere Parodie, die literarisch auch nicht eben in die Tiefe geht, lebt davon, dass nun ein guter Teil der Filmgeschichte witzig umgeschrieben wird, Brooks aber bald vor allem daran interessiert ist, seine "Star Wars"-Filme so genau wie möglich als Kopien der Originale in seinem Kopf anzulegen. Vielleicht hat ja einst ein heute unbekannter Autor vom Schlage Clemens Setz die vorliegenden Erzählungen verfasst, sprachlich funkelnd und philosophisch ansprechend, bis Benedict Wells, der Jüngste aus dem Von-Schirach-Clan, der hierzulande die Bestsellerlisten vollschreibt, sie mittels Zeitreise entwendete, aber dann nicht mehr ordentlich zusammengesetzt bekam.
OLIVER JUNGEN
Benedict Wells:
"Die Wahrheit über das
Lügen". Zehn Geschichten.
Diogenes Verlag, Zürich 2018. 235 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erfindungsreich, aber nur mäßig überzeugend: Erzählungen von Benedict Wells
Die harte Wahrheit über das Lügen lautet, dass es keine Rolle spielt. Zumindest in künstlerischer Hinsicht. Selbst wenn alle Dichter platonisch lügen, macht nicht das Erfinden den Schriftsteller aus, sondern Stil, Klang, Sprachspiel, mitschwingender Sinn, Erfahrung. Es lässt sich kaum behaupten, dass sich die inhaltlich wie formal disparaten, allesamt harmlosen Erzählungen von Benedict Wells - was sich in zehn Jahren eben so ansammelt, sogar Auslektoriertes aus seinem Roman "Vom Ende der Einsamkeit" ist dabei - in auch nur einer der genannten Kategorien sonderlich hervortäten. Dafür gehen sie sämtlich mit ihrer Konstruktion hausieren, mit Konzepten, Ideen, der sogenannten Kreativität. Das Zuviel an Setting kann den Mangel an Literarizität aber nicht ausgleichen. Dass der Diogenes Verlag diese teils in schülerhafter Manier ausgeführten Schreibübungen als Hardcover druckt, darf verwundern.
Da gibt es Allegorien ohne jeden semantischen Unterbau wie die ins Reale gewendete, tragische Liebelei einer Jungautorin mit ihrer (hier männlichen) Muse oder das nächtliche Hauen und Stechen in einer Bibliothek, weil sich die Bücher nicht auf eine Gutenachtgeschichte einigen können. Proust träumt "von einem ganzen Berg von Madeleines", Hemingway flattert fluchend mit den Seiten, und Shakespeare betont, oft ausgeliehen zu werden: "woraufhin jemand erwiderte: ,Ja, aber nur von gelangweilten Schulklassen', was einige Lacher provozierte". Das ginge in seiner Plattheit nicht einmal in Creative-writing-Kursen an der Volkshochschule durch.
Auch der neueste Text überzeugt nicht. In leicht surrealer Zuspitzung erzählt er von einem Karrieremann, der sein Leben verpasst hat. Ordentlich ist der Einfall, den Helden während einer Wanderung zum - was sonst? - Gipfel auf einen jahrzehntelangen, ihm jedoch nur wie wenige Stunden dauernd vorkommenden Irrweg zu schicken. Dieser Manager aber, einen großen Deal einfädelnd, bleibt allzu ausgedachte Klischeefigur. Die Einfühlung wirkt unbeholfen: "er hasste es, einmal gefasste Beschlüsse zu verwerfen". Mehr als Klischeemoral ergibt sich dann auch nicht: "jetzt, allein in dem matschigen Wald, musste er sich eingestehen, dass er ein schlechter Vater gewesen war". Auch die übrigen Figuren in diesem Buch sind vor allem Behauptungen, ein selbstgefälliger Verleger, eine einsame Seniorin, die um ihren Kater trauert, ein Tischtennisspieler, der in der Unfreiheit seiner Lehrjahre am glücklichsten war. Niemandem kommt man näher, weil nirgends echtes Leben ist.
Die Naivität ist keine intendierte, sie ergibt sich aus kindisch schlichten Sätzen ("War da nicht gerade ein Geräusch gewesen?" - "Das Wasser aus dem Hahn war eiskalt." - "Verzweifelt streckte er noch seine Hand nach ihr aus.") und aus der Kunstlosigkeit, mit der ihnen Symbolisches angetackert wird. Jede Metapher marschiert hier mit Ansage ein. Geht es um das alte Patriarchat, um toxische Männlichkeit, wie das heute heißt, ertränkt der Protagonist "spielerisch" eine Fliege, die sich nach langer Strampelei in der Limonade gerade auf den Strohhalm gerettet hatte. Herrje.
Drei Texte ragen dann doch ein wenig heraus. Neben Erinnerungen an Internatszeiten, in denen nichts geschieht, aber alles erlebnisgesättigt wirkt, ist das die Abschlusserzählung "Hunderttausend", die auf recht feinfühlige Weise von einer späten Aussprache zwischen Vater und Sohn handelt. Diesmal wird die Symbolik sogar inhaltlich aufgefangen, denn die Figuren selbst thematisieren, dass sie seit dreißig Jahren, dem Suizid der Mutter, auf das Umspringen des Tachostands auf lauter Nullen warten. Der Neuanfang geschieht auch, aber nicht ganz ohne Komplikationen.
Am pfiffigsten ist sicherlich die lange Titelerzählung. Sie wendet die Obsession des Sciencefiction-Genres in Bezug auf alternative Realitäten amüsant gegen sich selbst, denn hier gesteht der fiktive Hollywood-Produzent Adrian Brooks einem Journalisten, dass eigentlich nicht er, sondern ein kaum noch bekannter George Lucas "Star Wars" erfunden habe. Durch eine zufällige Zeitreise à la "Zurück in die Zukunft" aber konnte der "Star Wars"Fan-Brooks ihm die Idee vor der Nase wegschnappen. Diese lockere Parodie, die literarisch auch nicht eben in die Tiefe geht, lebt davon, dass nun ein guter Teil der Filmgeschichte witzig umgeschrieben wird, Brooks aber bald vor allem daran interessiert ist, seine "Star Wars"-Filme so genau wie möglich als Kopien der Originale in seinem Kopf anzulegen. Vielleicht hat ja einst ein heute unbekannter Autor vom Schlage Clemens Setz die vorliegenden Erzählungen verfasst, sprachlich funkelnd und philosophisch ansprechend, bis Benedict Wells, der Jüngste aus dem Von-Schirach-Clan, der hierzulande die Bestsellerlisten vollschreibt, sie mittels Zeitreise entwendete, aber dann nicht mehr ordentlich zusammengesetzt bekam.
OLIVER JUNGEN
Benedict Wells:
"Die Wahrheit über das
Lügen". Zehn Geschichten.
Diogenes Verlag, Zürich 2018. 235 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Oliver Jungen begreift nicht, warum diese Fingerübungen von Benedict Wells als Hardcover unters Volk müssen. Disparat und harmlos, sprachlich schülerhaft erzählt der Autor hier laut Rezensent klischeehaft von reuigen Managern, eifersüchtigen Büchern in einer Bibliothek und einer alternativen Filmgeschichte, in der eine Zeitmaschine eine tragende Rolle spielt. Klingt in seiner Kunstlosigkeit und symbolischen Bemühtheit für Jungen sehr nach Creative-writing-Kurs.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein Ausnahmetalent in der jungen deutschen Literatur.« Claudio Armbruster / ZDF ZDF