Ein kurzer, spitzer Schrei, dann das Rauschen des Wasserhahns. Sosehr sich der Vater der jungen Sara auch bemüht wegzuhören, Saras grausiges Essensritual läßt sich nicht leugnen: Seine Tochter verspeist lebendige Vögel. Nur so, scheint es, bewahrt sie sich einen rosigen Teint und glänzende Augen. Wovor es sie noch bewahrt, kann man erst nach und nach erahnen.Verstörende Momente bilden den Kern von Samanta Schweblins zupackenden Erzählungen. Wo die Grenzen zwischen Realem und Phantastischem verschwinden, taucht der Leser ein in eine aberwitzige Welt, die traumartig überscharf die unsere spiegelt.Keine andere literarische Gattung ist in Argentinien so beliebt und hat eine so lange Tradition wie die der Erzählung. Samanta Schweblin, von der argentinischen Literaturkritik bereits als die beste Erzählerin ihrer Generation gefeiert und mit Cortázar und Bioy Casares verglichen, schafft mit starker Stimme und starken Bildern einen eigenen, wundersamen Erzählkosmos.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Eberhard Falcke ist nur froh, dass das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse Argentinien ist, denn nur dadurch kämen deutschsprachige Leser nun in den ganz außerordentlichen Genuss der Erzählungen von Samanta Schweblin. Die 1978 geborene Autorin gründet ihren Erfolg in Argentinien ausschließlich auf ihren Kurzgeschichten, deren zweiter Band nun erweitert um eine zusätzliche Erzählung auf Deutsch vorliegt, freut sich der Rezensent. Manches erinnert Falcke zwar durchaus an die Schauerromantik, aber Schweblin dosiert ihre Geschichten so genau, ohne zuviel zu verraten, dass das Kippen ins Unheimliche, Ungewöhnliche viel subtiler geschieht, wie der Rezensent anerkennend feststellt. Stilistisch brillant und sprachlich originell nennt er die Geschichte geschrieben, deren beunruhigende Plots die Autorin aber nicht in "fantastischen Spukwelten" findet, sondern in der argentinischen Alltagswelt, erklärt Falcke noch, der dem Band ein "beträchtliches literarisches Gewicht" attestiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2010Den Mund völler Vögel
Die Geschichten der Argentinierin Samanta Schweblin stecken voller Gewalt und Geheimnisse. Jetzt liegt ihr beklemmender Erzählband "Die Wahrheit über die Zukunft" auf Deutsch vor.
Ein kleines, meist blasses Mädchen verspeist lebendige Vögel, um einen rosigen Schimmer auf ihre Wangen zu zaubern; ein erfolgreicher Maler wird von dem Moment künstlerisch inspiriert, in dem er den Kopf eines Mitmenschen auf den Asphalt schlägt; ein junges Paar macht in der nächtlichen Steppe sprichwörtlich Jagd auf sein Glück, um mit Netzen ein ungezähmtes, rustikales Etwas, einen Nachkommen, zu fangen.
Der Realität von Samanta Schweblins Erzählungen sind die Gewalt und das Unerklärliche inhärent. Kaum merklich bricht sich das Unheimliche in den verstörenden Kurzgeschichten der 1978 in Buenos Aires geborenen Autorin Bahn. Das Albtraumhafte und Surreale manifestiert sich im Alltag der Protagonisten, als gelte es, die Wirklichkeit zu untergraben und unter der arglosen Oberfläche ein bedrohliches Unbewusstes zutage zu fördern.
Kein Wunder, dass Samanta Schweblin in ihrer Heimat mit literarischen Vorbildern wie Adolfo Bioy Casares oder Julio Cortázar verglichen wird, die beide in ihren Werken die Grenzen zwischen Realität und Fiktion ausloteten. Mit ihrem ambitionierten Erzählband "Die Wahrheit über die Zukunft" reiht sie sich ein in die argentinische Tradition der sogenannten Neophantastik und bereichert sie um eine ebenso feinsinnige wie kluge Perspektive, fernab der eskapistischen Weltflucht. Ihr Tonfall ist unaufdringlich, unterkühlt und dennoch verständnisvoll; mal ist ihre Direktheit unbarmherzig, mal hält sie die narrativen Motive und die unterschwellige Faszination für das Grauen in einer unheilvollen Schwebe. Der vordergründige Grusel um seiner selbst willen ist ihre Sache nicht. Darüber hinaus ist ihr Gespür für erzählerische Ökonomie bewundernswert.
Mit wenigen lakonischen Sätzen und winzigen Details konfrontiert sie ihre psychologisch glaubhaft charakterisierten Figuren, deren subjektive Wahrnehmung sich rasch auf den Leser überträgt, mit dem Unfassbaren: "Von Zeit zu Zeit fand ich eine Feder, während ich meinen täglichen Verrichtungen nachging", berichtet der Vater beispielsweise in "Der Mund voller Vögel". Die aufgrund der Ernährungsgewohnheiten ihrer Tochter Sara bestürzten, in ihrer Zuneigung jedoch standhaften Eltern schwanken zwischen dem Drang, sich von ihrem eigen Fleisch und Blut innerlich zu distanzieren, und dem Wunsch, das alles möge nicht wahr sein.
Doch die Wahrheit der Worte und die Logik der Sprache kann niemand verleugnen. Sie kommt immer dann zum Vorschein, wenn es hinter dem vermeintlich Rätselhaften um Themen geht, die das allgemein Menschliche berühren, wie Elternliebe oder der Kinderwunsch. Samanta Schweblin gelingt es, ihren Erzählungen ein beklemmendes Geheimnis mit auf den Weg zu geben, das wir alle zu kennen glauben. Das macht "Die Wahrheit über die Zukunft" zu einer gleichermaßen spannenden wie anspruchsvollen Lektüre.
ALEXANDER MÜLLER
Samanta Schweblin: "Die Wahrheit über die Zukunft". Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 130 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Geschichten der Argentinierin Samanta Schweblin stecken voller Gewalt und Geheimnisse. Jetzt liegt ihr beklemmender Erzählband "Die Wahrheit über die Zukunft" auf Deutsch vor.
Ein kleines, meist blasses Mädchen verspeist lebendige Vögel, um einen rosigen Schimmer auf ihre Wangen zu zaubern; ein erfolgreicher Maler wird von dem Moment künstlerisch inspiriert, in dem er den Kopf eines Mitmenschen auf den Asphalt schlägt; ein junges Paar macht in der nächtlichen Steppe sprichwörtlich Jagd auf sein Glück, um mit Netzen ein ungezähmtes, rustikales Etwas, einen Nachkommen, zu fangen.
Der Realität von Samanta Schweblins Erzählungen sind die Gewalt und das Unerklärliche inhärent. Kaum merklich bricht sich das Unheimliche in den verstörenden Kurzgeschichten der 1978 in Buenos Aires geborenen Autorin Bahn. Das Albtraumhafte und Surreale manifestiert sich im Alltag der Protagonisten, als gelte es, die Wirklichkeit zu untergraben und unter der arglosen Oberfläche ein bedrohliches Unbewusstes zutage zu fördern.
Kein Wunder, dass Samanta Schweblin in ihrer Heimat mit literarischen Vorbildern wie Adolfo Bioy Casares oder Julio Cortázar verglichen wird, die beide in ihren Werken die Grenzen zwischen Realität und Fiktion ausloteten. Mit ihrem ambitionierten Erzählband "Die Wahrheit über die Zukunft" reiht sie sich ein in die argentinische Tradition der sogenannten Neophantastik und bereichert sie um eine ebenso feinsinnige wie kluge Perspektive, fernab der eskapistischen Weltflucht. Ihr Tonfall ist unaufdringlich, unterkühlt und dennoch verständnisvoll; mal ist ihre Direktheit unbarmherzig, mal hält sie die narrativen Motive und die unterschwellige Faszination für das Grauen in einer unheilvollen Schwebe. Der vordergründige Grusel um seiner selbst willen ist ihre Sache nicht. Darüber hinaus ist ihr Gespür für erzählerische Ökonomie bewundernswert.
Mit wenigen lakonischen Sätzen und winzigen Details konfrontiert sie ihre psychologisch glaubhaft charakterisierten Figuren, deren subjektive Wahrnehmung sich rasch auf den Leser überträgt, mit dem Unfassbaren: "Von Zeit zu Zeit fand ich eine Feder, während ich meinen täglichen Verrichtungen nachging", berichtet der Vater beispielsweise in "Der Mund voller Vögel". Die aufgrund der Ernährungsgewohnheiten ihrer Tochter Sara bestürzten, in ihrer Zuneigung jedoch standhaften Eltern schwanken zwischen dem Drang, sich von ihrem eigen Fleisch und Blut innerlich zu distanzieren, und dem Wunsch, das alles möge nicht wahr sein.
Doch die Wahrheit der Worte und die Logik der Sprache kann niemand verleugnen. Sie kommt immer dann zum Vorschein, wenn es hinter dem vermeintlich Rätselhaften um Themen geht, die das allgemein Menschliche berühren, wie Elternliebe oder der Kinderwunsch. Samanta Schweblin gelingt es, ihren Erzählungen ein beklemmendes Geheimnis mit auf den Weg zu geben, das wir alle zu kennen glauben. Das macht "Die Wahrheit über die Zukunft" zu einer gleichermaßen spannenden wie anspruchsvollen Lektüre.
ALEXANDER MÜLLER
Samanta Schweblin: "Die Wahrheit über die Zukunft". Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 130 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der schmale Band liegt leicht in der Hand, sein literarisches Gewicht ist jedoch beträchtlich.«
Eberhard Falcke, DIE ZEIT
Eberhard Falcke, DIE ZEIT