Einstmals nahm sich Georg Ossegg, Studienrat zu Aschaffenburg, die Freiheit, das Grimmsche Märchen von 'Hänsel und Gretel' als Tatsachenbericht zu lesen und wurde damit zum Begründer einer wissenschaftlichen Disziplin, die man "Märchenarchäologie" nennen könnte. Hans Traxler hat die Geschichte dieser Passion festgehalten, die mit Beharrlichkeit und Spürsinn die "Wahrheit" über Hänsel und Gretel ans Licht brachte. Sein reichhaltig illustriertes, mit Fotos, Zeichnungen, Karten und vielen archäologischen Dokumenten ausgestatteter Klassiker aus dem Jahr 1963 ist nun wieder lieferbar. Die Neuausgabe hat er um einen Anhang zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ("Grausame Tatsachen!") seines Buches ergänzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2009Durchbruch mit Hänsel und Gretel
Hans Traxler spaltete 1963 die Nation / Viele glaubten an das "Märchen" vom Hexenhaus im Spessart
ASCHAFFENBURG/FRANKFURT. An Georg Osseg erinnert sich am Bayerischen Untermain heute kaum noch jemand. Dabei hat der Aschaffenburger Studienrat vor knapp 50 Jahren mit seinen Grabungen im Spessart für eine ganze Menge Aufregung gesorgt. Der Laien-Archäologe wies nämlich nach, dass es sich bei Deutschlands populärster Hexe, jener, die Hänsel und Gretel einst in ihr Knusperhäuschen gelockt haben soll, um eine Bäckerin aus dem 17. Jahrhundert gehandelt haben muss. Anhand von Hinweisen in dem Märchen und frühen Illustrationen begab sich Osseg auf Spurensuche und stieß bei seinen Grabungen nördlich von Laufach tatsächlich auf die Fundamente des Hexenhauses, Lebkuchenreste und sogar den Backofen mit dem verkohlten Skelett einer Frau. Richtig sensationell wurde sein Fund jedoch erst durch seine Schlussfolgerung, dass Hänsel und Gretel in Wirklichkeit Verbrecher waren, die die unschuldige Bäckerin erwürgten und in den Ofen warfen, um in den Besitz des Lebkuchen-Geheimrezepts zu gelangen.
Kurz vor der Buchmesse 1963 veröffentlicht der Frankfurter Schriftsteller Hans Traxler das Grundlagenwerk "Die Wahrheit über Hänsel und Gretel". Das Medienecho ist enorm. Es erscheinen mehr als 100 empörte bis enthusiastische Rezensionen, die Zeitungsspalten sind voll mit Leserbriefen. Das Kulturamt der Stadt Recklinghausen lädt den Ausgräber Osseg zu einem Vortrag ein. Doch dieser kann dem Ruf nicht folgen. Denn es gibt ihn nicht. Der vermeintliche Begründer der Märchenarchäologie ist eine Erfindung des damals noch relativ unbekannten Traxler, der mit seiner Parodie auf das in Deutschland grassierende Ausgrabungsfieber auf Anhieb einen Bestseller landete. An diesen ersten großen Erfolg des heute Achtzigjährigen wird in der aktuellen Ausstellung im Frankfurter Caricatura-Museum für komische Kunst erinnert, in der Zeichnungen, Skizzenhefte, Bücher und kleinformatige Ölgemälde des Illustrators und Bildgeschichtenerzählers zu sehen sind.
Richtig gefreut hat sich Traxler, der von einem humorlosen Anwalt damals sogar wegen Betrugs verklagt wurde, über seinen satirischen Coup jedoch nicht so richtig. 40 "lange" Jahre nach dem Erscheinen der "Wahrheit" sei kaum eine Woche ohne Anruf oder ohne Brief eines Buchkäufers vergangen, "und manchem angekündigten Besuch konnte ich nur mit knapper Not entgehen", schreibt er im Nachwort der 2007 erschienenen Reclam-Ausgabe. Darin beschreibt er auch freimütig, wie er zum Märchenarchäologen wurde. Anfang 1963 habe er den Archäologieklassiker "Götter, Gräber und Gelehrte" von C.W. Ceram gelesen und sich gefragt, warum nur in der Ferne und nicht einmal in der Heimat graben. Schließlich habe auch Schliemann zunächst niemand geglaubt, dass die Ilias mehr als eine Sage war.
Also eifert Traxler den populärwissenschaftlichen "Spatenforschern" nach und untersucht, da gerade der 100. Todestag von Jakob Grimm ist, den Wahrheitsgehalt des bekannten Volksmärchens. Gemeinsam mit dem Fotografen Peter von Tresckow nimmt er auf der Saalburg im Taunus eine "zerbrochene Türangel auf", die als Beweis dienen soll, dass die Mördergeschwister in das Hexenhaus eingebrochen waren. Die Ausgrabungsfotos entstehen auf der Frankfurter Großbaustelle "Nordweststadt", und Traxler selbst posiert als Archäologe Osseg mit Regenmantel, Lederkappe, Nickelbrille und aufgeklebtem Schnauzbart. Ein Backpinsel dient als sensibles Ausgrabungswerkzeug.
Um seiner Publikation den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu geben, imitiert er alte Kupferstiche, zeichnet erfundene Lagepläne und scheut sich nicht, das Hexenhaus von der Modelleisenbahn-Anlage seines Sohnes und Backgeräte aus der Puppenküche der Tochter zweckzuentfremden. Die ganze Produktion beziehungsweise Fälschung dauert sechs Wochen, "aber an den Folgen trug ich 40 Jahre", klagt Traxler. Selbst als er im April 1964 im ZDF erklärt, seine Dokumentation sei von A bis Z erfunden, halten viele die "Wahrheit" immer noch für die Wahrheit. "Wer zum Teufel kann mir denn verbindlich sagen, was es mit dem Hänsel-und-Gretel-Buch auf sich hat? Ich flehe Sie an: Sagen Sie mir, was stimmt", schreibt ein verzweifelter Leser. Touristen und Schulklassen strömen in den Spessart, um dort weiterzugraben. Ein Paar aus Nordrhein-Westfalen will seine Benzinrechnung für die vergebliche Reise in den Spessart erstattet bekommen. Der Leiter des Kasseler Brüder-Grimm-Museums empfiehlt dem Verlag, das "verunglückte Witzbuch einzustampfen". Dagegen lobt die Münchner "Abendzeitung" die Wissenschaftsparodie als "Buch des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts".
Traxler wundert sich bis heute, dass seine Veröffentlichung nicht sofort als Satire erkannt wurde. "Ich war sicher gewesen, genügend deutliche Hinweise darauf im Text und in den Bildern versteckt zu haben, dass die ,Wahrheit' eine faustdicke Flunkerei war. Aber die Wunschvorstellung, Hänsel und Gretel hätten wirklich gelebt, war wohl stärker als jeder Zweifel." Ganz besonders ausgeprägt war dieses Wunschdenken bei einem Japaner von der Universität in Tokio, der das Buch übersetzen wollte. Selbst als ihm der Verlag mitteilt, dass es sich um eine Parodie handelt, ändert der passionierte Märchenkenner seine Meinung nicht. Der Verlag folgert: "Wir haben den Eindruck, dass Herr Takemura unsere Ausführungen nicht ganz verstanden hat."
AGNES SCHÖNBERGER
Hans Traxler: "Die Wahrheit über Hänsel und Gretel" ist für 4,90 Euro erhältlich bei Reclam. Die Ausstellung "Löhleins Katze - Traxler-Cartoons" im Caricatura-Museum Frankfurt dauert bis zum 26. Juli.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans Traxler spaltete 1963 die Nation / Viele glaubten an das "Märchen" vom Hexenhaus im Spessart
ASCHAFFENBURG/FRANKFURT. An Georg Osseg erinnert sich am Bayerischen Untermain heute kaum noch jemand. Dabei hat der Aschaffenburger Studienrat vor knapp 50 Jahren mit seinen Grabungen im Spessart für eine ganze Menge Aufregung gesorgt. Der Laien-Archäologe wies nämlich nach, dass es sich bei Deutschlands populärster Hexe, jener, die Hänsel und Gretel einst in ihr Knusperhäuschen gelockt haben soll, um eine Bäckerin aus dem 17. Jahrhundert gehandelt haben muss. Anhand von Hinweisen in dem Märchen und frühen Illustrationen begab sich Osseg auf Spurensuche und stieß bei seinen Grabungen nördlich von Laufach tatsächlich auf die Fundamente des Hexenhauses, Lebkuchenreste und sogar den Backofen mit dem verkohlten Skelett einer Frau. Richtig sensationell wurde sein Fund jedoch erst durch seine Schlussfolgerung, dass Hänsel und Gretel in Wirklichkeit Verbrecher waren, die die unschuldige Bäckerin erwürgten und in den Ofen warfen, um in den Besitz des Lebkuchen-Geheimrezepts zu gelangen.
Kurz vor der Buchmesse 1963 veröffentlicht der Frankfurter Schriftsteller Hans Traxler das Grundlagenwerk "Die Wahrheit über Hänsel und Gretel". Das Medienecho ist enorm. Es erscheinen mehr als 100 empörte bis enthusiastische Rezensionen, die Zeitungsspalten sind voll mit Leserbriefen. Das Kulturamt der Stadt Recklinghausen lädt den Ausgräber Osseg zu einem Vortrag ein. Doch dieser kann dem Ruf nicht folgen. Denn es gibt ihn nicht. Der vermeintliche Begründer der Märchenarchäologie ist eine Erfindung des damals noch relativ unbekannten Traxler, der mit seiner Parodie auf das in Deutschland grassierende Ausgrabungsfieber auf Anhieb einen Bestseller landete. An diesen ersten großen Erfolg des heute Achtzigjährigen wird in der aktuellen Ausstellung im Frankfurter Caricatura-Museum für komische Kunst erinnert, in der Zeichnungen, Skizzenhefte, Bücher und kleinformatige Ölgemälde des Illustrators und Bildgeschichtenerzählers zu sehen sind.
Richtig gefreut hat sich Traxler, der von einem humorlosen Anwalt damals sogar wegen Betrugs verklagt wurde, über seinen satirischen Coup jedoch nicht so richtig. 40 "lange" Jahre nach dem Erscheinen der "Wahrheit" sei kaum eine Woche ohne Anruf oder ohne Brief eines Buchkäufers vergangen, "und manchem angekündigten Besuch konnte ich nur mit knapper Not entgehen", schreibt er im Nachwort der 2007 erschienenen Reclam-Ausgabe. Darin beschreibt er auch freimütig, wie er zum Märchenarchäologen wurde. Anfang 1963 habe er den Archäologieklassiker "Götter, Gräber und Gelehrte" von C.W. Ceram gelesen und sich gefragt, warum nur in der Ferne und nicht einmal in der Heimat graben. Schließlich habe auch Schliemann zunächst niemand geglaubt, dass die Ilias mehr als eine Sage war.
Also eifert Traxler den populärwissenschaftlichen "Spatenforschern" nach und untersucht, da gerade der 100. Todestag von Jakob Grimm ist, den Wahrheitsgehalt des bekannten Volksmärchens. Gemeinsam mit dem Fotografen Peter von Tresckow nimmt er auf der Saalburg im Taunus eine "zerbrochene Türangel auf", die als Beweis dienen soll, dass die Mördergeschwister in das Hexenhaus eingebrochen waren. Die Ausgrabungsfotos entstehen auf der Frankfurter Großbaustelle "Nordweststadt", und Traxler selbst posiert als Archäologe Osseg mit Regenmantel, Lederkappe, Nickelbrille und aufgeklebtem Schnauzbart. Ein Backpinsel dient als sensibles Ausgrabungswerkzeug.
Um seiner Publikation den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu geben, imitiert er alte Kupferstiche, zeichnet erfundene Lagepläne und scheut sich nicht, das Hexenhaus von der Modelleisenbahn-Anlage seines Sohnes und Backgeräte aus der Puppenküche der Tochter zweckzuentfremden. Die ganze Produktion beziehungsweise Fälschung dauert sechs Wochen, "aber an den Folgen trug ich 40 Jahre", klagt Traxler. Selbst als er im April 1964 im ZDF erklärt, seine Dokumentation sei von A bis Z erfunden, halten viele die "Wahrheit" immer noch für die Wahrheit. "Wer zum Teufel kann mir denn verbindlich sagen, was es mit dem Hänsel-und-Gretel-Buch auf sich hat? Ich flehe Sie an: Sagen Sie mir, was stimmt", schreibt ein verzweifelter Leser. Touristen und Schulklassen strömen in den Spessart, um dort weiterzugraben. Ein Paar aus Nordrhein-Westfalen will seine Benzinrechnung für die vergebliche Reise in den Spessart erstattet bekommen. Der Leiter des Kasseler Brüder-Grimm-Museums empfiehlt dem Verlag, das "verunglückte Witzbuch einzustampfen". Dagegen lobt die Münchner "Abendzeitung" die Wissenschaftsparodie als "Buch des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts".
Traxler wundert sich bis heute, dass seine Veröffentlichung nicht sofort als Satire erkannt wurde. "Ich war sicher gewesen, genügend deutliche Hinweise darauf im Text und in den Bildern versteckt zu haben, dass die ,Wahrheit' eine faustdicke Flunkerei war. Aber die Wunschvorstellung, Hänsel und Gretel hätten wirklich gelebt, war wohl stärker als jeder Zweifel." Ganz besonders ausgeprägt war dieses Wunschdenken bei einem Japaner von der Universität in Tokio, der das Buch übersetzen wollte. Selbst als ihm der Verlag mitteilt, dass es sich um eine Parodie handelt, ändert der passionierte Märchenkenner seine Meinung nicht. Der Verlag folgert: "Wir haben den Eindruck, dass Herr Takemura unsere Ausführungen nicht ganz verstanden hat."
AGNES SCHÖNBERGER
Hans Traxler: "Die Wahrheit über Hänsel und Gretel" ist für 4,90 Euro erhältlich bei Reclam. Die Ausstellung "Löhleins Katze - Traxler-Cartoons" im Caricatura-Museum Frankfurt dauert bis zum 26. Juli.
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"Der Schüler, der sich mit diesem Büchlein auf eine Abi-Klausur zum Thema Märchen vorbereitet, dürfte keine guten Karten haben. Aber er dürfte bei der Lektüre eine ziemlich vergnügte Zeit verbringen. Mit den Recherchen des großen Zeichners und Satirikers, der einmal beinahe die Reste des Pfefferkuchens entdeckt hatte, nähert man sich vielen Geheimnissen, allerdings sind die nicht immer lupenrein märchenhaft. -- Rheinische Post
"Hans Traxler hat mit diesem urkomischen Schelmenstück mit dem Bierernst geborchen, der bis dahin Literatur- und Volkskunde bestimmte. Der Reclam Verlag hat das lange nahezu verschollene Werk dem Vergessen entrissen und legt es jetzt in einer wohlfeilen broschierten Ausgabe wieder vor. -- www.musenblätter.de
"Hans Traxler hat mit diesem urkomischen Schelmenstück mit dem Bierernst geborchen, der bis dahin Literatur- und Volkskunde bestimmte. Der Reclam Verlag hat das lange nahezu verschollene Werk dem Vergessen entrissen und legt es jetzt in einer wohlfeilen broschierten Ausgabe wieder vor. -- www.musenblätter.de