Heinrich Katz spürt, daß nicht mehr viel Zeit ist. Unter seinem Mansardenfenster leuchten die herbstlichen Farben der Kastanien, und Katz beginnt, beinah fieberhaft, zu schreiben: Am Ende seines Lebens läßt er sich auf das Wagnis ein, seine eigene, verschlungene Geschichte zu erzählen. Tastend und ungeordnet legt er seine persönlichsten Erinnerungen frei, die Treffen mit Dr. Leuchtenbrink ebenso wie das Londoner Intermezzo nach dem Krieg. Immer wieder stößt er dabei auf seine lebenslange Leidenschaft für Bücher. Bis er schließlich zum Kern seines eigenen Wesens vordringt - und dem ungeheuerlichsten Ereignis seines Lebens: der Begegnung mit dem Teufel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.1999Ein Hühnerbein auf dem Dachboden verstecken
Stephan Wackwitz beschwört Begegnungen mit dem Leibhaftigen · Von Lothar Müller
Der Titel dieses schmalen, erstaunlichen Buches führt in die Irre. Er spielt auf den vertrackten Kommentar an, in dem Franz Kafka die Abenteuer des Don Quijote als eine Erfindung Sancho Pansas auslegt, die dieser machte, um in den Nachtstunden seinen Teufel von sich abzulenken. Nun ist zwar der Teufel die heimliche Hauptfigur in dieser Erzählung, die sich als Roman ausgibt. Aber nicht Kafka hat ihr das Modell geliefert, sondern Hermann Hesse mit seinem "Demian" (1919), jener "Geschichte von Emil Sinclairs Jugend", in der die totgeschwiegene teuflische Welt gegen die göttlich-offizielle, der Wahrheitsdurst des Heranwachsenden inbrünstig gegen das flach gewordene Leben und die flach gewordene Religion der Eltern und Lehrer rebelliert.
Stephan Wackwitz hat diesem alten Modell das Nietzsche-Pathos und das Schwelgen in Elementarsymbolen genommen. Aber dann ist er in vollem Ernst darangegangen, es noch einmal zum Leben zu erwecken. Sein Emil Sinclair heißt Heinrich Katz. Er blickt im Alter von einundachtzig Jahren auf sein Leben zurück. Der nahe Tod treibt ihn dazu, sich dem Urerlebnis seiner Jugend noch einmal erinnernd zu stellen: der Begegnung mit dem leibhaftigen Teufel. Nicht nur das Alter des Erzählers erlaubt es Wackwitz, in seiner Rollenprosa den ekstatischen Ton des "Demian" reflexiv herabzustimmen. Er gibt einem Helden die Gelassenheit des genüßlichen Rauchers, gibt ihm ein Leben nach der Jugend, unaufgeregte Reminiszenzen an gescheiterte Ehen und eine Gegenwart, in der er seine obsessiven Exerzitien der Erinnerung reflektiert. Vor allem aber ist Heinrich Katz ein Repräsentant anachronistischer Gelehrsamkeit, der als junger Mann in seiner Freizeit griechische Texte aus dem Original übersetzt und schließlich den Brotberuf in einer Londoner Bank mit einer Professur vertauscht. Dieser Held aus der Universalbibliothek, dem kein noch so entlegener Text zwischen der "Historia Augusta", den apokryphen Quellen Plotins und Jacob Burckhardts Geschichte Konstantins fremd ist, kann zu Recht von sich sagen: "Während meines langen Lebens ist es mir oft gelungen, das Fürchterliche in einen Bildungsgegenstand zu verwandeln."
Während sich die Gefährten seiner Jugend für heimlich beschaffte Pornographie zu interessieren beginnen, ist Heinrich Katz fasziniert von den dunklen Seiten der Prädestinationslehre, von den Abgründen der Vorverurteilung und der Vernichtung alles Menschlichen. Das sieht auf den ersten Blick aus wie ein Musterfall von Verdrängung. Es geht Wackwitz aber gerade nicht darum, die nächtlichen Begegnungen des Jugendlichen mit dem Teufel, die ihn schweißgebadet und zitternd zurücklassen, als Phantasie eines allzu altklugen Jungen erscheinen zu lassen, der vom Dämon der Pubertät geplagt wird. Es geht ihm darum, den Teufel sowohl aus der Erklärungshoheit der Psychoanalyse wie der Geistesgeschichte zurückzuholen. Die Begegnung mit dem Leibhaftigen soll keine Metapher, sie soll eine Erfahrung sein. Für den Raum der Erzählung soll gelten, daß es den Teufel gibt: "Daß ich damals in die Hölle gesehen habe, behaupte ich noch heute."
Zu Zeiten des "Demian" war die Aufregung über den Satz "Gott ist tot" noch groß. Wackwitz polt nun die Energien um. Sein Buch ist gegen die Beschwichtigung der Mutter des zwölfjährigen Heinrich geschrieben, gegen den Satz: "Den Teufel gibt es doch nicht!" Darum läßt er den alten Gelehrten und umgekehrten Apostel die Lehre aus seinem Leben im Jahre 1998 ziehen, als Vermächtnis an eine allzu aufgeklärte Welt. Nicht der Ruf "Gott ist tot", sondern die Behauptung "Der Teufel existiert" ist heute, wenn ernst gemeint, skandalös. Darin aber liegt eine Gefahr. Denn der Teufel läßt sich nicht negieren. Wenn man ihn vollkommen abschafft, behält er seine Macht. Man kann sie ihm nur nehmen, wenn man ihn ernst nimmt und seine Abwehr einem Dämon anvertraut, der ihm gewachsen ist: der Kunst. So ungefähr läßt sich der Kern des Essays zusammenfassen, der in diesem Buch der Erzählung einer Jugend Konkurrenz macht, die dem Erzählen nicht immer bekommt. Die Verwandlung des Bösen in einen Bildungsgegenstand, die in der Biographie des Helden die ursprüngliche Erfahrung überlagert, gilt diesem Essay als Sündenfall der Moderne. Wie seine Lebenserinnerungen schreibt Heinrich Katz auch diesen Essay selbst. Gebildet genug ist er dafür. Aber man spürt doch, wie hier der kluge Autor seinem Geschöpf die Feder führt und sein Leben so konstruiert, daß es dem Essay nützt. Heinrich Katz ist ein Kind des christlich gewordenen, nicht mehr sonderlich frommen Judentums, dem der Weihnachtsbaum im Zimmer nichts nützt, als der Aufstieg der Nationalsozialisten zur Machtübernahme führt. Die bösen, groben Quälgeister aus der "Demian"-Welt haben jetzt Vorbilder in der SA, wenn sie dem beschnittenen Judenjungen die Hosen herunterlassen, und die Hölle erhält eine Physiognomie: "Gestapohölle". Im Mangel an Vorstellungskraft gegenüber dem Bösen erkennt Heinrich Katz einen der Gründe für die Ohnmacht, mit der die Generation seines Vaters der Bedrohung gegenüberstand. Die dagegengesetzte Einsicht, "daß im Innern der Menschen etwas anderes als die Vernunft haust", gehört zu den Kernsätzen des Essays in diesem Buch.
Wie Emil Sinclair seinen Demian findet auch der junge Heinrich Katz zu einem Mentor, der ihm die paradoxe Wahrheit der "anderen Welt" aufschließt. Diese Figur ist der katholische Pater Andreas. Er steigt aus der Erinnerung als Kontrastfigur zu den Selbsterfahrungsgruppen, Töpferkursen und Gebetskreisen auf, deren Termine die Zettel in der katholischen Kirche des Jahres 1998 verkündigen. Er lehrt den Jungen, daß gegenüber dem Teufel wie gegenüber Gott die Rettung in das Erzählen der Ausweg ist. "Er gab mir nie das Gefühl, daß Himmel und Hölle, Gott und Teufel nicht existieren. Aber er entzauberte sie für mich."
Das ist das gute Ende der Erzählung und des Essays zugleich, der Wiederkehr des "Demian" aus dem Geist der Ablenkungstheorie Franz Kafkas. Ihre stärksten Seiten hat diese Erzählung nicht dort, wo sie hochgebildet das Verblassen des Teufels zum Bildungsgegenstand demonstriert. Nachdrücklich haften bleibt vielmehr vor allem die Szene vom Hühnerbein, das der Erzähler auf dem Dachboden versteckt, vergißt und madengespickt wiederfindet. Im leibhaftigen Ekel gewinnt hier der Schrecken nachdrücklichere Gestalt als in allen Existenzbeweisen des Leibhaftigen. Nirgends in diesem Buch ist die Balance von Metaphysik und Leben besser gewahrt als in dem Satz, der die Müdigkeit festhält, "nachdem ich das Hühnerbein und die Hoffnung auf Gott begraben hatte".
Stephan Wackwitz ist Leiter des Goethe-Institutes in Krakau. Man darf vermuten, daß ihm der Essay über die Kulturbedeutung der Religion in der Moderne nicht bloßes Gedankenspiel ist. Oft behelfen sich westliche Intellektuelle gegenüber dem polnischen Katholizismus mit Ironie. Dieses Buch zur Apologie des Teufels ist aber erstaunlich, weil es ein frommes Buch ist.
Stephan Wackwitz: "Die Wahrheit über Sancho Pansa". Roman. Piper Verlag, München und Zürich 1999. 141 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stephan Wackwitz beschwört Begegnungen mit dem Leibhaftigen · Von Lothar Müller
Der Titel dieses schmalen, erstaunlichen Buches führt in die Irre. Er spielt auf den vertrackten Kommentar an, in dem Franz Kafka die Abenteuer des Don Quijote als eine Erfindung Sancho Pansas auslegt, die dieser machte, um in den Nachtstunden seinen Teufel von sich abzulenken. Nun ist zwar der Teufel die heimliche Hauptfigur in dieser Erzählung, die sich als Roman ausgibt. Aber nicht Kafka hat ihr das Modell geliefert, sondern Hermann Hesse mit seinem "Demian" (1919), jener "Geschichte von Emil Sinclairs Jugend", in der die totgeschwiegene teuflische Welt gegen die göttlich-offizielle, der Wahrheitsdurst des Heranwachsenden inbrünstig gegen das flach gewordene Leben und die flach gewordene Religion der Eltern und Lehrer rebelliert.
Stephan Wackwitz hat diesem alten Modell das Nietzsche-Pathos und das Schwelgen in Elementarsymbolen genommen. Aber dann ist er in vollem Ernst darangegangen, es noch einmal zum Leben zu erwecken. Sein Emil Sinclair heißt Heinrich Katz. Er blickt im Alter von einundachtzig Jahren auf sein Leben zurück. Der nahe Tod treibt ihn dazu, sich dem Urerlebnis seiner Jugend noch einmal erinnernd zu stellen: der Begegnung mit dem leibhaftigen Teufel. Nicht nur das Alter des Erzählers erlaubt es Wackwitz, in seiner Rollenprosa den ekstatischen Ton des "Demian" reflexiv herabzustimmen. Er gibt einem Helden die Gelassenheit des genüßlichen Rauchers, gibt ihm ein Leben nach der Jugend, unaufgeregte Reminiszenzen an gescheiterte Ehen und eine Gegenwart, in der er seine obsessiven Exerzitien der Erinnerung reflektiert. Vor allem aber ist Heinrich Katz ein Repräsentant anachronistischer Gelehrsamkeit, der als junger Mann in seiner Freizeit griechische Texte aus dem Original übersetzt und schließlich den Brotberuf in einer Londoner Bank mit einer Professur vertauscht. Dieser Held aus der Universalbibliothek, dem kein noch so entlegener Text zwischen der "Historia Augusta", den apokryphen Quellen Plotins und Jacob Burckhardts Geschichte Konstantins fremd ist, kann zu Recht von sich sagen: "Während meines langen Lebens ist es mir oft gelungen, das Fürchterliche in einen Bildungsgegenstand zu verwandeln."
Während sich die Gefährten seiner Jugend für heimlich beschaffte Pornographie zu interessieren beginnen, ist Heinrich Katz fasziniert von den dunklen Seiten der Prädestinationslehre, von den Abgründen der Vorverurteilung und der Vernichtung alles Menschlichen. Das sieht auf den ersten Blick aus wie ein Musterfall von Verdrängung. Es geht Wackwitz aber gerade nicht darum, die nächtlichen Begegnungen des Jugendlichen mit dem Teufel, die ihn schweißgebadet und zitternd zurücklassen, als Phantasie eines allzu altklugen Jungen erscheinen zu lassen, der vom Dämon der Pubertät geplagt wird. Es geht ihm darum, den Teufel sowohl aus der Erklärungshoheit der Psychoanalyse wie der Geistesgeschichte zurückzuholen. Die Begegnung mit dem Leibhaftigen soll keine Metapher, sie soll eine Erfahrung sein. Für den Raum der Erzählung soll gelten, daß es den Teufel gibt: "Daß ich damals in die Hölle gesehen habe, behaupte ich noch heute."
Zu Zeiten des "Demian" war die Aufregung über den Satz "Gott ist tot" noch groß. Wackwitz polt nun die Energien um. Sein Buch ist gegen die Beschwichtigung der Mutter des zwölfjährigen Heinrich geschrieben, gegen den Satz: "Den Teufel gibt es doch nicht!" Darum läßt er den alten Gelehrten und umgekehrten Apostel die Lehre aus seinem Leben im Jahre 1998 ziehen, als Vermächtnis an eine allzu aufgeklärte Welt. Nicht der Ruf "Gott ist tot", sondern die Behauptung "Der Teufel existiert" ist heute, wenn ernst gemeint, skandalös. Darin aber liegt eine Gefahr. Denn der Teufel läßt sich nicht negieren. Wenn man ihn vollkommen abschafft, behält er seine Macht. Man kann sie ihm nur nehmen, wenn man ihn ernst nimmt und seine Abwehr einem Dämon anvertraut, der ihm gewachsen ist: der Kunst. So ungefähr läßt sich der Kern des Essays zusammenfassen, der in diesem Buch der Erzählung einer Jugend Konkurrenz macht, die dem Erzählen nicht immer bekommt. Die Verwandlung des Bösen in einen Bildungsgegenstand, die in der Biographie des Helden die ursprüngliche Erfahrung überlagert, gilt diesem Essay als Sündenfall der Moderne. Wie seine Lebenserinnerungen schreibt Heinrich Katz auch diesen Essay selbst. Gebildet genug ist er dafür. Aber man spürt doch, wie hier der kluge Autor seinem Geschöpf die Feder führt und sein Leben so konstruiert, daß es dem Essay nützt. Heinrich Katz ist ein Kind des christlich gewordenen, nicht mehr sonderlich frommen Judentums, dem der Weihnachtsbaum im Zimmer nichts nützt, als der Aufstieg der Nationalsozialisten zur Machtübernahme führt. Die bösen, groben Quälgeister aus der "Demian"-Welt haben jetzt Vorbilder in der SA, wenn sie dem beschnittenen Judenjungen die Hosen herunterlassen, und die Hölle erhält eine Physiognomie: "Gestapohölle". Im Mangel an Vorstellungskraft gegenüber dem Bösen erkennt Heinrich Katz einen der Gründe für die Ohnmacht, mit der die Generation seines Vaters der Bedrohung gegenüberstand. Die dagegengesetzte Einsicht, "daß im Innern der Menschen etwas anderes als die Vernunft haust", gehört zu den Kernsätzen des Essays in diesem Buch.
Wie Emil Sinclair seinen Demian findet auch der junge Heinrich Katz zu einem Mentor, der ihm die paradoxe Wahrheit der "anderen Welt" aufschließt. Diese Figur ist der katholische Pater Andreas. Er steigt aus der Erinnerung als Kontrastfigur zu den Selbsterfahrungsgruppen, Töpferkursen und Gebetskreisen auf, deren Termine die Zettel in der katholischen Kirche des Jahres 1998 verkündigen. Er lehrt den Jungen, daß gegenüber dem Teufel wie gegenüber Gott die Rettung in das Erzählen der Ausweg ist. "Er gab mir nie das Gefühl, daß Himmel und Hölle, Gott und Teufel nicht existieren. Aber er entzauberte sie für mich."
Das ist das gute Ende der Erzählung und des Essays zugleich, der Wiederkehr des "Demian" aus dem Geist der Ablenkungstheorie Franz Kafkas. Ihre stärksten Seiten hat diese Erzählung nicht dort, wo sie hochgebildet das Verblassen des Teufels zum Bildungsgegenstand demonstriert. Nachdrücklich haften bleibt vielmehr vor allem die Szene vom Hühnerbein, das der Erzähler auf dem Dachboden versteckt, vergißt und madengespickt wiederfindet. Im leibhaftigen Ekel gewinnt hier der Schrecken nachdrücklichere Gestalt als in allen Existenzbeweisen des Leibhaftigen. Nirgends in diesem Buch ist die Balance von Metaphysik und Leben besser gewahrt als in dem Satz, der die Müdigkeit festhält, "nachdem ich das Hühnerbein und die Hoffnung auf Gott begraben hatte".
Stephan Wackwitz ist Leiter des Goethe-Institutes in Krakau. Man darf vermuten, daß ihm der Essay über die Kulturbedeutung der Religion in der Moderne nicht bloßes Gedankenspiel ist. Oft behelfen sich westliche Intellektuelle gegenüber dem polnischen Katholizismus mit Ironie. Dieses Buch zur Apologie des Teufels ist aber erstaunlich, weil es ein frommes Buch ist.
Stephan Wackwitz: "Die Wahrheit über Sancho Pansa". Roman. Piper Verlag, München und Zürich 1999. 141 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main