?In Geschlechtsfragen bleibt niemand bei der Wahrheit.?
Berlin, Deutschland im glühend heißen ?Jahrhundertsommer? 1928. Die sexuellen Gewohnheiten von Sascha Knisch sind von besonderer Natur. Eines Abends trifft er in dem Kino, in dem er als Vorführer arbeitet, die rätselhafte Dora Wilms wieder ? seine ?Madame?. Eine Woche später ist sie tot, und Kommissar Manetti beschuldigt ihn des Mordes. Als Sascha Knisch versucht, seine Unschuld zu beweisen, gerät er in die Verstrickungen einer wissenschaftlichen Verschwörung. Was geht vor in der Stiftung für Sexualforschung? Knisch wird hineingezogen in eine Geschichte, deren rettende Wahrheit in dem liegt, was nicht geschehen ist.
Die Wahrheit über Sascha Knisch handelt von den Verkleidungen des Sexuellen, seinen Verlockungen und Verführungen und erzählt von der Liebe zwischen zwei Menschen in einem Deutschland, das am Rande der Katastrophe steht. Und vor allem ist Die Wahrheit über Sascha Knisch eine als Rätsel maskierte, scharfsinnige und komische Liebeserklärung an die Kraft der Einbildung.
Berlin, Deutschland im glühend heißen ?Jahrhundertsommer? 1928. Die sexuellen Gewohnheiten von Sascha Knisch sind von besonderer Natur. Eines Abends trifft er in dem Kino, in dem er als Vorführer arbeitet, die rätselhafte Dora Wilms wieder ? seine ?Madame?. Eine Woche später ist sie tot, und Kommissar Manetti beschuldigt ihn des Mordes. Als Sascha Knisch versucht, seine Unschuld zu beweisen, gerät er in die Verstrickungen einer wissenschaftlichen Verschwörung. Was geht vor in der Stiftung für Sexualforschung? Knisch wird hineingezogen in eine Geschichte, deren rettende Wahrheit in dem liegt, was nicht geschehen ist.
Die Wahrheit über Sascha Knisch handelt von den Verkleidungen des Sexuellen, seinen Verlockungen und Verführungen und erzählt von der Liebe zwischen zwei Menschen in einem Deutschland, das am Rande der Katastrophe steht. Und vor allem ist Die Wahrheit über Sascha Knisch eine als Rätsel maskierte, scharfsinnige und komische Liebeserklärung an die Kraft der Einbildung.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ganz am Ende rückt Roman Luckscheiter mit der Wahrheit heraus und nennt das Buch schlicht ein "Meisterwerk". Vor dem Hintergrund des "mondän-verlebten" Berlin der Goldenen Zwanziger lässt Fioreto seinen Protagonisten auf der Suche nach dem Mörder seiner Domina immer tiefer in die Grauzone des perversen Berlins hinabsinken, erzählt er. Zeit und Ort dienten aber nicht nur als Hintergrund, sondern würden selbst zum Thema in den Aussagen der Sexologen und Professoren, den Hellsichtigen des Milieus, die dunkle Jahre prophezeien; der Direktor des Sexologischen Instituts etwa sehe eine "braune", weil analfixierte Kultur heraufziehen. So wird Fioretos erzählerischer Rückblick für den Rezensenten zum "Kaleidoskop vorausahnender Apercus". Und damit nicht genug. "Wie es sich für ein Meisterwerk gehört", sei der Roman auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst, "mit der Kunst des Arrangements und der Wahrheit des Erzählens".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2003Kremeisters Lehrjahre
Drüsentrieb und Graltestikel in der Weimarer Republik: Aris Fioretos‘ Roman „Die Wahrheit über Sascha Knisch”
Anders als der Penis schienen die Hoden, literarisch gesehen, bislang wenig herzugeben. Warum? Sind die Testikel von der plakativen Projektilform des Gliedes verdrängt worden? Verführen sie mit ihren Runzeln zu sehr zum Lachen? Wir wissen es nicht, aber nun hat der schwedische Autor Aris Fioretos die Hoden zum Leitmotiv einer Geschlechterverwirrung gemacht, die politische, filmische, sexualbiologische und kriminalistische Auswüchse aufs Eleganteste miteinander kombiniert. „Die Wahrheit über Sascha Knisch” liegt nicht im nackten, vermeintlich wahren Geschlecht, sondern in der Geschichte der Weimarer Republik, in der die körperlichen und gesellschaftlichen Organe nicht mehr sind, was sie scheinen.
Berlin, im „Jahrhundertsommer” 1928: Sascha Knisch arbeitet als Filmvorführer im Kino, aber neben dieser offiziellen Tätigkeit pflegt er vor allem seinen „dunklen Trieb”. Der junge Mann trägt eine Damenbluse und eine Schleife um sein Geschlecht, als die geheimnisvolle Dora plötzlich tot auf ihrem Bett liegt. Das Problem besteht darin, dass er sich zu diesem Zeitpunkt im Kleiderschrank der Dame versteckt und kurze Zeit später des Mordes beschuldigt wird. Dora ist eine Minette, eine der Frauen, „die mit sanfter statt harter Hand zu Werke gingen, mit Einfühlsamkeit statt Rute, wenn sie Männern dabei behilflich waren, sich in Lampen oder Fußschemel, Pudel oder Schulmädchen zu verwandeln”. Ihren Beruf übt sie ohne „K. u. K.” aus, was hier „Küsse und Körperkontakt” bedeutet, und Sascha zählt zu ihren Stammkunden. Rückblickend erzählt der gebürtige Wiener, warum Mord- und Sittlichkeitsdezernat hinter ihm her sind. Doch seine Aufzeichnungen für den Kommissar – ein (erfundenes) Meisterhirn, das den (authentischen) Serienkiller Haarmann überführt hat – legen offen, dass es um mehr als einen Kriminalfall geht.
Aris Fioretos vermischt Realität und Fiktion, um das intellektuelle Beben nachzuzeichnen, das die Weimarer Republik nicht nur angesichts der „sexuellen Frage” ergriffen hat. Es wimmelt von Nudisten, Bubiköpfen, Filmschauspielern und Schauplätzen, die echten Vorbildern nachempfunden, aber phantasievoll verfremdet sind. Während die plumpe Virilität der Völkischen immer deutlicher ins Gesichtsfeld rückt und die Rassenhygieniker an der biologischen Erhebung der Deutschen arbeiten, sind revolutionäre Wissenschaftler der exotischen Vielfalt des Geschlechts auf der Spur.
Auch die „Stiftung für Sexualforschung”, deren Mitarbeiter eine entscheidende Rolle in diesem Gender-Thriller spielen, gleicht ihrem historischen Vorbild wie ein Ei dem anderen. Der Institutsleiter heißt zwar anders, aber seine Theorien sind die des berühmten zeitgenössischen Sexualbiologen Magnus Hirschfeld (1868-1935). Das „graue Geschlecht” ersetze das männlich-weibliche Raster durch eine unendliche Stufenfolge; in jedem Menschen seien die Hormone Andrin und Gynecin in einem Mischverhältnis vorhanden, so dass reine Männlichkeit oder Weiblichkeit zu Mythen erklärt werden müssen. Doch eine zwielichtige „Bruderschaft” bastelt mit frankensteinhaftem Eifer am Gegenteil: Sie will durch einen chirurgisch herbeigeführten Gynecinstop hundertprozentige Männlichkeit heranzüchten. Die ironische Pointe besteht darin, dass das Gesellschaftsmodell der sinistren Bruderschaft der Physiologie der Hoden folgt. So, wie der Hodensack von den Kremaster-Muskeln angehoben wird, braucht die Gesellschaft zu ihrer Erhebung titanische Führer – die folgerichtig den eher komischen Ehrentitel „Kremeister” tragen. „Der Hodensack ist unser Gral, der ideale Samen unser Ziel!” formuliert ein Mitglied der Bruderschaft, die endlich „reines Andrin aus edlen deutschen Drüsen” gewinnen will.
Mit diesem irrwitzigen Einfall überbietet Aris Fioretos sämtliche Organmetaphern, die seit dem Entstehen des Biologismus im 19. Jahrhundert das Soziale in eine angeblich naturwüchsige Ordnung zwängen. Sogar die Berliner Topographie ähnelt den Testikeln, mit ihrem östlichen und westlichen Teil, zwischen denen sich ein samenleiterartiger Fluss schlängelt. Die Geschichte hüpft zwischen den paarigen Keimdrüsen hin und her, die alles Gegensätzliche verkörpern: Männlich und Weiblich, Ost und West, Sascha und Dora, A und O, Andrin und Gynecin, linkes und rechtes Forscherspektrum durchdringen sich auf mysteriöse Weise. Auch die Stiftung für Sexualforschung hat ungewollt ein Forschermonster genährt, das die sexualbiologischen Theorien auf Zauberlehrlingsweise einsetzt. Paradox scheint, dass die Verwandlungskünstlerin Dora von der „nackten Wahrheit” träumt: bei den Nudisten vermutet sie eine unverfälschte Humanität. Aufklärungsfilme schlagen in Pornographie um, Science geht permanent in Fiction über.
Die Fundamente dieser überbordenden Geschichte sind in postmodernen Körpertheorien zu finden: Von den Wunschmaschinen, die Deleuze und Guattari im „Anti-Ödipus” entwarfen, über Foucaults „Sexualität und Wahrheit” bis zum feministischen „Gender Trouble” Judith Butlers spielt der Roman mit den Utopien der Vermischung und Neuzusammensetzung des Geschlechts. Den ersten Lehrsatz dieser Theorien – der Körper ist ein Konstrukt – führt Sascha Knisch manchmal geradezu lehrbuchhaft vor. Sprachlich erweist sich Fioretos als Meister des immer nur angedeuteten, niemals enthüllten Schlüpfrigen.
Bereits in seinem ersten Roman „Die Seelensucherin” hat der 1960 geborene Autor, Sohn griechisch-österreichischer Eltern und Übersetzer von Hölderlin und Nabokov, die Nahtstellen zwischen Wissenschaft, Geschichte und Fiktion subtil umspielt und aufgelöst. Seine historisch-dokumentarisch grundierte Version von Science Fiction gehört zu einer der vielversprechendsten literarischen Tendenzen der letzten Jahre. Autoren wie Patricia Duncker, Jonathan Lethem oder Jeffrey Eugenides verwandeln Körpertheorien, Genetik, Krankheitsbilder und Wissenschaftsgeschichte in Romane; sie betreiben auf diese Weise eine Form der literarischen Anthropologie, die von akademischem Staub befreit ist. Oder, weniger emphatisch: Graue Theorie und gute Geschichten können sich näher sein, als mancher vermutet.
JUTTA PERSON
ARIS FIORETOS: Die Wahrheit über Sascha Knisch. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. DuMont Verlag, Köln 2003. 351 Seiten, 22,90 Euro.
Der Sexualforscher Magnus Hirschfeld
(sitzend) mit dem Ehepaar Paul und Maria Krische (sitzend) und zwei unbekannten Nackten auf dem Freikörperkulturgelände Motzener See bei Berlin um 1925.
Foto: Bilderbuch der Körperkulturschule Koch, Leipzig 1933
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Drüsentrieb und Graltestikel in der Weimarer Republik: Aris Fioretos‘ Roman „Die Wahrheit über Sascha Knisch”
Anders als der Penis schienen die Hoden, literarisch gesehen, bislang wenig herzugeben. Warum? Sind die Testikel von der plakativen Projektilform des Gliedes verdrängt worden? Verführen sie mit ihren Runzeln zu sehr zum Lachen? Wir wissen es nicht, aber nun hat der schwedische Autor Aris Fioretos die Hoden zum Leitmotiv einer Geschlechterverwirrung gemacht, die politische, filmische, sexualbiologische und kriminalistische Auswüchse aufs Eleganteste miteinander kombiniert. „Die Wahrheit über Sascha Knisch” liegt nicht im nackten, vermeintlich wahren Geschlecht, sondern in der Geschichte der Weimarer Republik, in der die körperlichen und gesellschaftlichen Organe nicht mehr sind, was sie scheinen.
Berlin, im „Jahrhundertsommer” 1928: Sascha Knisch arbeitet als Filmvorführer im Kino, aber neben dieser offiziellen Tätigkeit pflegt er vor allem seinen „dunklen Trieb”. Der junge Mann trägt eine Damenbluse und eine Schleife um sein Geschlecht, als die geheimnisvolle Dora plötzlich tot auf ihrem Bett liegt. Das Problem besteht darin, dass er sich zu diesem Zeitpunkt im Kleiderschrank der Dame versteckt und kurze Zeit später des Mordes beschuldigt wird. Dora ist eine Minette, eine der Frauen, „die mit sanfter statt harter Hand zu Werke gingen, mit Einfühlsamkeit statt Rute, wenn sie Männern dabei behilflich waren, sich in Lampen oder Fußschemel, Pudel oder Schulmädchen zu verwandeln”. Ihren Beruf übt sie ohne „K. u. K.” aus, was hier „Küsse und Körperkontakt” bedeutet, und Sascha zählt zu ihren Stammkunden. Rückblickend erzählt der gebürtige Wiener, warum Mord- und Sittlichkeitsdezernat hinter ihm her sind. Doch seine Aufzeichnungen für den Kommissar – ein (erfundenes) Meisterhirn, das den (authentischen) Serienkiller Haarmann überführt hat – legen offen, dass es um mehr als einen Kriminalfall geht.
Aris Fioretos vermischt Realität und Fiktion, um das intellektuelle Beben nachzuzeichnen, das die Weimarer Republik nicht nur angesichts der „sexuellen Frage” ergriffen hat. Es wimmelt von Nudisten, Bubiköpfen, Filmschauspielern und Schauplätzen, die echten Vorbildern nachempfunden, aber phantasievoll verfremdet sind. Während die plumpe Virilität der Völkischen immer deutlicher ins Gesichtsfeld rückt und die Rassenhygieniker an der biologischen Erhebung der Deutschen arbeiten, sind revolutionäre Wissenschaftler der exotischen Vielfalt des Geschlechts auf der Spur.
Auch die „Stiftung für Sexualforschung”, deren Mitarbeiter eine entscheidende Rolle in diesem Gender-Thriller spielen, gleicht ihrem historischen Vorbild wie ein Ei dem anderen. Der Institutsleiter heißt zwar anders, aber seine Theorien sind die des berühmten zeitgenössischen Sexualbiologen Magnus Hirschfeld (1868-1935). Das „graue Geschlecht” ersetze das männlich-weibliche Raster durch eine unendliche Stufenfolge; in jedem Menschen seien die Hormone Andrin und Gynecin in einem Mischverhältnis vorhanden, so dass reine Männlichkeit oder Weiblichkeit zu Mythen erklärt werden müssen. Doch eine zwielichtige „Bruderschaft” bastelt mit frankensteinhaftem Eifer am Gegenteil: Sie will durch einen chirurgisch herbeigeführten Gynecinstop hundertprozentige Männlichkeit heranzüchten. Die ironische Pointe besteht darin, dass das Gesellschaftsmodell der sinistren Bruderschaft der Physiologie der Hoden folgt. So, wie der Hodensack von den Kremaster-Muskeln angehoben wird, braucht die Gesellschaft zu ihrer Erhebung titanische Führer – die folgerichtig den eher komischen Ehrentitel „Kremeister” tragen. „Der Hodensack ist unser Gral, der ideale Samen unser Ziel!” formuliert ein Mitglied der Bruderschaft, die endlich „reines Andrin aus edlen deutschen Drüsen” gewinnen will.
Mit diesem irrwitzigen Einfall überbietet Aris Fioretos sämtliche Organmetaphern, die seit dem Entstehen des Biologismus im 19. Jahrhundert das Soziale in eine angeblich naturwüchsige Ordnung zwängen. Sogar die Berliner Topographie ähnelt den Testikeln, mit ihrem östlichen und westlichen Teil, zwischen denen sich ein samenleiterartiger Fluss schlängelt. Die Geschichte hüpft zwischen den paarigen Keimdrüsen hin und her, die alles Gegensätzliche verkörpern: Männlich und Weiblich, Ost und West, Sascha und Dora, A und O, Andrin und Gynecin, linkes und rechtes Forscherspektrum durchdringen sich auf mysteriöse Weise. Auch die Stiftung für Sexualforschung hat ungewollt ein Forschermonster genährt, das die sexualbiologischen Theorien auf Zauberlehrlingsweise einsetzt. Paradox scheint, dass die Verwandlungskünstlerin Dora von der „nackten Wahrheit” träumt: bei den Nudisten vermutet sie eine unverfälschte Humanität. Aufklärungsfilme schlagen in Pornographie um, Science geht permanent in Fiction über.
Die Fundamente dieser überbordenden Geschichte sind in postmodernen Körpertheorien zu finden: Von den Wunschmaschinen, die Deleuze und Guattari im „Anti-Ödipus” entwarfen, über Foucaults „Sexualität und Wahrheit” bis zum feministischen „Gender Trouble” Judith Butlers spielt der Roman mit den Utopien der Vermischung und Neuzusammensetzung des Geschlechts. Den ersten Lehrsatz dieser Theorien – der Körper ist ein Konstrukt – führt Sascha Knisch manchmal geradezu lehrbuchhaft vor. Sprachlich erweist sich Fioretos als Meister des immer nur angedeuteten, niemals enthüllten Schlüpfrigen.
Bereits in seinem ersten Roman „Die Seelensucherin” hat der 1960 geborene Autor, Sohn griechisch-österreichischer Eltern und Übersetzer von Hölderlin und Nabokov, die Nahtstellen zwischen Wissenschaft, Geschichte und Fiktion subtil umspielt und aufgelöst. Seine historisch-dokumentarisch grundierte Version von Science Fiction gehört zu einer der vielversprechendsten literarischen Tendenzen der letzten Jahre. Autoren wie Patricia Duncker, Jonathan Lethem oder Jeffrey Eugenides verwandeln Körpertheorien, Genetik, Krankheitsbilder und Wissenschaftsgeschichte in Romane; sie betreiben auf diese Weise eine Form der literarischen Anthropologie, die von akademischem Staub befreit ist. Oder, weniger emphatisch: Graue Theorie und gute Geschichten können sich näher sein, als mancher vermutet.
JUTTA PERSON
ARIS FIORETOS: Die Wahrheit über Sascha Knisch. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. DuMont Verlag, Köln 2003. 351 Seiten, 22,90 Euro.
Der Sexualforscher Magnus Hirschfeld
(sitzend) mit dem Ehepaar Paul und Maria Krische (sitzend) und zwei unbekannten Nackten auf dem Freikörperkulturgelände Motzener See bei Berlin um 1925.
Foto: Bilderbuch der Körperkulturschule Koch, Leipzig 1933
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2003Allein der Absatz macht die Frau
Helle Triebfreude: Aris Fioretos durchleuchtet die zwanziger Jahre
Die revolutionären Subjekte des zwanzigsten Jahrhunderts, das waren nicht die Proletarier, sondern die Genitalien. Deshalb ist es sehr plausibel, daß der Roman von Aris Fioretos über die wilden Zwanziger mit beherztem Zugriff unterhalb der Gürtellinie ansetzt. "Die Wahrheit über Sascha Knisch" ist ein raffiniertes Buch der geschlechtlichen Verwandlungen und Täuschungen, geschrieben von einem Autor mit schwedischem Paß, griechischem Namen, österreichischen Vorfahren und Berliner Adresse.
Kommissar Manetti, das "Meisterhirn", entpuppt sich zur Überraschung des Ich-Erzählers Knisch als Frau, und auch der Sexualwissenschaftler Felix Karp ist kein Mann. Aber warum wundert Knisch sich eigentlich darüber? Wird der knapp dreißigjährige Kinomaschinist doch selbst in Zimmer 202 eines Berliner Stundenhotels regelmäßig zum Mädchen. Es ist eine harte Zeit (die Handlung spielt im hitzebrütenden Sommer 1928), und für eine schöne Stunde trägt Knisch schon mal die gesamte Monatsmiete zu seiner "Madame" namens Dora Wilms.
Gleich im ersten Kapitel sitzt das Mädchen mit einer Schleife um den Penis in Doras Kleiderschrank. Dort hinein mußte Knisch rasch verschwinden, weil plötzlich noch jemand an der Tür klingelte. Als er nach einer träumerischen Stunde im Dunkeln eigenmächtig aus dem Möbel steigt, liegt Dora tot auf dem Bett. Ein Krimi also, mit furiosem Auftakt. Wer immer Dora getötet hat, Knisch ist jetzt sehr verdächtig. Bald nimmt die Polizei seine Witterung auf. Wie es im Kriminalroman, mit dessen Mustern Fioretos spielt, Tradition hat, rollt Knisch nun in Eigenregie und mit hohem Risiko den Fall auf, in den er unversehens verwickelt wurde.
Wer hatte Grund, die Prostituierte zu ermorden, mit der er sich nicht nur durch die enthusiastischen Stunden in Zimmer 202, sondern längst auch durch eine an Liebe grenzende Freundschaft verbunden fühlte? Die Wahrheit ist verwinkelt und neigt dazu, sich zu entziehen. Auf jeden Fall reicht sie weit in die Vergangenheit zurück und nimmt bald die Züge einer Verschwörung an. In deren Mittelpunkt steht das Institut des Medizinalrats Froehlich, unschwer als literarische Verarbeitung des von Magnus Hirschfeld 1919 gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft zu erkennen. Es geht um heikles Filmmaterial, illegale Adoptionen und diverse Sonderformen der Lust.
Mit viel Witz und Verstand inszeniert der 1960 geborene Fioretos in seinem zweiten Roman den Berlin-Mythos der großen sexuellen Ökumene, in der jeder nach seiner Façon selig werden mochte. Froehlich/Hirschfeld erscheint als Mann der Emanzipation und libidinösen Selbstbestimmung. Keine Veranlagung ist unwichtig, keine Abweichung uninteressant! Diese Devise, die heute eher wie das einschaltquotenträchtige Sendekonzept mancher Fernsehmagazine klingt, stand seinerzeit für eine heilig-aufklärerische Mission. Froehlich/Hirschfeld war der Einstein des Sex, der auf seinem Gebiet eine Relativitätstheorie entwickelte. Milliarden Menschen und nur zwei Geschlechter? Hirschfeld sah statt dessen unendlich viele Grade, Abstufungen, Mischungen. Das Bollwerk des rigiden Geschlechtsunterschieds abzutragen lag im Stil der Zeit. Man erinnere sich, wie emphatisch der sonst so ironische Hans Castorp im "Zauberberg" für den unmännlichen Mann und die Frau ohne Weibchenattitüde plädiert.
Es waren die großen Jahre der sexuellen Evangelisten. Die vagabundierende Erlösungssehnsucht, die politisch ins "Dritte Reich" mündete, nahm sich auch des Unterleibs an. Gegenspieler von Froehlich und seiner "Weltliga für Sexualreform" ist der finstere Männerbündler Horst Hauptstein. Die Testikel sind ihm das Symbol für Kameradschaft, denn sie sind immer zu zweit. "Der Hodensack ist unser Gral, der ideale Samen unser Ziel." Bis hin zu den sogenannten "Hodenfilmen" hat Fioretos den schrägen sexuellen Diskurs der Zwanziger auch in den präfaschistischen Varianten rekonstruiert. Weniger Mühe hat er allerdings auf den Schauplatz Berlin verwendet. Es gibt mäßig originelle phallische Assoziationen (der ragende Funkturm), und überhaupt ähnele die Topographie der Stadt einem Hodensack. Aber was ähnelt, so gesehen, eigentlich nicht einem Hodensack? Ansonsten begnügt sich Fioretos mit ein paar Kulissenwänden. Zeitkolorit wird durch einige atmosphärische Stichworte vermittelt. Wie in vielen neueren Berlin-Romanen dient die Stadt vor allem als Projektionsfläche und hat wenig mit der brodelnden Lebenswelt zu tun, die Döblin einst beschrieb.
Der Roman handelt auf fast jeder Seite vom Sex und bleibt dabei doch eigenartig dezent. Das Archiv für Sexualforschung öffnet seine Pforten, dem Leser präsentieren sich Fetische, pneumatische Vulven und andere Lustmaschinen. Sehr schön das alles und noch schöner, wenn Knisch eine ergiebige Reflexion über jene fünf Zentimeter liefert, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern ausmachen: nämlich die Schuhabsätze, die den Schwerpunkt verschieben und dadurch den ganzen Körper der Frau umformen, vom Wadenmuskel bis zur Schulterhaltung. Es gibt glänzende Szenen der Maskerade, wenn Sascha als Dame lernt, wie man sich in einem Rock bewegt.
Zunehmend vermißt man jedoch das, was literarische Werke zum Thema Sex einmal so aufregend machte. "Die Wahrheit über Sascha Knisch" ist ein historischer Roman aus der Pionierzeit der Sexualität, als das Brechen von Tabus noch etwas Avantgardistisches hatte. Inzwischen aber hat sich längst ein kulturwissenschaftlicher Blick eingestellt, der die Spielarten der Pornographie mit der gleichen entspannten Neugier mustert wie die Kulturgeschichte des Staubsaugers. Er bestimmt die Schreibweise des Romans. In einem prüden Text von Stifter ist mehr Sog ins Abgründige als hier, wo jede Vorhautfalte ausgeleuchtet und eine Erektion über eine ganze Seite mit allerdings biedermeierlicher Innigkeit beschrieben wird.
"O dunkler Trieb, nichts hast du mir verwehrt / selbst drei Jahre im Zuchthaus mir verehrt". Sooft dieser Songtext auch zitiert wird, sosehr Knisch versichert, er habe mit Dora "sagenhafte Schändlichkeiten" getrieben, der Trieb will einem partout nicht "dunkel" vorkommen. Darin besteht der Unterschied zu Nabokov, den Fioretos ins Schwedische übersetzt und an dessen Beschreibungskunst er seinen Stil geschult hat. Der Titel spielt auf "Das wahre Leben des Sebastian Knight" an, von dem Sascha Knisch die Initialen hat. Aber die Mischung aus zarter Obsession und Aggression, aus Poesie und Polemik, wie sie die Beichten von Nabokovs Ästheten auf Abwegen auszeichnet, liegt fern. Statt dessen werden die Wahrheiten der Gendertheorie eingeschärft: "Letzten Endes hat das Geschlecht eines Menschen nur wenig mit seinen Genitalien zu tun. Die Wahrheit muß nicht nackt sein." Nein, man kann ihr auch ein Schleifchen umbinden.
Geschlecht ist Konstruktion, und Roman ist auch Konstruktion. Aber in dieser Hinsicht hat Fioretos dann doch zuviel des Guten getan. Die labyrinthische Handlung wirkt vor allem im letzten Drittel blaß und ausgedacht. Wenig überzeugt der Bericht über Doras uneheliches Kind, das zudem die Frucht eines Inzests mit dem Bruder war. Bald ist dem Leser, als ob sich hinter allen erzählerischen Kniffen und aller diskursiven Versiertheit eine alte, sentimentale Geschichte verberge. Wir erfahren: Auch die Hure ist nicht bloß eine schöne Benutzeroberfläche, sondern ein Mensch mit Innenleben und knurrendem Magen.
Bei allen Vorzügen des Buches - das Gewand des Kriminalromans erscheint dem Stoff zunehmend aufgezwungen. Es gehört zum Krimi, den Leser auf falsche Fährten zu schicken. Aber dann muß man ihn an der übernächsten Ecke auch wieder abholen. Hier jedoch ermüdet über dem spekulativen Variantenreichtum das Interesse, und es ist fast erloschen, wenn in einem letzten postmodernen Hakenschlagen noch angedeutet wird, daß in Zimmer 202 vielleicht überhaupt kein Mord geschah.
In der Nachschrift werden die freizügigen zwanziger Jahre ironisch verabschiedet. Der Gegenspieler von Manetti, der mit den Nazis sympathisierende Kommissar Wickert, behält das letzte Wort und darf sich - auf den Mai 1933 zurückblickend - über die "gelungene Räumung des Instituts für Sexualforschung" freuen. Und darüber, daß der liberalen "Sittenlosigkeit" der Kampf angesagt ist. Er spricht dem Roman, den der Leser gerade gelesen hat und der sich etwas unvermittelt als Knischs Rechtfertigungsschrift für Manetti herausstellt, das Urteil: "Widernatürliche Literatur dieser Art muß verboten werden. Und im Anschluß dem gleichen Schicksal überantwortet werden wie Froehlichs Bibliothek im letzten Jahr." Daß ein Autor des Jahres 2003 sein Werk am Ende augenzwinkernd zur Bücherverbrennung vorschlägt, ist gewiß ein kühner Effekt. Oder bloß Kühnheit als Effekt? Aris Fioretos ist ein außerordentlich begabter Autor, und nach Lektüre dieses Romans kann man sich vorstellen, daß er noch bessere schreiben wird.
WOLFGANG SCHNEIDER
Aris Fioretos: "Die Wahrheit über Sascha Knisch". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Paul Berf. Dumont Buchverlag, Köln 2003. 351 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helle Triebfreude: Aris Fioretos durchleuchtet die zwanziger Jahre
Die revolutionären Subjekte des zwanzigsten Jahrhunderts, das waren nicht die Proletarier, sondern die Genitalien. Deshalb ist es sehr plausibel, daß der Roman von Aris Fioretos über die wilden Zwanziger mit beherztem Zugriff unterhalb der Gürtellinie ansetzt. "Die Wahrheit über Sascha Knisch" ist ein raffiniertes Buch der geschlechtlichen Verwandlungen und Täuschungen, geschrieben von einem Autor mit schwedischem Paß, griechischem Namen, österreichischen Vorfahren und Berliner Adresse.
Kommissar Manetti, das "Meisterhirn", entpuppt sich zur Überraschung des Ich-Erzählers Knisch als Frau, und auch der Sexualwissenschaftler Felix Karp ist kein Mann. Aber warum wundert Knisch sich eigentlich darüber? Wird der knapp dreißigjährige Kinomaschinist doch selbst in Zimmer 202 eines Berliner Stundenhotels regelmäßig zum Mädchen. Es ist eine harte Zeit (die Handlung spielt im hitzebrütenden Sommer 1928), und für eine schöne Stunde trägt Knisch schon mal die gesamte Monatsmiete zu seiner "Madame" namens Dora Wilms.
Gleich im ersten Kapitel sitzt das Mädchen mit einer Schleife um den Penis in Doras Kleiderschrank. Dort hinein mußte Knisch rasch verschwinden, weil plötzlich noch jemand an der Tür klingelte. Als er nach einer träumerischen Stunde im Dunkeln eigenmächtig aus dem Möbel steigt, liegt Dora tot auf dem Bett. Ein Krimi also, mit furiosem Auftakt. Wer immer Dora getötet hat, Knisch ist jetzt sehr verdächtig. Bald nimmt die Polizei seine Witterung auf. Wie es im Kriminalroman, mit dessen Mustern Fioretos spielt, Tradition hat, rollt Knisch nun in Eigenregie und mit hohem Risiko den Fall auf, in den er unversehens verwickelt wurde.
Wer hatte Grund, die Prostituierte zu ermorden, mit der er sich nicht nur durch die enthusiastischen Stunden in Zimmer 202, sondern längst auch durch eine an Liebe grenzende Freundschaft verbunden fühlte? Die Wahrheit ist verwinkelt und neigt dazu, sich zu entziehen. Auf jeden Fall reicht sie weit in die Vergangenheit zurück und nimmt bald die Züge einer Verschwörung an. In deren Mittelpunkt steht das Institut des Medizinalrats Froehlich, unschwer als literarische Verarbeitung des von Magnus Hirschfeld 1919 gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft zu erkennen. Es geht um heikles Filmmaterial, illegale Adoptionen und diverse Sonderformen der Lust.
Mit viel Witz und Verstand inszeniert der 1960 geborene Fioretos in seinem zweiten Roman den Berlin-Mythos der großen sexuellen Ökumene, in der jeder nach seiner Façon selig werden mochte. Froehlich/Hirschfeld erscheint als Mann der Emanzipation und libidinösen Selbstbestimmung. Keine Veranlagung ist unwichtig, keine Abweichung uninteressant! Diese Devise, die heute eher wie das einschaltquotenträchtige Sendekonzept mancher Fernsehmagazine klingt, stand seinerzeit für eine heilig-aufklärerische Mission. Froehlich/Hirschfeld war der Einstein des Sex, der auf seinem Gebiet eine Relativitätstheorie entwickelte. Milliarden Menschen und nur zwei Geschlechter? Hirschfeld sah statt dessen unendlich viele Grade, Abstufungen, Mischungen. Das Bollwerk des rigiden Geschlechtsunterschieds abzutragen lag im Stil der Zeit. Man erinnere sich, wie emphatisch der sonst so ironische Hans Castorp im "Zauberberg" für den unmännlichen Mann und die Frau ohne Weibchenattitüde plädiert.
Es waren die großen Jahre der sexuellen Evangelisten. Die vagabundierende Erlösungssehnsucht, die politisch ins "Dritte Reich" mündete, nahm sich auch des Unterleibs an. Gegenspieler von Froehlich und seiner "Weltliga für Sexualreform" ist der finstere Männerbündler Horst Hauptstein. Die Testikel sind ihm das Symbol für Kameradschaft, denn sie sind immer zu zweit. "Der Hodensack ist unser Gral, der ideale Samen unser Ziel." Bis hin zu den sogenannten "Hodenfilmen" hat Fioretos den schrägen sexuellen Diskurs der Zwanziger auch in den präfaschistischen Varianten rekonstruiert. Weniger Mühe hat er allerdings auf den Schauplatz Berlin verwendet. Es gibt mäßig originelle phallische Assoziationen (der ragende Funkturm), und überhaupt ähnele die Topographie der Stadt einem Hodensack. Aber was ähnelt, so gesehen, eigentlich nicht einem Hodensack? Ansonsten begnügt sich Fioretos mit ein paar Kulissenwänden. Zeitkolorit wird durch einige atmosphärische Stichworte vermittelt. Wie in vielen neueren Berlin-Romanen dient die Stadt vor allem als Projektionsfläche und hat wenig mit der brodelnden Lebenswelt zu tun, die Döblin einst beschrieb.
Der Roman handelt auf fast jeder Seite vom Sex und bleibt dabei doch eigenartig dezent. Das Archiv für Sexualforschung öffnet seine Pforten, dem Leser präsentieren sich Fetische, pneumatische Vulven und andere Lustmaschinen. Sehr schön das alles und noch schöner, wenn Knisch eine ergiebige Reflexion über jene fünf Zentimeter liefert, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern ausmachen: nämlich die Schuhabsätze, die den Schwerpunkt verschieben und dadurch den ganzen Körper der Frau umformen, vom Wadenmuskel bis zur Schulterhaltung. Es gibt glänzende Szenen der Maskerade, wenn Sascha als Dame lernt, wie man sich in einem Rock bewegt.
Zunehmend vermißt man jedoch das, was literarische Werke zum Thema Sex einmal so aufregend machte. "Die Wahrheit über Sascha Knisch" ist ein historischer Roman aus der Pionierzeit der Sexualität, als das Brechen von Tabus noch etwas Avantgardistisches hatte. Inzwischen aber hat sich längst ein kulturwissenschaftlicher Blick eingestellt, der die Spielarten der Pornographie mit der gleichen entspannten Neugier mustert wie die Kulturgeschichte des Staubsaugers. Er bestimmt die Schreibweise des Romans. In einem prüden Text von Stifter ist mehr Sog ins Abgründige als hier, wo jede Vorhautfalte ausgeleuchtet und eine Erektion über eine ganze Seite mit allerdings biedermeierlicher Innigkeit beschrieben wird.
"O dunkler Trieb, nichts hast du mir verwehrt / selbst drei Jahre im Zuchthaus mir verehrt". Sooft dieser Songtext auch zitiert wird, sosehr Knisch versichert, er habe mit Dora "sagenhafte Schändlichkeiten" getrieben, der Trieb will einem partout nicht "dunkel" vorkommen. Darin besteht der Unterschied zu Nabokov, den Fioretos ins Schwedische übersetzt und an dessen Beschreibungskunst er seinen Stil geschult hat. Der Titel spielt auf "Das wahre Leben des Sebastian Knight" an, von dem Sascha Knisch die Initialen hat. Aber die Mischung aus zarter Obsession und Aggression, aus Poesie und Polemik, wie sie die Beichten von Nabokovs Ästheten auf Abwegen auszeichnet, liegt fern. Statt dessen werden die Wahrheiten der Gendertheorie eingeschärft: "Letzten Endes hat das Geschlecht eines Menschen nur wenig mit seinen Genitalien zu tun. Die Wahrheit muß nicht nackt sein." Nein, man kann ihr auch ein Schleifchen umbinden.
Geschlecht ist Konstruktion, und Roman ist auch Konstruktion. Aber in dieser Hinsicht hat Fioretos dann doch zuviel des Guten getan. Die labyrinthische Handlung wirkt vor allem im letzten Drittel blaß und ausgedacht. Wenig überzeugt der Bericht über Doras uneheliches Kind, das zudem die Frucht eines Inzests mit dem Bruder war. Bald ist dem Leser, als ob sich hinter allen erzählerischen Kniffen und aller diskursiven Versiertheit eine alte, sentimentale Geschichte verberge. Wir erfahren: Auch die Hure ist nicht bloß eine schöne Benutzeroberfläche, sondern ein Mensch mit Innenleben und knurrendem Magen.
Bei allen Vorzügen des Buches - das Gewand des Kriminalromans erscheint dem Stoff zunehmend aufgezwungen. Es gehört zum Krimi, den Leser auf falsche Fährten zu schicken. Aber dann muß man ihn an der übernächsten Ecke auch wieder abholen. Hier jedoch ermüdet über dem spekulativen Variantenreichtum das Interesse, und es ist fast erloschen, wenn in einem letzten postmodernen Hakenschlagen noch angedeutet wird, daß in Zimmer 202 vielleicht überhaupt kein Mord geschah.
In der Nachschrift werden die freizügigen zwanziger Jahre ironisch verabschiedet. Der Gegenspieler von Manetti, der mit den Nazis sympathisierende Kommissar Wickert, behält das letzte Wort und darf sich - auf den Mai 1933 zurückblickend - über die "gelungene Räumung des Instituts für Sexualforschung" freuen. Und darüber, daß der liberalen "Sittenlosigkeit" der Kampf angesagt ist. Er spricht dem Roman, den der Leser gerade gelesen hat und der sich etwas unvermittelt als Knischs Rechtfertigungsschrift für Manetti herausstellt, das Urteil: "Widernatürliche Literatur dieser Art muß verboten werden. Und im Anschluß dem gleichen Schicksal überantwortet werden wie Froehlichs Bibliothek im letzten Jahr." Daß ein Autor des Jahres 2003 sein Werk am Ende augenzwinkernd zur Bücherverbrennung vorschlägt, ist gewiß ein kühner Effekt. Oder bloß Kühnheit als Effekt? Aris Fioretos ist ein außerordentlich begabter Autor, und nach Lektüre dieses Romans kann man sich vorstellen, daß er noch bessere schreiben wird.
WOLFGANG SCHNEIDER
Aris Fioretos: "Die Wahrheit über Sascha Knisch". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Paul Berf. Dumont Buchverlag, Köln 2003. 351 S., geb., 22,90 [Euro].
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"Dieser Roman ist so intelligent wie eindrucksvoll und ungeheuer unterhaltsam. Wie gewohnt erweist sich Fioretos als eine höchst originelle Stimme." (Göteborgs-Posten)
"Die Wahrheit über Sascha Knisch ist wahrhaft großartig. Gefühlvoll mischt Fioretos historische Fakten mit wildester Fiktion, nicht so sehr, um den Leser auszutricksen, als um die nackte Wahrheit hervorzuheben - oder vielmehr: um zu zeigen, dass die Wahrheit nicht immer nackt ist." (Upsala Nya Tidning)
"Scharfsinnige Unterhaltung, und wie jede hat diese eine Botschaft zu verkünden. Aris Fioretos ist geschickt bis zur Gerissenheit. Er beherrscht Anspielungen und Parodie ebenso wie Schauplätze und Atmosphäre. Dabei präsentiert er eine 30er Jahre-Matinee genauso überzeugend, wie er die Detektivgeschichten alter Zeiten verulkt." (Sydsvenska Dagbladet)
"Die Wahrheit über Sascha Knisch ist wahrhaft großartig. Gefühlvoll mischt Fioretos historische Fakten mit wildester Fiktion, nicht so sehr, um den Leser auszutricksen, als um die nackte Wahrheit hervorzuheben - oder vielmehr: um zu zeigen, dass die Wahrheit nicht immer nackt ist." (Upsala Nya Tidning)
"Scharfsinnige Unterhaltung, und wie jede hat diese eine Botschaft zu verkünden. Aris Fioretos ist geschickt bis zur Gerissenheit. Er beherrscht Anspielungen und Parodie ebenso wie Schauplätze und Atmosphäre. Dabei präsentiert er eine 30er Jahre-Matinee genauso überzeugend, wie er die Detektivgeschichten alter Zeiten verulkt." (Sydsvenska Dagbladet)