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Unerzogen, aufsässig, unverbesserlich - wer sich in der DDR nicht zur staatskonformen Persönlichkeit formen lassen wollte, erhielt solche Attribute und wurde oft in Umerziehungsheimen, Spezialkinderheimen, Jugendwerkhöfen weggesperrt. Denn Angepasstheit und das Funktionieren im Kollektiv galten der SED als unverzichtbar für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. In das Leben renitenter Kinder und Jugendlicher wurde massiv eingegriffen, ihre Menschenrechte trat man mit Füßen. Viele von ihnen sind bis heute traumatisiert von den psychischen und physischen Misshandlungen. Grit und Niklas…mehr

Produktbeschreibung
Unerzogen, aufsässig, unverbesserlich - wer sich in der DDR nicht zur staatskonformen Persönlichkeit formen lassen wollte, erhielt solche Attribute und wurde oft in Umerziehungsheimen, Spezialkinderheimen, Jugendwerkhöfen weggesperrt. Denn Angepasstheit und das Funktionieren im Kollektiv galten der SED als unverzichtbar für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. In das Leben renitenter Kinder und Jugendlicher wurde massiv eingegriffen, ihre Menschenrechte trat man mit Füßen. Viele von ihnen sind bis heute traumatisiert von den psychischen und physischen Misshandlungen. Grit und Niklas Poppe erklären anhand berührender Schicksale dieses wenig beachtete brachiale Umerziehungssystem und betrachten auch den Umgang mit "Schwererziehbaren" zur NS-Zeit, das Schicksal der "Verdingkinder" in der Schweiz sowie fragwürdige Methoden in der Bundesrepublik und in Heimen der Gegenwart.
Autorenporträt
Grit Poppe, geboren 1964 in Boltenhagen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und arbeitet als freiberufliche Autorin. Ihr Jugendroman Weggesperrt wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Für den Jugendroman Verraten erhielt sie den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis. Zuletzt erschienen sind das Sachbuch Die Weggesperrten. Umerziehung in der DDR - Schicksale von Kindern und Jugendlichen, zusammen mit Niklas Poppe, sowie der Kriminalroman Rabenkinder. Die Akte Torgau. Sie lebt in Potsdam. https://www.grit-poppe.de
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Daniela Münkel hält den Band von Grit Poppe und Niklas Poppe über die Spezialheime für Schwererziehbare in der DDR für wichtig. Nicht nur geben die Autoren mit beklemmenden Zeitzeugenberichten den Opfern eine Stimme, sie untersuchen auch systematisch und komparativ Heime in der DDR, im NS-Staat, in der BRD und der Schweiz, ohne zu nivellieren, erklärt Münkel. Die Rezensentin erfährt Wissenswertes über die Ursprünge der "schwarzen Pädagogik" mit harten Strafen, Missbrauch, Ausbeutung und reglementierten Tagesabläufen, lernt das System der DDR-Einrichtungen mit Sonder- und Spezialheimen und Jugendarbeitslagern kennen und erhält statistische Angaben über die Zahlen der internierten Jugendlichen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2022

"Schwarze Pädagogik"
Wo der Wille des Kindes gebrochen werden sollte - Geschichte der Jugendhilfe in der DDR

Mike M., 1969 in Eisenhüttenstadt geboren, geriet schon mit fünf Jahren erstmals in die Fänge der sozialistischen Jugendhilfe in der DDR. Er stammte aus schwierigen Verhältnissen: der Vater war gewalttätig und wurde straffällig. Nach der Verurteilung des Vaters zu einer längeren Haftstrafe stand die Mutter plötzlich mit drei Kindern allein da. Sie war damit offenbar völlig überfordert. Besonders mit Mike M., ihrem jüngsten Kind, hatte sie Probleme. Deshalb schaltete sie die Jugendhilfe ein, um ihn in ein Kinderheim einweisen zu lassen. Dort kam Mike M. nicht klar, er galt als "aufmüpfig", "aggressiv" und "sehr lebhaft". Nach einer psychologischen Begutachtung wurde er dann in ein sogenanntes Sonderheim für "verhaltensgestörte" Kinder und Jugendliche eingewiesen. Diese Einrichtungen verfolgten das Ziel, "Fehlverhalten und Defizite" auszugleichen und so die Kinder wieder zu einem "normgerechten Verhalten" zu bringen. Dies geschah allerdings nicht durch eine psychologische Therapie, sondern mit Psychopharmaka, Bestrafungen und militärischem Drill. Davon be-richtet auch Mike M.: Durch die Medikamente war er ständig müde, der Tagesablauf sei bis ins Letzte durchgeplant gewesen, kleinste Verstöße hätten sofortige Bestrafungen zur Folge gehabt. Das Sonderheim sollte aber nicht seine letzte Station sein. Nach Abschluss der Schule war eine Ausbildung vorgesehen. Um diese zu absolvieren, wurde er aber nicht entlassen, sondern in einen Jugendwerkhof eingewiesen. Diese Einrichtungen, von denen es in der DDR Mitte der Achtzigerjahre insgesamt 33 gab, waren darauf ausgerichtet, durch Arbeit und Disziplin den Willen der Jugendlichen zu brechen und sie im Sinne der sozialistischen Gesellschaft umzuerziehen. Zwar konnten die Jugendlichen dort eine Ausbildung zum Teilfacharbeiter machen, was ungefähr einem Hilfsarbeiter entspricht, aber es ging nicht zuletzt um die Ausbeutung als billige Arbeitskräfte. So berichtet Mike M. von harter Arbeit im Hoch- und Tiefbau, wenig Essen und drakonischen Strafen.

Mike M. ist es gelungen, nach der Entlassung aus dem Jugendwerkhof sein Leben zu meistern. Viele andere haben es aber bis heute nicht geschafft und leiden noch immer an diesen menschverachtenden Auswüchsen sozialistischer Jugendhilfe.

Der Fall von Mike M. ist nur einer von vielen, die Grit und Niklas Poppe in ihrem Buch zusammengetragen haben. Es geht ihnen darum, "die Geschichten der Betroffenen in die Öffentlichkeit zu bringen" und damit Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, das lange in der Aufarbeitung der SED-Diktatur zu kurz gekommen ist.

In der DDR wurden zwischen 1949 und 1989 etwa 135 000 Minderjährige in Spezialheimen für "Schwererziehbare" untergebracht. Sie kamen oft aus schwierigen familiären Verhältnissen und/oder wollten sich der konformen sozialistischen Jugenderziehung nicht unterordnen. Ziel dieser Heimerziehung war Umerziehung und Eingliederung in das sozialistische Kollektiv. Prägend war dabei die Pädagogik von Anton Semjonowitsch Makarenko aus den Zwanzigerjahren. Makarenko setzte bei seinem Konzept auf Kollektiverziehung, Arbeit und Disziplin sowie politisch-ideologische Indoktrination. So sollte der "neue Mensch auf neue Weise" geschaffen und zur "sozialistischen Persönlichkeit" werden. So scheinbar fortschrittlich der Ansatz, so rückwärtsgewandt waren die rigiden Erziehungsmethoden: Militärischer Drill bis zur Erschöpfung, ein streng reglementierter Tagesablauf, Ausbeutung durch Arbeit, sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlungen, nicht genügend Verpflegung, harte Strafen bei geringsten Verstößen gegen die strengen Regeln.

Nach einer allgemeinen Einleitung über die Heimerziehung in der DDR ist das Buch entlang des Systems dieser Verwahreinrichtungen im real existierenden Sozialismus aufgebaut: von Sonderheimen, über Spezialkinderheime, Jugendarbeitslager, Jugendwerkhöfe bis hin zum geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau. Nach einer kurzen Beschreibung der diversen Heime, ihrer Zielrichtung und ihrer Erziehungsmethoden folgen jeweils eindringliche, zum Teil beklemmende Zeitzeugenberichte.

Grit und Niklas Poppe belassen es aber nicht dabei. Sie gehen von der überzeugenden These aus, dass die gewaltförmige Umerziehung von Minderjährigen zu angepasstem Verhalten keine Erfindung der DDR sei. Im Gegenteil sei diese Form der "schwarzen Pädagogik", die darauf ausgerichtet ist "den Willen des Kindes zu brechen, es mit Hilfe der offenen oder verborgenen Machtausübung, Manipulation und Erpressung zum gehorsamen Untertan zu machen", eine "kontinuierliche Erziehungsform innerhalb staatlicher und kirchlicher Einrichtungen" bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts gewesen - unabhängig vom jeweiligen politischen System. Aus diesem Grund schließen sich an den sehr ausführlichen DDR-Teil weitere Kapitel mit Zeitzeugenberichten über Heimerziehung im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und in der Schweiz bis in die Siebzigerjahre an.

Ohne irgendetwas gleichzusetzen, legen Grit und Niklas Poppe die Unterschiede und Parallelen im Umgang mit "Schwererziehbaren" in der DDR und im NS-Staat dar. Der entscheidende Unterschied lag hierbei darin, dass im Nationalsozialismus nicht allein die "Umerziehung zum neuen Menschen" und die Rückführung in die "Volksgemeinschaft" handlungsleitend war, sondern auf Grundlage der sozialdarwinistischen und rassistischen Weltanschauung ein wesentlicher Teil der Jugendlichen als nicht erziehbar und "asozial" eingestuft und damit der physischen Vernichtung preisgegeben wurde.

Ein Blick in die Bundesrepublik und in die Schweiz bis in die Siebzigerjahre zeigt eindringlich, dass die sogenannte "schwarze Pädagogik" nicht nur in Diktaturen zu finden ist: Harte Arbeit als Erziehungsmittel, grausame Strafen und Missbrauch waren auch hier vielerorts in staatlichen und kirchlichen Heimen Alltag.

Das Buch von Grit und Niklas Poppe ist wichtig, nicht nur weil es den Opfern der menschenverachtenden Heimerziehung eine Stimme gibt, sondern auch weil es ein Thema systematisch untersucht, welches erst in den letzten Jahren vor allem durch Initiativen von Betroffenen in die Öffentlichkeit gerückt ist. Eine umfassende Aufarbeitung der "schwarzen Pädagogik" steht noch immer aus und stößt bei den ehemals Verantwortlichen weiter auf Widerstand. DANIELA MÜNKEL

Grit Poppe/Niklas Poppe: Die Wegegesperrten. Umerziehung in der DDR - Schicksale von Kindern und Jugendlichen.

Propyläen Verlag, Berlin 2021, 416 S., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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