Manfred Messerschmidt, Nestor der modernen deutschen Mili- tärgeschichtsschreibung, schlägt mit seinem neuen Buch das düsterste Kapitel in der Geschichte der deutschen militärischen Rechtsprechung auf. Gestützt auf umfangreiches, zum Teil erst in den letzten Jahren aufgetauchtes Archivmaterial analysiert er in einer großangelegten eindrucksvollen Darstellung Traditionslinien, Rechtsempfinden und Praxis der Wehrmachtjustiz und ihre Perversion zum nationalsozialistischen Terrorinstrument. Ausgehend von der Entwicklung der preußisch-deutschen Militärgerichtsbarkeit im Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg beschreibt Messerschmidt das 'neue Rechtsdenken' nach 1933 und zeigt, wie die NS-Rechtswissenschaft die Wehrmachtjustiz beeinflußte und welche Auswirkungen dies auf Gerichtsverfassung, Prozeßrecht und materielles Strafrecht hatte. Die besondere Problematik der deutschen Militärjustiz offenbart sich an der Frage nach der Unabhängigkeit und der Einstellung ihrer Richter. Sie haben - inUmsetzung immer neuer, sich ständig radikalisierender Verordnungen zum 'Kriegssonderstrafrecht', gelenkt von den Rechtsabteilungen der Teilstreitkräfte bzw. des Oberkommandos der Wehrmacht und im Zusammenwirken mit der als Gerichtsherren fungierenden Generalität - immens hohe Zahlen an Todesurteilen ausgesprochen und ausführen lassen. Der Frage nach ihrem Ermessensspielraum und damit ihrer Verantwortung widmet der Autor besondere Aufmerksamkeit. Europäische Dimension gewann die Wehrmachtjustiz durch ihre Rechtsprechung und Praxis in den besetzten Ländern. Hier hat sie schärfste grundlegende Befehle entworfen, mit äußerster Härte durchgegriffen oder Geiselmorden der Truppe zugeschaut, wo deren Gerichtsherren mindestens für kriegsgerichtliche Überprüfungen hätten sorgen müssen. Das Buch schließt mit dem Ausblick auf das Selbstverständnis einer Richterschaft, die nur dem Recht gedient haben wollte und es daher für selbstverständlich hielt, in der Bundesrepublik bald wieder als Richter, Staatsanwalt oder im Ministeraldienst wirken zu können.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2006"Träger der völkischen Selbsterhaltung"
Am negativen Gesamturteil über die Wehrmachtjustiz dürfte nicht mehr zu zweifeln sein
"Gott sei Dank, daß sie diesen Spinner hinter schwedische Gardinen gebracht haben, ihm haben wir diesen Krieg zu verdanken, er hat diesen Krieg gewollt." So kommentierte der Maschinenassistent Arthur W. 1943 in angetrunkenem Zustand ein Foto, auf dem er Adolf Hitler hinter Gittern zu erkennen glaubte. Wenig später wurde er in erster Instanz zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, dann hob der Oberbefehlshaber Nord das vermeintlich zu milde Urteil auf und verhängte die Todesstrafe. In einem Rechtsgutachten hieß es, daß diese "gegenüber dem charakterlich minderwertigen Angeklagten erforderlich" sei.
Derart abstruse Urteile belegen, daß die Wehrmachtjustiz ein substantieller Teil des nationalsozialistischen Unrechtssystems gewesen ist. Sie ließ zwischen 1933 und 1945 eine enorme Zahl von Todesurteilen vollstrecken: Die Schätzungen bewegen sich zwischen 18 000 und 22 000. Im Ersten Weltkrieg waren es nur 48 gewesen. Zwischen 1918 und 1933/39 muß es im militärischen Rechtswesen somit zu fundamentalen Veränderungen gekommen sein, die in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Hierauf immer wieder prominent hingewiesen zu haben ist das große Verdienst von Manfred Messerschmidt, der von 1970 bis 1988 leitender Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamts gewesen ist. In seinem neuesten Buch legt er eine Synthese seiner jahrzehntelangen Untersuchungen über die Wehrmachtjustiz vor. Es ist ein breitangelegtes Überblickswerk, das die Verortung der Wehrmachtjustiz im NS-Staat, den organisatorischen Rahmen und die Rechtsprechung im Krieg behandelt.
Aufgrund des Traumas der Niederlage von 1918, so Messerschmidt, entwickelten sich frühe Übereinstimmungen von Militärjustiz und Nationalsozialismus. Den Kampf gegen die "inneren" Feinde schrieben beide schon in den zwanziger Jahren gleichermaßen auf ihre Fahnen. Die Lehre vom "Tätertyp" war bei den Wehrmachtjuristen ebenso weit verbreitet wie in der zivilen Justiz und der Rechtswissenschaft. Wer charakterlich nicht in die Volksgemeinschaft zu passen schien, hatte auch bei den geringfügigsten Vergehen mit überharten Strafen zu rechnen. Viele Juristen waren vom Gedanken durchdrungen, daß "der Richter der Träger der völkischen Selbsterhaltung" sei, der das Gute erhalten und das Böse ausmerzen müsse.
Rudolf Lehmann, seit Sommer 1938 höchster Jurist der Wehrmacht, sah im Führerwillen gar die letzte Rechtsquelle. Angesichts dieser Haltung überrascht es nicht, daß beispielsweise in den ersten vier Monaten des Jahres 1943, als die Kriegslage besonders kritisch war, das Heer wegen Fahnenflucht relativ gesehen sogar mehr Todesurteile verhängte als die SS-Gerichte. Von einer Justiz, die versucht habe, mit einer mäßigenden Rechtsprechung den Auswüchsen des NS-Systems zu begegnen - wie nach dem Krieg von interessierter Seite immer wieder behauptet -, kann somit keine Rede sein. Im Gegenteil, auch die Richter in Uniform waren willige Vollstrecker einer pervertierten Politik, um die innere Geschlossenheit von Volk und Armee zu bewahren. Am negativen Gesamturteil über die Wehrmachtjustiz dürfte spätestens nach der Lektüre von Messerschmidts Buch nicht zu zweifeln sein.
Der Verfasser tat indes gut daran, sich nicht nur auf spektakuläre Verurteilungen zu konzentrieren, sondern in seinem Buch immer wieder auf Abweichungen von der verlangten harten Urteilslinie hinzuweisen und so den durchaus vorhandenen Ermessensspielraum der Richter zu verdeutlichen. Anhand der Spruchpraxis bei den sechs Gebirgsdivisionen der Wehrmacht zeigt er beispielhaft, wie unterschiedlich ähnliche Vergehen bestraft werden konnten. So verurteilte das Gericht der 3. Gebirgsdivision den fünfundzwanzigjährigen Franz P. wegen Fahnenflucht und tätlichen Angriffs gegen einen Vorgesetzten zu vier Jahren Zuchthaus. Nach noch nicht einmal drei Jahren Haft wurde er 1942 wieder an die Front geschickt. Andere Gerichte hätten den Mann zweifelsohne füsilieren lassen. Vergleichsweise milde Urteile wurden aber nur rechtskräftig, auch dies zeigt Messerschmidt, wenn Rechtsgutachter, Gerichtsherr und Armeebefehlshaber gleichermaßen daran mitzuwirken bereit waren.
Es muß zukünftigen Forschungen vorbehalten bleiben, das in diesem Buch gezeichnete Gesamtbild weiter zu verfeinern und nachzuweisen, welche Gerichte sich der verordneten Urteilspraxis widersetzt und welche sie besonders willfährig umgesetzt haben. Allerdings wird man aufgrund der umfangreichen Aktenverluste die Spruchtätigkeit der gesamten Wehrmachtjustiz qualitativ und quantitativ niemals statistisch präzise erfassen können. Insbesondere bei der Luftwaffe gibt es derart große Überlieferungslücken, daß man kaum über Messerschmidts Darstellungen einer allgemeinen Tendenz wird hinauskommen können. Wenngleich die vorhandenen Akten somit gewisse Grenzen vorgeben, können weitere Forschungen, etwa über die Biographien von Militärrichtern, wichtige neue Erkenntnisse über deren juristisch-politische Auffassungen zutage fördern. Der Mainzer Zeithistoriker Michael Kißener hat in seiner Studie über die badischen Richter zwischen 1919 und 1952 gezeigt, wie gewinnbringend ein solcher Ansatz sein kann. Ohne solche Untersuchungen wird man allzu leicht der Versuchung unterliegen, alle Militärjuristen pauschal abzuqualifizieren. Das Gebot der sorgsamen Differenzierung sollte aber auch hier handlungsleitend sein.
So stellt sich die Frage, warum es bei Eingriffen übergeordneter Befehlshaber in die Marinejustiz fast immer um eine Verschärfung der Urteile gegangen ist, obwohl gerade die Marinerichter den Ruf hatten, besonders linientreu zu sein. Offenbar gab es doch erhebliche Auffassungsunterschiede zwischen Marinejuristen und Truppenkommandeuren, die wohl nur mit dem biographischen Ansatz erfolgversprechend zu beleuchten sind. Zu klären wäre also, in welchem Maße an der Basis nach den Prinzipien des Nationalsozialismus geurteilt wurde, die NS-Ideologie somit die Militärjuristen durchdrungen hatte. Bislang ist unser Wissen über diese Tiefenwirkung allzu lückenhaft.
Der Befund, daß Messerschmidts Buch einen guten Überblick der Wehrmachtjustiz liefert, der in Zukunft aber noch weiter ausdifferenziert werden muß, gilt auch für die Ahndung von Straftaten deutscher Soldaten gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Es wird zwar deutlich, daß insbesondere im Osten aufgrund des Gerichtsbarkeitserlasses Rechtsverstöße deutscher Landser nur sehr nachlässig verfolgt worden sind. Das ausgebreitete Material ist aber noch zu unvollständig, um ein valides Gesamtbild ergeben zu können. In Zukunft sind weitere Ergebnisse etwa von der Auswertung der Divisionsakten zu erwarten.
Die vielleicht größte Schwachstelle des Buches ist, daß die Einordnung der Rechtsprechung der Wehrmacht in den internationalen Zusammenhang allzu stiefmütterlich behandelt wurde: Lediglich die Zahlen der Todesurteile der Alliierten und der Japaner werden auf drei Seiten aufgeführt, die nur eine Tendenz deutlich machen können: Während Briten und Amerikaner während des Zweiten Weltkrieges 40 beziehungsweise 146 Soldaten hinrichteten, sind in der japanischen Armee 22 253 Personen füsiliert worden, also eine ähnlich hohe Zahl wie in der Wehrmacht. Bei der Roten Armee sollen es gar 150 000 gewesen sein. An dieser Stelle hätte es nahegelegen, intensiver auf die ausländische Militärjustiz einzugehen, um die Spezifika der deutschen Rechtsprechung schärfer herauszuarbeiten
Diese kritischen Bemerkungen schmälern den Wert von Messerschmidts Buch nicht. Es wird auf absehbare Zeit das Standardwerk zur Wehrmachtjustiz sein.
SÖNKE NEITZEL
Manfred Messerschmidt: Die Wehrmachtjustiz 1933-1945. Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2005. 511 S., 39,90 [Euro].
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Am negativen Gesamturteil über die Wehrmachtjustiz dürfte nicht mehr zu zweifeln sein
"Gott sei Dank, daß sie diesen Spinner hinter schwedische Gardinen gebracht haben, ihm haben wir diesen Krieg zu verdanken, er hat diesen Krieg gewollt." So kommentierte der Maschinenassistent Arthur W. 1943 in angetrunkenem Zustand ein Foto, auf dem er Adolf Hitler hinter Gittern zu erkennen glaubte. Wenig später wurde er in erster Instanz zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, dann hob der Oberbefehlshaber Nord das vermeintlich zu milde Urteil auf und verhängte die Todesstrafe. In einem Rechtsgutachten hieß es, daß diese "gegenüber dem charakterlich minderwertigen Angeklagten erforderlich" sei.
Derart abstruse Urteile belegen, daß die Wehrmachtjustiz ein substantieller Teil des nationalsozialistischen Unrechtssystems gewesen ist. Sie ließ zwischen 1933 und 1945 eine enorme Zahl von Todesurteilen vollstrecken: Die Schätzungen bewegen sich zwischen 18 000 und 22 000. Im Ersten Weltkrieg waren es nur 48 gewesen. Zwischen 1918 und 1933/39 muß es im militärischen Rechtswesen somit zu fundamentalen Veränderungen gekommen sein, die in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Hierauf immer wieder prominent hingewiesen zu haben ist das große Verdienst von Manfred Messerschmidt, der von 1970 bis 1988 leitender Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamts gewesen ist. In seinem neuesten Buch legt er eine Synthese seiner jahrzehntelangen Untersuchungen über die Wehrmachtjustiz vor. Es ist ein breitangelegtes Überblickswerk, das die Verortung der Wehrmachtjustiz im NS-Staat, den organisatorischen Rahmen und die Rechtsprechung im Krieg behandelt.
Aufgrund des Traumas der Niederlage von 1918, so Messerschmidt, entwickelten sich frühe Übereinstimmungen von Militärjustiz und Nationalsozialismus. Den Kampf gegen die "inneren" Feinde schrieben beide schon in den zwanziger Jahren gleichermaßen auf ihre Fahnen. Die Lehre vom "Tätertyp" war bei den Wehrmachtjuristen ebenso weit verbreitet wie in der zivilen Justiz und der Rechtswissenschaft. Wer charakterlich nicht in die Volksgemeinschaft zu passen schien, hatte auch bei den geringfügigsten Vergehen mit überharten Strafen zu rechnen. Viele Juristen waren vom Gedanken durchdrungen, daß "der Richter der Träger der völkischen Selbsterhaltung" sei, der das Gute erhalten und das Böse ausmerzen müsse.
Rudolf Lehmann, seit Sommer 1938 höchster Jurist der Wehrmacht, sah im Führerwillen gar die letzte Rechtsquelle. Angesichts dieser Haltung überrascht es nicht, daß beispielsweise in den ersten vier Monaten des Jahres 1943, als die Kriegslage besonders kritisch war, das Heer wegen Fahnenflucht relativ gesehen sogar mehr Todesurteile verhängte als die SS-Gerichte. Von einer Justiz, die versucht habe, mit einer mäßigenden Rechtsprechung den Auswüchsen des NS-Systems zu begegnen - wie nach dem Krieg von interessierter Seite immer wieder behauptet -, kann somit keine Rede sein. Im Gegenteil, auch die Richter in Uniform waren willige Vollstrecker einer pervertierten Politik, um die innere Geschlossenheit von Volk und Armee zu bewahren. Am negativen Gesamturteil über die Wehrmachtjustiz dürfte spätestens nach der Lektüre von Messerschmidts Buch nicht zu zweifeln sein.
Der Verfasser tat indes gut daran, sich nicht nur auf spektakuläre Verurteilungen zu konzentrieren, sondern in seinem Buch immer wieder auf Abweichungen von der verlangten harten Urteilslinie hinzuweisen und so den durchaus vorhandenen Ermessensspielraum der Richter zu verdeutlichen. Anhand der Spruchpraxis bei den sechs Gebirgsdivisionen der Wehrmacht zeigt er beispielhaft, wie unterschiedlich ähnliche Vergehen bestraft werden konnten. So verurteilte das Gericht der 3. Gebirgsdivision den fünfundzwanzigjährigen Franz P. wegen Fahnenflucht und tätlichen Angriffs gegen einen Vorgesetzten zu vier Jahren Zuchthaus. Nach noch nicht einmal drei Jahren Haft wurde er 1942 wieder an die Front geschickt. Andere Gerichte hätten den Mann zweifelsohne füsilieren lassen. Vergleichsweise milde Urteile wurden aber nur rechtskräftig, auch dies zeigt Messerschmidt, wenn Rechtsgutachter, Gerichtsherr und Armeebefehlshaber gleichermaßen daran mitzuwirken bereit waren.
Es muß zukünftigen Forschungen vorbehalten bleiben, das in diesem Buch gezeichnete Gesamtbild weiter zu verfeinern und nachzuweisen, welche Gerichte sich der verordneten Urteilspraxis widersetzt und welche sie besonders willfährig umgesetzt haben. Allerdings wird man aufgrund der umfangreichen Aktenverluste die Spruchtätigkeit der gesamten Wehrmachtjustiz qualitativ und quantitativ niemals statistisch präzise erfassen können. Insbesondere bei der Luftwaffe gibt es derart große Überlieferungslücken, daß man kaum über Messerschmidts Darstellungen einer allgemeinen Tendenz wird hinauskommen können. Wenngleich die vorhandenen Akten somit gewisse Grenzen vorgeben, können weitere Forschungen, etwa über die Biographien von Militärrichtern, wichtige neue Erkenntnisse über deren juristisch-politische Auffassungen zutage fördern. Der Mainzer Zeithistoriker Michael Kißener hat in seiner Studie über die badischen Richter zwischen 1919 und 1952 gezeigt, wie gewinnbringend ein solcher Ansatz sein kann. Ohne solche Untersuchungen wird man allzu leicht der Versuchung unterliegen, alle Militärjuristen pauschal abzuqualifizieren. Das Gebot der sorgsamen Differenzierung sollte aber auch hier handlungsleitend sein.
So stellt sich die Frage, warum es bei Eingriffen übergeordneter Befehlshaber in die Marinejustiz fast immer um eine Verschärfung der Urteile gegangen ist, obwohl gerade die Marinerichter den Ruf hatten, besonders linientreu zu sein. Offenbar gab es doch erhebliche Auffassungsunterschiede zwischen Marinejuristen und Truppenkommandeuren, die wohl nur mit dem biographischen Ansatz erfolgversprechend zu beleuchten sind. Zu klären wäre also, in welchem Maße an der Basis nach den Prinzipien des Nationalsozialismus geurteilt wurde, die NS-Ideologie somit die Militärjuristen durchdrungen hatte. Bislang ist unser Wissen über diese Tiefenwirkung allzu lückenhaft.
Der Befund, daß Messerschmidts Buch einen guten Überblick der Wehrmachtjustiz liefert, der in Zukunft aber noch weiter ausdifferenziert werden muß, gilt auch für die Ahndung von Straftaten deutscher Soldaten gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Es wird zwar deutlich, daß insbesondere im Osten aufgrund des Gerichtsbarkeitserlasses Rechtsverstöße deutscher Landser nur sehr nachlässig verfolgt worden sind. Das ausgebreitete Material ist aber noch zu unvollständig, um ein valides Gesamtbild ergeben zu können. In Zukunft sind weitere Ergebnisse etwa von der Auswertung der Divisionsakten zu erwarten.
Die vielleicht größte Schwachstelle des Buches ist, daß die Einordnung der Rechtsprechung der Wehrmacht in den internationalen Zusammenhang allzu stiefmütterlich behandelt wurde: Lediglich die Zahlen der Todesurteile der Alliierten und der Japaner werden auf drei Seiten aufgeführt, die nur eine Tendenz deutlich machen können: Während Briten und Amerikaner während des Zweiten Weltkrieges 40 beziehungsweise 146 Soldaten hinrichteten, sind in der japanischen Armee 22 253 Personen füsiliert worden, also eine ähnlich hohe Zahl wie in der Wehrmacht. Bei der Roten Armee sollen es gar 150 000 gewesen sein. An dieser Stelle hätte es nahegelegen, intensiver auf die ausländische Militärjustiz einzugehen, um die Spezifika der deutschen Rechtsprechung schärfer herauszuarbeiten
Diese kritischen Bemerkungen schmälern den Wert von Messerschmidts Buch nicht. Es wird auf absehbare Zeit das Standardwerk zur Wehrmachtjustiz sein.
SÖNKE NEITZEL
Manfred Messerschmidt: Die Wehrmachtjustiz 1933-1945. Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2005. 511 S., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Standardwerk" würdigt Rezensent Sönke Neitzel den vorliegenden Band, in dem der Historiker Manfred Messerschmidt seine jahrzehntelangen Forschungen über die Wehrmachtjustiz zusammengefasst hat. Die substanzielle Verstrickung der Justiz in das nationalsozialistische Unrechtssystem findet Neitzel darin überzeugend belegt und dargestellt. Völlig unhaltbar erscheint ihm nun die nach dem Krieg vorgebrachte These, die deutsche Justiz habe sich um eine mäßigende Rechtssprechung bemüht, um den Auswüchsen des NS-Systems zu begegnen. Am negativen Gesamturteil über die Wehrmachtjustiz hat er nach der Lektüre des Werks keine Zweifel mehr. Neitzel unterstreicht aber auch, dass Messerschmidts Darstellung in Zukunft weiter zu differenzieren sein wird, etwa im Blick auf die Ahndung von Straftaten deutscher Soldaten gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Zu kurz kommt zu seinem Bedauern auch die Einordnung der Wehrmachtrechtsprechung in den internationalen Zusammenhang.
© Perlentaucher Medien GmbH
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