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"Schriften, Schulen und Universitäten thun vieles und manchmal mit nicht kleinem Geräusch. Aber es geht, ungesehen und ungeachtet, viel Weisheit und Klugheit im Lande umher, von Mund zu Mund." Diese Weisheit brachte der katholische Kirchenmann Johann Michael Sailer (1751-1832) in Form seiner Sprichwörtersammlung unters Volk, die er "ein Lehrbuch für uns Deutsche, mitunter auch eine Ruhebank für Gelehrte, die von ihren Forschungen ausruhen möchten", nannte.

Produktbeschreibung
"Schriften, Schulen und Universitäten thun vieles und manchmal mit nicht kleinem Geräusch. Aber es geht, ungesehen und ungeachtet, viel Weisheit und Klugheit im Lande umher, von Mund zu Mund." Diese Weisheit brachte der katholische Kirchenmann Johann Michael Sailer (1751-1832) in Form seiner Sprichwörtersammlung unters Volk, die er "ein Lehrbuch für uns Deutsche, mitunter auch eine Ruhebank für Gelehrte, die von ihren Forschungen ausruhen möchten", nannte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.1997

Herz mit Bischofsmütze
Johann Michael Sailers "Die Weisheit auf der Gasse" · Von Hans-Jürgen Schings

Wie gerät ein katholischer, gar ein bayerischer Kirchenvater in die "Andere Bibliothek"? Da muß schon ein mächtiger Charme die Entdeckerfreude entzündet haben. Und so ist es. Wohl nur zwei katholischen Kirchenfürsten ist es gelungen, die Geister (oder besser: die Herzen) auch der protestantisch-aufgeklärten Welt für sich zu gewinnen, ja zu bezaubern. Fénelon ist der eine, der Verkünder des "amour pur". Der andere, genau einhundert Jahre später geboren und im gleichen Jahr wie Goethe gestorben, ist Johann Michael Sailer (1751 bis 1832), der es vom Schustersohn zum Bischof von Regensburg gebracht hat. Den "Fénelon Deutschlands und seiner Zeit" nennt ihn ein Nachruf. Und mit dieser Filiation hat es nicht nur im schmückenden Sinn seine Richtigkeit. Als anima candida beschreiben ihn alle, die ihn persönlich kennengelernt haben. "Sein ganzes Wesen war Wohlwollen", erklärt Goethes Jugendfreund Passavant. Clemens Brentano erlebt ihn so: "Gestern ist der große, fromme, lustige, mutwillige, zärtliche, hüpfende, fliegende, betende, alles umarmende alte Gottes-Knabe Sailer . . . bei mir angekommen." Und Marianne von Willemer in einem Brief an Goethe: "Sailer, neuerwählter Bischof von Regensburg, hielt sich einige Zeit hier und am Rhein auf; welch ein liebenswürdiges Naturell, ein wandelndes Herz mit einer Bischofsmütze!"

Gleichwohl ist der faszinierende Universitätslehrer Sailer gleich zweimal aus dem Amt entfernt worden, einmal als "Obskurantist", dann als Illuminatenfreund. Die römische Kurie sperrte sich gegen seine Ernennung zum Bischof; sie kam erst zustande, als der bayerische Kronprinz Ludwig zugunsten seines Lehrers und Beraters intervenierte. Mit kräftigen Strichen hat Carl Amery im Nachwort zum vorliegenden Band die geistlichen Kabalen ausgemalt.

"Die "Weisheit auf der Gasse' kam nicht auf die Gasse", befand 1922 Friedrich Seilers "Deutsche Sprichwörterkunde" trocken zum Schicksal des Buches, das 1810 (nicht 1840, wie es in der editorischen Bemerkung heißt) zum ersten Mal erschien. Die Konkurrenz, so könnte man vermuten, hatte es zum Vergessen verurteilt - die Konkurrenz jener fabelhaften künstlichen "Ideenparadiese" (Novalis), mit denen die Aphoristik der klassisch-romantischen Literatur brillierte. "Milchstraße von glänzenden Pointen" - so kennzeichnet sie Jean Paul. Wohl kein Zufall, daß die "Andere Bibliothek" nach dem Erfolg von Jean Pauls "Ideen-Gewimmel" (1996) nur wenig später (nach einem Vorläufer von 1987) Sailers Weisheits-Buch präsentiert. Ein listiger Einfall, handelt es sich doch geradezu um ein entschiedenes und programmatisches Gegenstück.

Denn nichts hat Sailer weniger im Sinn als "Speculation", als Matadorstücke der witzigen Subjektivität (dazu noch einmal Jean Paul: "Er verbreitet darüber nicht sowol Licht als sich"). Er will nicht erfinden, sondern finden, geht doch, unbekümmert um "Schriften, Schulen, Universitäten und die Mühungen der Gelehrten", "viel Weisheit und Klugheit im Lande umher, von Mund zu Mund", hat doch "der große Litteraturstaat sein Haus der Gemeinen", "in dem die Nation sich selbst unmittelbar repräsentire". Sailers Findelust läßt die ingeniöse Aphoristik ebenso beiseite wie die schwarzgallige Moralistik. Seine Weisheit stammt aus dem Volk. Seine Aphorismen sind dessen Sprichwörter.

Das Plädoyer für den "gesunden Kopf des Menschen" beruht auf einer frommen Philosophie und findet ehrwürdige Bündnispartner. Salomo gehört dazu, der die Weisheit auf der Gasse predigen läßt (daher der Titel), Luther, der dem Volk aufs Maul geschaut hat und mit mehreren "Denksprüchen" zu Wort kommt, Fénelon auch mit der Lehre von der einen "Universal-Vernunft", der ungenannte Jacobi schließlich, der das Theorem von dem vernehmenden "Vernunftinstinct" beisteuert. Vielleicht der wichtigste Gewährsmann für die Theorie der wahrheitsverbürgenden Tradition, die Sailer seiner Sprichwortkunde zugrunde legt, ist aber der Schwabenvater und Briefpartner Oetinger und mit ihm der "sensus communis", der "Gemeinsinn der Menschheit für die Eine Wahrheit". So begründet Sailer sein Vertrauen auf die "Findelkinder" der "gemeinen", der "Werktags-Poesie".

Mit leichter und doch fester Hand ordnet er seine Funde, "alte Bekannte" und "neue Bekanntschaften". Dem "Gepräge", der Machart oder Struktur, gilt seine besonders findige Aufmerksamkeit. Die Grundformel lautet: das Allgemeine im Besonderen. Sie erklärt die "Leiblichkeit" des Sprichworts, seinen sinnlichen, leichtfaßlichen, "behältlichen" und anwendbaren Charakter. Und er kann beobachten. So dient als Bildspender besonders gern der "Leib des Menschen", und hier wieder vornehmlich der Kopf, das Auge und die Hand. Unter den Tieren werden Hund, Katze und Pferd bevorzugt, ferner Wolf und Fuchs. Grammatisch lässige Bequemlichkeit ("Das alte deutsche Sprichwort liebt das Negligee"), Kürze und Reim bilden weitere Merkmale. Oder die Vorliebe für die Verben "machen" und "bringen", der unorthodoxe Neologismus ("Wo's spukt, da liebt oder diebt sich's"), der kombinierende Witz mit Wendungen wie "gehört zum", "ist recht für", die Bevorzugung der Drei- und Vierzahl. Und so geht es fort, mit lakonischen Befunden und einem Füllhorn durchweg heiterer Beispiele.

Die Devise "Ja, so ist es", plötzlich und wie der Blitz einschlagend, regiert den "Inhalt", dem sich Sailer dann zuwendet. Sprichwörter sind "treffliche Naturphilosophen", die über den "Nexus rerum" Bescheid wissen, ebensolche "Naturpropheten", "gute Anthropologen", "richtige Physiognomen" (da spricht der Freund Lavaters), gründliche "Weltkenner" und, natürlich, "keine Atheisten". Ganze Kapitel lassen sich mit ihrer "Religions-Staats-Familienkunde", mit ihrer "Klugheits-Erziehungs und Arzneykunde" füllen. "Schmutz", "Roheit" und "Zotengeist" freilich werden ebenso abgewehrt (und ausgeschlossen) wie die moderne "Feinheit". Das immerhin läßt Sailer durchgehen: "Wenn die Laus in den Grind kommt: so hebt sie den H. in die Höhe, und wird stolz." Und nun müßte man sich ans Zitieren machen. Doch dem ungetrübten Vergnügen des Lesers soll nichts weggenommen werden.

Johann Michael Sailer: "Die Weisheit auf der Gasse oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter". Mit einem biographischen Nachwort von Carl Amery. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1996. Die Andere Bibliothek. 359 S., geb., 48,- DM.

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