Krieg und Frieden in Kiew: Michail Bulgakows erster, autobiografisch gefärbter Roman.
Dezember 1918: In Russland herrscht Bürgerkrieg. Die Truppen des kaiserlichen Deutschland haben weite Teile der Ukraine besetzt. Kiew wird zum Sammelbecken für die "Weißen": Bankiers, Adlige, Halbweltdamen auf der Flucht vor der "roten Gefahr".
Dezember 1918: In Russland herrscht Bürgerkrieg. Die Truppen des kaiserlichen Deutschland haben weite Teile der Ukraine besetzt. Kiew wird zum Sammelbecken für die "Weißen": Bankiers, Adlige, Halbweltdamen auf der Flucht vor der "roten Gefahr".
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2020NEUE TASCHENBÜCHER
Die große Stadt führt ein seltsames, fast
widernatürliches Leben
Der Weltkrieg ist vorbei, schon steht der Bürgerkrieg vor der Tür. Es ist 1918 und in Kiew scheint es, als wolle die Welt nicht zur Ruhe kommen. Im Westen ziehen sich die deutschen Truppen zurück, aus dem Osten branden nach der Oktoberrevolution die Bolschwiken an. Die Geschwister der Familie Turbin, Jelena, Nikolka und der junge Arzt Alexei, finden im gemeinsamen Elternhaus wieder zusammen. In der vertrauten Heimat geraten sie zwischen die Fronten, als die Stadt zum Kampfplatz der Roten Armee und der Anhänger des untergegangenen Zarenreichs, der Weißen Garde wird.
Dieser frühe, teilweise autobiografische Roman Michail Bulgakows wurde zum mehrfachen Problem für den Autor. Im Original erschien er 1924/25 fragmentarisch in der Zeitschrift Russland, die nach nur fünf Ausgaben eingestellt wurde. Eine Bearbeitung für das Theater in Moskau musste umgeschrieben werden, die Weiße Garde kam den Sowjets zu gut weg. Die Unterstellung antibolschewistischer Darstellungen verfolgte den Satiriker Bulgakow sein ganzes Leben und verhinderte die Veröffentlichung vieler anderer seiner Werke.
Bulgakows Texte setzten sich trotz dieser Hindernisse durch. „Die weiße Garde“, in der neuen, sehr kenntnisreichen Übersetzung von Alexander Nitzberg, ist voller Witze, Zitate, Einfälle, Anspielungen und Beobachtungen, aufgereiht wie ein Mosaik oder montiert wie in einem Kunstfilm. Stadt, Artikel, Gedankenstrom und die Kommentare von Passanten verschmelzen zu einem einzigen Text, wenn Alexei im Laufen die Zeitung lesend durch Kiew eilt. Nach einer durchzechten Nacht scheinen auch die folgenden Kapitel wie betrunken die Weltliteratur von Dostojewski bis Cervantes zu zitieren und wild neu zu arrangieren. Dem zu folgen, hilft der ausführliche Kommentar. „Und jetzt, im Winter 1918, führte die Große Stadt ein seltsames, fast schon widernatürliches Leben, welches sich, jedenfalls höchstwahrscheinlich, im zwanzigsten Jahrhundert nicht wiederholen wird.“ Ähnliches möchte man über diesen Roman sagen. NICOLAS FREUND
Michail Bulgakow: Die weiße Garde.
Aus dem Russischen von
Alexander Nitzberg. dtv, München 2020.
544 Seiten, 14, 90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die große Stadt führt ein seltsames, fast
widernatürliches Leben
Der Weltkrieg ist vorbei, schon steht der Bürgerkrieg vor der Tür. Es ist 1918 und in Kiew scheint es, als wolle die Welt nicht zur Ruhe kommen. Im Westen ziehen sich die deutschen Truppen zurück, aus dem Osten branden nach der Oktoberrevolution die Bolschwiken an. Die Geschwister der Familie Turbin, Jelena, Nikolka und der junge Arzt Alexei, finden im gemeinsamen Elternhaus wieder zusammen. In der vertrauten Heimat geraten sie zwischen die Fronten, als die Stadt zum Kampfplatz der Roten Armee und der Anhänger des untergegangenen Zarenreichs, der Weißen Garde wird.
Dieser frühe, teilweise autobiografische Roman Michail Bulgakows wurde zum mehrfachen Problem für den Autor. Im Original erschien er 1924/25 fragmentarisch in der Zeitschrift Russland, die nach nur fünf Ausgaben eingestellt wurde. Eine Bearbeitung für das Theater in Moskau musste umgeschrieben werden, die Weiße Garde kam den Sowjets zu gut weg. Die Unterstellung antibolschewistischer Darstellungen verfolgte den Satiriker Bulgakow sein ganzes Leben und verhinderte die Veröffentlichung vieler anderer seiner Werke.
Bulgakows Texte setzten sich trotz dieser Hindernisse durch. „Die weiße Garde“, in der neuen, sehr kenntnisreichen Übersetzung von Alexander Nitzberg, ist voller Witze, Zitate, Einfälle, Anspielungen und Beobachtungen, aufgereiht wie ein Mosaik oder montiert wie in einem Kunstfilm. Stadt, Artikel, Gedankenstrom und die Kommentare von Passanten verschmelzen zu einem einzigen Text, wenn Alexei im Laufen die Zeitung lesend durch Kiew eilt. Nach einer durchzechten Nacht scheinen auch die folgenden Kapitel wie betrunken die Weltliteratur von Dostojewski bis Cervantes zu zitieren und wild neu zu arrangieren. Dem zu folgen, hilft der ausführliche Kommentar. „Und jetzt, im Winter 1918, führte die Große Stadt ein seltsames, fast schon widernatürliches Leben, welches sich, jedenfalls höchstwahrscheinlich, im zwanzigsten Jahrhundert nicht wiederholen wird.“ Ähnliches möchte man über diesen Roman sagen. NICOLAS FREUND
Michail Bulgakow: Die weiße Garde.
Aus dem Russischen von
Alexander Nitzberg. dtv, München 2020.
544 Seiten, 14, 90 Euro.
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Immer wieder wird Michail Bulgakows frühes Epos 'Die weiße Garde' von seinem literarischen Rang her mit Tolstois 'Krieg und Frieden' oder Dostojewskis 'Dämonen' verglichen. ORF-Jury-Bestenliste