Der Mythos vom guten Nazi
Wer das Buch aufschlägt, sieht schon im Einband den Stammbaum der „Öhringer Linie“, der stolze sieben Generationen umfasst. Die ersten drei werden nur kurz behandelt bis wir vom Koch, der Müllersohn war, über den Stiftprediger und Tübinger Universitätskanzler mit der
Familie Anfang des 20. Jhs zum württembergischen Ministerpräsidenten aufsteigen.
Hauptthema des…mehrDer Mythos vom guten Nazi
Wer das Buch aufschlägt, sieht schon im Einband den Stammbaum der „Öhringer Linie“, der stolze sieben Generationen umfasst. Die ersten drei werden nur kurz behandelt bis wir vom Koch, der Müllersohn war, über den Stiftprediger und Tübinger Universitätskanzler mit der Familie Anfang des 20. Jhs zum württembergischen Ministerpräsidenten aufsteigen.
Hauptthema des Buches ist aber die 5. und 6. Generation, in der jeweils zwei Brüder bekannt wurden. Die Männer wirken deshalb am Gemeinwesen mit, weil sie „nicht Objekt sondern Subjekt sein“ wollen (31) heißt es am Anfang des Buches. Doch den Weizsäckers Opportunismus vorzuwerfen, wäre wohl falsch, weil sie „in vielen Bereichen hohe Kompetenz“ haben „und für solche Leute gebe es eben immer eine Verwendung“ (405), heißt es gegen Ende des Buches.
Ja, das letztes Kapitel behandelt als eine Art Epilog die siebte Generation und alle folgenden, viel zu kurz. Zwar wird erwähnt, dass alle Kinder einen akademischen Titel erworben haben, aber das Robert Präsident des Deutschen Schachbundes war, erfährt man nicht. Mich hätte interessiert, wie die Kinder eines Bundespräsidenten denken. Weiterer Aufstieg in der Politik ist nicht mehr möglich, also suchen sie ihre Aufgabe in der Wissenschaft. Das steht so nicht im Buch, sondern ist meine Interpretation. Auch der Anschlag auf Fritz geschah wohl nach dem Druck des Buches.
Ausführlich behandelt wird dagegen die Frage wie der Spitzendiplomat Ernst Heinrich sich während der Nazi-Zeit im Auswärtigem Amt verhalten hat. Zugutehalten wird man ihm, dass er immer versucht hat, eine Krieg zu verhindern und geschickt die Konferenz zur Sudetenfrage eingefädelt hat. Sein Bild trübt aber, dass er von Eichmann zwei Vorlagen zur Deportation französischer Juden nach Auschwitz unterschrieben hat. Sein Argument, dass er glaubte, dort ginge es den Juden besser, wird ihm heute niemand mehr abnehmen. Nur am Rande erwähnt wird seine spätere Rolle als Botschafter im Vatikan. Rolf Hochhuths Buch war meine Motivation für dieses und ich fürchte, dass die derzeit im Vatikan tätige Historiker-Kommission feststellen wird, dass Weizsäcker deutlich mehr hätte tun können.
Auch sein Bruder Viktor hatte keine weiße Weste, weil er als Professor mit Euthanasie-Opfern forschte, angeblich ohne es zu merken. Er wurde vom Krieg bestraft, weil seine beiden Söhne im Krieg starben.
Von Ernst Heinrichs Kindern war der Erstgeborene Carl Friedrich ein Wunderkind und hat für die Nazis an der Atombombe geforscht, was er nachher bereute und zu einem überzeugten Pazifisten wurde. Heinrich verlor sein Leben im Krieg, so dass als zweiter Mann nur Richard übrig blieb, der den Krieg an der Front überlebte. Sein Weg führte in erst in die Wirtschaft bevor er in der Politik seine bekannte Karriere machte.
Mit Wehmut denke ich zurück an seine Präsidentschaft und was seine Nachfolger aus dem Amt gemacht haben. Ob Richard von Weizsäcker heute auch denken würde, dass es für eine demokratische Bürgergesellschaft das Amt des Bundespräsidenten gar nicht mehr braucht?
Leider können wir auf eine aktualisierte Neuauflage des Buches nicht mehr hoffen, weil auch der Autor nicht mehr lebt. Vielleicht war das Projekt zu ambitioniert, vielleicht hat er zu sehr von den Quellen der Familie gelebt, bei mir bleiben ein paar Fragen, daher 4 Sterne.