Alles über das, was wir auf unserer Haut tragen - eine einzigartige Geschichte der Stoffe
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Stoffe herstellt - ohne sie wäre die menschliche Entwicklung nicht denkbar. Kassia St Clair erzählt faszinierend von Hanf, Leinen, oder der Entdeckung der Seide, von den Wikinger-Segeln aus Schafswolle, und dem Weltraumanzug Neil Armstrongs, den er nicht auszuziehen brauchte, wenn er auf die Toilette musste.
Sie zeigt die Bedeutung von Kleidung für die lokale Wirtschaft und den lokalen Handel, für gesellschaftliche Normen und menschliche Höchstleistungen, die ohne Kunstfasern nicht möglich wären. Von den Binden der Mumien im alten Ägypten, über die anrüchigen Seidenkleider Kaiser Neros bis hin zum Schwimmanzug aus Polyurethan, der es Paul Biedermann ermöglichte, Michael Phelps zu schlagen: Kassia St Clair verwebt auf einmalige Weise faszinierende Geschichten rund um Natur- und Kunstfasern zu einer alternativen Menschheitsgeschichte.
Ein packender Stoff!
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Stoffe herstellt - ohne sie wäre die menschliche Entwicklung nicht denkbar. Kassia St Clair erzählt faszinierend von Hanf, Leinen, oder der Entdeckung der Seide, von den Wikinger-Segeln aus Schafswolle, und dem Weltraumanzug Neil Armstrongs, den er nicht auszuziehen brauchte, wenn er auf die Toilette musste.
Sie zeigt die Bedeutung von Kleidung für die lokale Wirtschaft und den lokalen Handel, für gesellschaftliche Normen und menschliche Höchstleistungen, die ohne Kunstfasern nicht möglich wären. Von den Binden der Mumien im alten Ägypten, über die anrüchigen Seidenkleider Kaiser Neros bis hin zum Schwimmanzug aus Polyurethan, der es Paul Biedermann ermöglichte, Michael Phelps zu schlagen: Kassia St Clair verwebt auf einmalige Weise faszinierende Geschichten rund um Natur- und Kunstfasern zu einer alternativen Menschheitsgeschichte.
Ein packender Stoff!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2020Als die Herren Spitze trugen
Produkt grundlegender Kulturtechniken, Wirtschaftsfaktor seit Jahrhunderten und Antrieb der Globalisierung : Kassia St. Clair führt auf kundige Weise durch die Welt der Stoffe.
Wir kleiden uns in Stoff, schlafen in Stoff, schreiten über Stoff. Seit der Vertreibung aus dem Paradies verhüllt die Menschheit ihre Nacktheit. In Pelz oder in flauschige Wolle gehüllt, in Damast oder Musselin drapiert, mit Gore-Tex ausgestattet, von Viskose oder Nylon kaschiert. Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Stoffe, wie sie die britische Journalistin und Autorin Kassia St. Clair erzählt, macht bekannt mit alten Kulturtechniken wie der Seidenraupenzucht oder der Kultivierung von Flachs, aus dem sich Garn spinnen und Leinen weben lässt. Ihre Recherchearbeit präsentiert aber auch erschütternde Details zu den Kollateralschäden, die die Textilindustrie um der Profitgier willen in Kauf nimmt: menschenverachtende Arbeitsbedingungen, Gesundheitsschäden und Umweltkatastrophen.
In der Jahrtausende alten Tradition der Stoffherstellung hat sich der menschliche Sinn für Ästhetik in innovativen Moden ausgedrückt, Kulturtechniken wurden perfektioniert und die künstlerische Produktivität gesteigert. Das Handwerk mit der Nadel, dem Spinnrocken oder den Klöppeln war ausschließlich Frauen vorbehalten, sie trugen damit zu einem wesentlichen Teil des Haushaltseinkommens bei. Zugleich zeigt sich gerade auch hier die Ungleichbehandlung der Geschlechter. Frauen verfügten etwa über keinerlei Organisation in den mittelalterlichen Gilden und konnten den Marktwert ihrer Arbeit nicht verteidigen. Die Unsichtbarkeit dieses weiblichen Tätigkeitsbereichs bildet sich bereits in urgeschichtlicher Dokumentation ab. Der erste Beleg gefärbter Pflanzenfasern wurde in der Höhle von Dzudzuana im Kaukasus gefunden, sie sind zwischen zweiunddreißigtausend und neunzehntausend Jahre alt. Über Stoff, der zu Staub geworden ist, lässt sich allerdings nichts erzählen, weshalb mit der Steinzeit, Bronzezeit oder Eisenzeit von Männern erzeugte Waffen, Werkzeuge oder Schmuck assoziiert werden, da die Archäologie sich an das hält, was erhalten geblieben ist.
Ein großes Verdienst von St. Clairs Darstellung ist es, Leerstellen einer geläufigen Geschichtsdarstellungen zu füllen, indem sie diese um eine weibliche Erzählung ergänzt und mit überraschenden Auskünften anreichert. Wie etwa jene zu Vermeers Gemälde "Die Spitzenklöpplerin": Die Herstellung des Luxusguts Spitze durch weibliche Arbeitskraft führte in manchen Regionen Frankreichs oder Flanderns zu einem Mangel an Dienstboten; zur Schau gestellt wurde die Spitze gern von prestigebewussten Männern, die sie am Kragen, an Handgelenken und am Bund ihrer Kniehosen trugen. Die Extravaganz und Sucht nach Luxuswaren von Herrschern wie Ludwig XIV. kurbelten die Produktion und den Export von Technologie und Arbeitskraft über Grenzen hinweg an, führten aber auch zu Wirtschaftskrisen.
Seit vielen Jahrhunderten ist die Textilproduktion ein Wirtschaftsfaktor, und ein früher Motor der Globalisierung war sie auch. Die Theorie, dass die Wikinger ihre Eroberungszüge bis nach Amerika ausgedehnt hätten, um sich neue Weideflächen für ihre Wollproduktion zu erschließen, klingt ebenso originell wie plausibel. Die wasserabweisenden Segel ihrer Handelsschiffe wurden aus der Wolle einer alten Schafrasse gefertigt. Um ein Frachtschiff samt Crew auszurüsten, benötigte man zweihundert Kilo Wolle und zehn Jahre Arbeit.
Die Handelsroute der Seidenstraße, über die das kostbare Gut samt dem Geheimnis seiner Produktion verbreitet wurde, hat bis heute ihre geopolitische Bedeutung nicht verloren, Ideen und Kulturen verschmolzen miteinander, der Buddhismus wurde auf diesem Weg exportiert. Wie Klöppelspitze blieb Seide dem wohlhabenden Teil der Gesellschaft vorbehalten und wurde zum sichtbaren Ausdruck von Macht, kritische Stimmen im alten Rom sahen in der Ankunft der Seide ein Zeichen des Niedergangs.
Am Beispiel der Baumwolle, die die industrielle Revolution befeuerte und ein Modell für landwirtschaftliche Monokulturen schuf, lässt sich zeigen, in welchem Ausmaß profitoptimierende Prozesse ins Werk gesetzt wurden, an deren Ende die Fast Fashion des einundzwanzigsten Jahrhunderts steht. Seit der Erfindung der Dampfmaschine gierten aufstrebende Industriebetriebe in Zentren wie Manchester nach Rohstoffen, die auf von Sklaven bearbeiteten amerikanischen Plantagen angebaut wurden. Afrikanische Menschenhändler wiederum ließen sich für die Bereitstellung ihrer Ware mit einem Teil der Produktion bezahlen, mit hochwertigen Baumwollstoffen. Die Verbindung der Sklaverei mit dem Baumwollhandel bezeichnet St. Clair als "Kett- und Schussfaden zum wirtschaftlichen Erfolg Amerikas". Gekrönt wurde dieser durch einen weltweiten Exportschlager: die Blue Jeans avancierten zum Kultursymbol, ehe die Kunstfaser in den siebziger Jahren die Naturfaser abzulösen begann.
Was die "Welt der Stoffe" zur packenden Lektüre macht, das sind die Fäden, die kreuzweise zwischen Rohstoffen und Epochen gespannt werden: Stoffzuweisungen für "Negerkleidung" führten ebenso auf das Terrain von Macht und Herrschaft wie Kleidervorschriften im feudalen Europa oder im Alten China. Die Schicksalsfäden der Parzen sind in der Mythologie der alten Griechen ein Symbol für das Leben, Kassia St. Clair hat sie zu einem bunten Flickenteppich aus Stoffmustern gewebt.
GUDRUN BRAUNSPERGER
Kassia St. Clair: "Die Welt der Stoffe".
Aus dem Englischen von
Marion Hertle. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020. 416 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Produkt grundlegender Kulturtechniken, Wirtschaftsfaktor seit Jahrhunderten und Antrieb der Globalisierung : Kassia St. Clair führt auf kundige Weise durch die Welt der Stoffe.
Wir kleiden uns in Stoff, schlafen in Stoff, schreiten über Stoff. Seit der Vertreibung aus dem Paradies verhüllt die Menschheit ihre Nacktheit. In Pelz oder in flauschige Wolle gehüllt, in Damast oder Musselin drapiert, mit Gore-Tex ausgestattet, von Viskose oder Nylon kaschiert. Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Stoffe, wie sie die britische Journalistin und Autorin Kassia St. Clair erzählt, macht bekannt mit alten Kulturtechniken wie der Seidenraupenzucht oder der Kultivierung von Flachs, aus dem sich Garn spinnen und Leinen weben lässt. Ihre Recherchearbeit präsentiert aber auch erschütternde Details zu den Kollateralschäden, die die Textilindustrie um der Profitgier willen in Kauf nimmt: menschenverachtende Arbeitsbedingungen, Gesundheitsschäden und Umweltkatastrophen.
In der Jahrtausende alten Tradition der Stoffherstellung hat sich der menschliche Sinn für Ästhetik in innovativen Moden ausgedrückt, Kulturtechniken wurden perfektioniert und die künstlerische Produktivität gesteigert. Das Handwerk mit der Nadel, dem Spinnrocken oder den Klöppeln war ausschließlich Frauen vorbehalten, sie trugen damit zu einem wesentlichen Teil des Haushaltseinkommens bei. Zugleich zeigt sich gerade auch hier die Ungleichbehandlung der Geschlechter. Frauen verfügten etwa über keinerlei Organisation in den mittelalterlichen Gilden und konnten den Marktwert ihrer Arbeit nicht verteidigen. Die Unsichtbarkeit dieses weiblichen Tätigkeitsbereichs bildet sich bereits in urgeschichtlicher Dokumentation ab. Der erste Beleg gefärbter Pflanzenfasern wurde in der Höhle von Dzudzuana im Kaukasus gefunden, sie sind zwischen zweiunddreißigtausend und neunzehntausend Jahre alt. Über Stoff, der zu Staub geworden ist, lässt sich allerdings nichts erzählen, weshalb mit der Steinzeit, Bronzezeit oder Eisenzeit von Männern erzeugte Waffen, Werkzeuge oder Schmuck assoziiert werden, da die Archäologie sich an das hält, was erhalten geblieben ist.
Ein großes Verdienst von St. Clairs Darstellung ist es, Leerstellen einer geläufigen Geschichtsdarstellungen zu füllen, indem sie diese um eine weibliche Erzählung ergänzt und mit überraschenden Auskünften anreichert. Wie etwa jene zu Vermeers Gemälde "Die Spitzenklöpplerin": Die Herstellung des Luxusguts Spitze durch weibliche Arbeitskraft führte in manchen Regionen Frankreichs oder Flanderns zu einem Mangel an Dienstboten; zur Schau gestellt wurde die Spitze gern von prestigebewussten Männern, die sie am Kragen, an Handgelenken und am Bund ihrer Kniehosen trugen. Die Extravaganz und Sucht nach Luxuswaren von Herrschern wie Ludwig XIV. kurbelten die Produktion und den Export von Technologie und Arbeitskraft über Grenzen hinweg an, führten aber auch zu Wirtschaftskrisen.
Seit vielen Jahrhunderten ist die Textilproduktion ein Wirtschaftsfaktor, und ein früher Motor der Globalisierung war sie auch. Die Theorie, dass die Wikinger ihre Eroberungszüge bis nach Amerika ausgedehnt hätten, um sich neue Weideflächen für ihre Wollproduktion zu erschließen, klingt ebenso originell wie plausibel. Die wasserabweisenden Segel ihrer Handelsschiffe wurden aus der Wolle einer alten Schafrasse gefertigt. Um ein Frachtschiff samt Crew auszurüsten, benötigte man zweihundert Kilo Wolle und zehn Jahre Arbeit.
Die Handelsroute der Seidenstraße, über die das kostbare Gut samt dem Geheimnis seiner Produktion verbreitet wurde, hat bis heute ihre geopolitische Bedeutung nicht verloren, Ideen und Kulturen verschmolzen miteinander, der Buddhismus wurde auf diesem Weg exportiert. Wie Klöppelspitze blieb Seide dem wohlhabenden Teil der Gesellschaft vorbehalten und wurde zum sichtbaren Ausdruck von Macht, kritische Stimmen im alten Rom sahen in der Ankunft der Seide ein Zeichen des Niedergangs.
Am Beispiel der Baumwolle, die die industrielle Revolution befeuerte und ein Modell für landwirtschaftliche Monokulturen schuf, lässt sich zeigen, in welchem Ausmaß profitoptimierende Prozesse ins Werk gesetzt wurden, an deren Ende die Fast Fashion des einundzwanzigsten Jahrhunderts steht. Seit der Erfindung der Dampfmaschine gierten aufstrebende Industriebetriebe in Zentren wie Manchester nach Rohstoffen, die auf von Sklaven bearbeiteten amerikanischen Plantagen angebaut wurden. Afrikanische Menschenhändler wiederum ließen sich für die Bereitstellung ihrer Ware mit einem Teil der Produktion bezahlen, mit hochwertigen Baumwollstoffen. Die Verbindung der Sklaverei mit dem Baumwollhandel bezeichnet St. Clair als "Kett- und Schussfaden zum wirtschaftlichen Erfolg Amerikas". Gekrönt wurde dieser durch einen weltweiten Exportschlager: die Blue Jeans avancierten zum Kultursymbol, ehe die Kunstfaser in den siebziger Jahren die Naturfaser abzulösen begann.
Was die "Welt der Stoffe" zur packenden Lektüre macht, das sind die Fäden, die kreuzweise zwischen Rohstoffen und Epochen gespannt werden: Stoffzuweisungen für "Negerkleidung" führten ebenso auf das Terrain von Macht und Herrschaft wie Kleidervorschriften im feudalen Europa oder im Alten China. Die Schicksalsfäden der Parzen sind in der Mythologie der alten Griechen ein Symbol für das Leben, Kassia St. Clair hat sie zu einem bunten Flickenteppich aus Stoffmustern gewebt.
GUDRUN BRAUNSPERGER
Kassia St. Clair: "Die Welt der Stoffe".
Aus dem Englischen von
Marion Hertle. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020. 416 S., geb., 26,- [Euro].
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»Sie verknüpft dabei unterhaltsam, wenn auch etwas eklektisch, Fakten und Personen [...].« Ulla Fölsing Frankfurter Allgemeine Zeitung 20200615