Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.1999Erst murmelten die Mönche, dann wurde es still ums Buch
Der Körper starr, die Lippen fest geschlossen, der Blick ans Zeilenband geheftet: Neues zur Geschichte des Lesers und der Lektüre von der Antike bis zur Moderne
Um 1538 widmet Ludger tom Ring d. Ä. eine Tafel seiner Serie der Sibyllen und heidnischen Seher dem Dichter Vergil. Gestützt auf Verse der Vierten Ekloge (41 v. Chr.) aus den "Bucolica" galt Vergil mittelalterlichen Exegeten als Prophet, der die anbrechende Heils- und Endzeit mit der Geburt eines Kindes - in christlicher Deutung des Messias - geweissagt habe. Tom Rings Darstellung konzentriert sich aber weniger auf den Propheten als auf den Dichter. Vergils Blick schweift nicht in die Ferne, sondern richtet sich durch die Brille fest auf einen Folianten: er liest. Die ikonographische Tradition, in die der Maler den spätantiken Autor so nachdrücklich stellt, ist die des "poeta doctus", eben jenes Autorentyps, wie ihn Renaissance und Humanismus favorisieren. "Virgilius omnium poetarum doctissimus" (Vergil ist der gelehrteste unter allen Dichtern) lautet die Inschrift auf der Goldborte seines Gewandes, womit lediglich bestätigt wird, was Brille und Buch als Symbole der Gelehrsamkeit dem flüchtigen Betrachter längst signalisiert haben.
Jutta Assel und Georg Jäger haben in ihrem Beitrag "Zur Ikonographie des Lesens" im neuen "Handbuch Lesen" eine Fülle von Bildern Lesender zusammengetragen und nach ihrem Quellenwert für die Lesegeschichte gefragt. Welche Schlüsse lässt die Darstellung von Büchern und Lesenden für eine Geschichte des Lesens zu? Was genau vermittelt der lesende Vergil, versetzt in die humanistische Studierstube? Nichts über den antiken Leser, aber viel über die Lektürepraxis der gelehrten Welt um 1500. Eine zentrale Position weist die Bildkomposition Brille und Buch zu. Die Brille, gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts in Norditalien erfunden, dürfte die produktive Zeit des Gelehrtenlebens erheblich verlängert haben, indem sie Lesen (und Schreiben) im Alter ermöglicht hat. Vergil benutzt hier die Bügelbrille, bei der zwei geschliffene Eingläser über einen Nasensteg verbunden sind. Den Kneifer mit der rechten Hand vor Augen haltend, blättert er mit der freien linken in einer großformatigen Handschrift. Der Foliant im lederüberzogenen gotischen Holzdeckeleinband lehnt an einer Brüstung, die ein schräggestelltes Pult ersetzt. Lesepulte, die den Umgang mit den sperrigen Folianten erleichtern, begleiten den Kodex, seit er in der westlichen Welt erscheint. Eng mit der Überlieferung christlicher Texte verbunden, setzt er sich zwischen dem dritten und fünften nachchristlichen Jahrhundert gegen die Schriftrolle durch. Damit ist das Erfolgsmodell des Buches - Lagen von Pergament oder Papier, geheftet in einen festen oder flexiblen Einband - geboren. Vergil als heidnischer Literat hätte wahrscheinlich eine Rolle aus Papyrus, von beiden Händen gehalten, auf dem Schoß balanciert. Ludger tom Ring aber, wenn er überhaupt um die Bedeutung der Rolle für die Schriftüberlieferung der Antike gewusst hat, hätte sie für seine Darstellung kaum verwenden können. Nicht nur weil seine Vorstellung vom Lesen fest an das Buch gebunden ist, sondern weil er uns mit den halb aufgeblätterten Seiten ein detailliertes Textlayout zeigt, das eine neue Dimension des Lesens eröffnet hat: die wissenschaftliche Lektüre.
Wie Textpräsentation und Leseweisen sich bedingen, hat Ivan Illichs erhellender, poetisch formulierter Essay "Im Weinberg des Textes" vor einem Jahrzehnt einem breiten Publikum nahe gebracht. Mit dem Rationalitätsschub der Scholastik tritt neben die herrschende klösterliche Lektürepraxis ein zergliedernder und reflektierender Umgang mit der Bibel und ihren Kommentatoren. Die Gemeinschaft der frommen Murmler hinter Klostermauern, die unter stimmlichem und motorischem Einsatz der Schrift Zeile für Zeile und Seite für Seite folgen, die Wörter geradezu wiederkäuend, gibt nun nicht mehr das allein gültige Modell des lesenden Umgangs mit den kanonischen Texten vor. An den neugegründeten Universitäten wie Paris und Oxford bricht zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts die Zeit der individuellen, leisen Lektüre an; sie wird die anderthalb Jahrtausende geübte Praxis des lautierenden Lesens langfristig in ein Nischendasein verdrängen. Im klassischen Griechenland und in der römischen Welt hatte dem gesprochenen Wort, dem mit allen Kunstgriffen der Rhetorik vorgetragenen literarischen Text, alle Aufmerksamkeit gegolten. Demgegenüber ist das Murmeln der Mönche ein großer Schritt auf dem Weg zum leisen und konzentrierten Lesen. Aber immer noch gleicht es als Lauschen aufdie eigene Stimme dem Hören auf einen Vorleser. Die Akzentverschiebung vom noch auditiv vermittelten Verstehen der Schrift zur visuellen Entschlüsselung der Zeichen ist unmittelbar am Layout der Seite ablesbar: der Schreiber bereitet den Text sorgfältig für den (leisen) Leser vor. Bereits die frühmittelalterliche Handschrift kennt Gliederungshilfen, die Vortrag und Lesen erleichtern, wie ausgerückte Versalien, in roter Tinte geschriebene Initien, Marginalien und Interlinearglossen. Die Feingliederung der Abschnitte durch Rubrikzeichen und Zwischenüberschriften, die durchdachte Hierarchisierung der Textstruktur durch in Schmuck und Größe sorgfältig gestaffelte Initialen sowie die parallele Anordnung von Text, Glosse und Kommentar in unterschiedlichen Schriftgrößen sind Indizien eines neuen Umgangs mit der Überlieferung. Das "Schriftbild der Moderne" (Illich) entsteht.
So auch die Seiten im Buch des Vergil. Zwei Kolumnen in Kursivschrift, eine rote Versalie zu Beginn, Rubrikzeichen, Überschriften und Marginalien in winziger Schrift, dazu Lesebändchen und Lesezeichen: Virgil liest nicht, er studiert. Zudem repräsentiert er bereits eine moderne Lektürepraxis. Den Körper starr fixiert, die Lippen fest geschlossen, zählt für ihn allein das Buch. Versunken in die Welt des Textes, ist der Leser verloren für die Außenwelt: ein soziales Ärgernis und für den Bildbetrachter ein Affront, der durch die frontale Positionierung der Figur verstärkt wird.
Die "Welt des Lesens" von der Antike bis zur Gegenwart zu erschließen, hat sich ein gewichtiger Band zur Aufgabe gemacht. Auf die mediale Gebundenheit der "Lesepraktiken" verweist bereits der programmatische Untertitel der deutschen Ausgabe: "Von der Schriftrolle zum Bildschirm". Roger Chartier, Historiker und Protagonist französischer buchhistorischer Forschungen, zeichnet neben dem Paläographen Guglielmo Cavallo als Herausgeber. Im Vorwort wie in seinem Beitrag über das Lesen in Renansce und Barock formuliert Chartier zwei methodische Prämissen, von denen eine Geschichte des Lesens auszugehen habe. Da ist zunächst die Materialität der Überlieferung, dass nämlich die Zeichen in einer bestimmten physischen Gestalt dem Leser unter die Augen kommen. Und da ist zum zweiten die im individuellen Lektüreakt gegebene Freiheit, die auch Chartier im Rückgriff auf die rezeptionsästhetischen Theorien der Literaturwissenschaft (etwa bei Paul Ricoeur oder Wolfgang Iser) dem Leser zugesteht. Mit dem Plädoyer für die Materialität der Texte aber verschreibt sich die Erforschung der Lesegeschichte einem Paradigma, das traditionell vor allem die englische Buchgeschichte geleitet hat. Der in diesem Jahr verstorbene Don F. McKenzie, aber auch die Publikationen von Ivan Illich entfalten ihre Wirkung. Die Bedeutung scheinbar "harter" Fakten ( Alphabetisierungsgrad, schichtenspezifische Verfügbarkeit von Büchern, Ökonomie des Buchmarktes) ist damit relativiert. Der Königsweg zum "gläsernen Leser" führt nun nicht mehr ausschließlich über sozialgeschichtliche Parameter. Vor allem die Beiträge zum Lesen im Mittelalter dokumentieren dies eindrucksvoll, da die Mediävisten bei notorischer Quellenarmut zur Alltagskultur schon immer an die Überlieferung selbst verwiesen waren. Die Artikel zum Lesen (Malcolm Parkes), zu den neuen Lesern, den Laien im hohen und ausgehenden Mittelalter (Paul Saenger) und über den humanistischen Leser (Anthony Grafton) stammen von ausgewiesenen Autoren, denen wir Standardwerke zum Thema verdanken.
Die mediävistische Universalität, die dem relativ homogenen gesamteuropäischen Bildungs- und Sprachraum entspricht, verflüchtigt sich jedoch, je weiter die Beiträge in die Neuzeit fortschreiten. Die Nationalität des jeweiligen Verfassers hat fast immer eine Fokussierung innerhalb der Sprachgrenzen zur Folge. Seine Übersetzung ins Deutsche verdankt der vorliegende Band einem Abkommen zwischen der Wissenschaftsstiftung "Maison des Sciences de l'Homme" und dem Campus Verlag zur gemeinsamen Publikation deutscher und französischer geistes- und sozialwissenschaftlicher Werke. Doch bleiben deutschsprachige Publikationen (und Autoren), die für die Lesergeschichte des ausgehenden achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts wichtige Impulse gegeben haben, weitgehend ausgeklammert. Die Moderne ist ausgesprochen dürftig vertreten nur durch einen Überblick über die "neuen Leser im 19. Jahrhundert" (Martyn Lyons) und die sprunghaft-assoziativen Überlegungen Armando Petruccis zum Lesen im Zeitalter der (digitalen) Medienkonkurrenz. Der Aufsatz von Lyons über Frauen, Kinder und die Arbeiterklasse als neue Leser fällt zudem in das übliche gruppen- und schichtenbezogene Schubladendenken zurück.
Den zwar nicht zeitlichen, wohl aber qualitativen Schlusspunkt bildet der Beitrag von Reinhard Wittmann, der einzige im Original deutschsprachige. Er beleuchtet kritisch die "Leserevolution" des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Befördert von der Bildungsideologie der Aufklärung, entsteht ein selbstbewusstes Bildungsbürgertum, das sein Leitmedium im gedruckten Buch sieht. Eine räsonierende Öffentlichkeit stellt die Werte der feudalen, kirchlichen und staatlichen Autoritäten zur Diskussion; ihre Institutionen sind die Lesegesellschaft und die Leihbibliothek. Daneben bleiben die eingeübten Formen des Lesens bestehen: das "wilde", naive und vorreflektive Lesen, das am weitesten verbreitet ist (und bleiben wird), und das gelehrte Lesen. Neu hinzu kommt ein individuelles, emotionsgeleitetes Lesen, dem der Aufstieg der Belletristik und des weiblichen Lesepublikums entsprechen: die "Lesewut", den Aufklärungspädagogen ein Dorn im Auge, bricht aus. Um 1800 setzt die moderne Zersplitterung und Anonymisierung der Leserschaft ein, die sich einer autoritären Sozialdisziplinierung durch das Buch zunehmend widersetzen wird.
Es gibt eine Geschichte des Lesers, aber gibt es überhaupt eine Geschichte des Lesens? Gewiss nicht im Sinne eines linearen Fortschritts, sondern nur als "Geschichte" von Lesetechniken und Lektürepraktiken in ihrem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext und im Blick auf bestimmte Textsorten. Nach der Möglichkeit einer solchen "inneren" Geschichte des Lesens fragt Matthias Bickenbach. Da die historischen Leseoperationen dem Beobachter nicht unmittelbar zugänglich sind, nimmt er drei Parameter zum Ausgangspunkt: das laute und stille, das langsame und schnelle Lesen sowie die einmalige beziehungsweise die Wiederholungslektüre. Es handelt sich dabei um Konstanten des Lesevorgangs, die sowohl in den Quellentexten zum Lesen wie in der Wortgeschichte seit der Antike benannt werden. Sie sind freilich unterschiedlichen Bewertungen und normativen Setzungen unterworfen. Das laute Lesen zum Beispiel kann als verfeinerte Technik der Textrezeption gelten, so in der Antike, aber auch als dem Verständnis hinderlich abgelehnt werden, wie in der Scholastik. Bickenbachs methodisches Konzept verneint damit die Möglichkeit, Epochen innerhalb der Geschichte des Lesens aus einer linearen Abfolge dieser Ordnungsparameter zu gewinnen. Damit wird auch die von Rolf Engelsing um 1970 folgenreich in die Diskussion eingebrachte These, mit einem Übergang von der intensiven Wiederholungslektüre zur extensiven Lektürepraxis in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstehe das moderne Lesen, ein weiteres Mal relativiert. Bickenbachs Untersuchung selbst ist einem systemtheoretischen Ansatz verpflichtet. Wer sich nicht der Luhmann-Anwendung verschrieben hat, mag die theoretische Volte am Schluss - "warum es die Geschichte des Lesens nicht geben kann" - getrost überspringen; diezuvor entwickelte innere Geschichte des Lesens birgt reiches Material.
Im "Handbuch Lesen", das den Vorgängerband "Lesen - ein Handbuch" aus dem Jahre 1973 ersetzen soll, beobachtet nicht das Lesen sich selbst. Vielmehr sezieren der Psycholinguist und der Neurobiologe die kognitiven und psychophysischen Vorgänge beim Lesen mit kommunikationstheoretischem und empirisch-naturwissenschaftlichem Besteck. An die Stelle eines älteren, deterministischen Modells, das Schreiben und Lesen als spiegelbildliches Kodieren und Dekodieren von Bedeutung beschreibt, sind komplexere Fragestellungen getreten. Lesen gilt als kreative Interaktion zwischen Leser und Text, zwischen Vorwissen, Weltwissen, Sprachwissen einerseits und Textinformation andererseits. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um literarische Texte oder eher sachorientierte Informationen handelt. Auf der Wort-, Satz- und Textebene wird der Mikrokosmos des Lesens analysiert, man fragt nach den Folgen des Textverstehens für Lektürewirkungen, und die angewandte Leserforschung (Ursula Christmann/Norbert Groeben) untersucht, wie beim Gestalten der Seiten das Verstehen und Behalten optimiert werden kann. Um die Augenbewegungen beim Lesen, Blicksprung und Fixation, kümmert sich die Neurobiologie (Marc Wittmann/Ernst Pöppel). Beim Gleiten über die Zeilen in unterschiedlich großen Sakkaden gelangen die optischen Reize auf die Netzhaut des Auges und werden als neuronale Informationen an das Gehirn weitergegeben, gespeichert und bewertet. Mit der Zeit, das heißt mit zunehmender Menge an gespeicherter Lektüre, entsteht ein Wissensgebäude, das Teil der Persönlichkeit werden kann. Wir sind zwar abhängig von Buchstaben, aber frei in unserer Interpretation. So bestätigt die naturwissenschaftliche Theoriebildung die Thesen der literarischen Rezeptionsästhetik.
Das "Handbuch Lesen" versucht den gegenwärtigen Wissensstand über das gesamte Gebiet des Lesens zusammenzutragen. Neben die genannten Beiträge treten Artikel zur Mediengeschichte des Buches, zum Buchhandel und zu Bibliotheken, wobei - durchaus im Sinne eines Nachschlagewerkes - den gegenwärtigen Verhältnissen die größte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein gutes Drittel des fast 700 Seiten starken Bandes entfällt auf Bildungspolitik und Medienpädagogik. Und da sind sie wieder, die alten Sorgen der Aufklärer, nur dass der Feind jetzt nicht Lesewut und Romanlektüre heißt, sondern "funktionaler Analphabetismus": man kann sich auch ohne Buch gut unterhalten in der Welt der Bilder, wenn schon nicht zureichend informieren. Lange Listen über Leseförderung allgemein, über Institutionen der Literaturvermittlung im Besonderen und zu Literatur- und Leseförderung in der politischen Bildung ganz speziell: vom Rumpelstilzchen-Literaturprojekt bis zum Börsenverein des Deutschen Buchhandels, von einer Verteidigungsrede für die Preisbindung bis zum "Siebenstein-Geschichten-Wettbewerb" mit dem Raben Rudi (Stiftung Lesen in Zusammenarbeit mit dem ZDF) und dem Einsatz von "Leseomas" reicht das Spektrum. In Zukunft wird niemand mehr behaupten können, er habe nichts gewusst über die Vielfalt der pädagogischen Anstrengungen zum Artenschutz des Lesens.
Aber wie steht es tatsächlich um "Leser und Leseverhalten heute"? Der Sozialwissenschaftler Heinz Bonfadelli wertet neuere empirische Untersuchungen aus, darunter die Allensbach-Umfragen 1981 bis 1987, Studien im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 1989, der Stiftung Lesen 1992/93 und des Börsenvereins 1997. Danach wird nach wie vor in allen Teilen der Bevölkerung gelesen. Allerdings lesen Frauen mehr als Männer und sie lesen häufiger zur Unterhaltung, während Männer eher dem Nützlichkeitsprinzip folgen und sich informieren und bilden. Auch die Zeit und Häufigkeit, mit der ein Buch zur Hand genommen wird, ist in den letzten fünfundzwanzig Jahren stabil geblieben, trotz des Fernsehens. Es scheint, als würde das Buch seinen Platz im Mediensystem behaupten können. Allerdings muß dieses günstige Fazit relativiert werden: bei gestiegenem Bildungsniveau und viel Freizeit wird nicht mehr gelesen als früher. Auch die 1970 erstmals formulierte Hypothese des "increasing knowledge gap" ist nicht entschärft; trotz der Allgegenwart von Informationsmedien wie Fernsehen und Zeitung klafft ein Graben zwischen Gut- und Schlechtinformierten, der wahrscheinlich in Zukunft noch breiter werden wird: die kompetenten Mediennutzer sind auch die Vielleser und diese wiederum sind nach einer Studie des Börsenvereins die typischen Computernutzer.
Überhaupt: der Computer! Im unterschwelligen Diskurs des Bandes hat er das Fernsehen als Erzfeind des Lesens verdrängt. Auch in Beiträgen, in denen man es nicht vermuten und auch nicht für nötig halten würde, findet sich der obligatorische Kratzfuß vor Marshall McLuhen, der bereits 1962 ("The Gutenberg Galaxy") das Ende des Buchzeitalters angesagt hatte. Da aber das Buch trotz McLuhen, Nicolas Negroponte und Norbert Bolz noch immer nicht gestorben ist, gleichen diese Beschwörungsversuche dem Singen des verunsicherten Kindes im dunklen Wald. Eine sachliche Auseinandersetzung mit dem elektronischen Text als Konkurrenzmedium zum Buch findet im Handbuch nicht statt. Der einzige, einschlägig dem Thema gewidmete Beitrag "Elektronische Medien" umfasst ganze sieben Seiten. Eine zehnseitige Bibliographie zum Thema signalisiert das schlechte Gewissen der Herausgeber angesichts dieses Mangels. Dabei ist die Diskussion um das Lesen in Hypertextsystemen längst eröffnet und wird zunehmend auf hohem Niveau geführt. Wie sind Dokumente zu strukturieren, die, miteinander verbunden, eine komplexe Wissensarchitektur bilden sollen? Wie sind die Verknüpfungen, die Links oder Anker, anzulegen? Welche Werkzeuge werden dem Benutzer elektronischer Texte als Such- und Navigationshilfen angeboten, und wie sollte die Bildschirmseite gestaltet sein? Und schließlich eröffnen die Speicherkapazitäten neuer Generationen von offline-Medien und der offene Raum des "World Wide Web" bisher ungekannte Möglichkeiten der Einbindung des Textes in multimediale Zusammenhänge. Der Hypertext wird das Buch nicht verdrängen, aber er fügt der Bandbreite der Lektürepraktiken eine weitere Nuance hinzu. Was über elektronische Netze verbreitet wird, was weiterhin besser im Printmedium aufgehoben ist, dies ist nicht zuletzt abhängig von den Texten und ihrem intendierten Gebrauch. Man muß kein Prophet sein, um festzustellen, daß diese Selektionsprozesse funktional und ökonomieorientiert verlaufen werden.
Wie wenig fürsorglich schließlich das "Handbuch Lesen" als Buch (gedruckt mit Unterstützung der VG Wort) seine Leser behandelt! Überlange Zeilen und geringer Durchschuß, machen kaum Lust zum Lesen und Nachschlagen. Geradezu erbarmungswürdig ist die Abbildungsqualität der zudem nur schwarzweiß und kleinformatig reproduzierten Illustrationen am Schluss des Bandes. Offensichtlich hat die Herstellung die Aufsätze der Neurobiologen und Sprachpsychologen nicht gelesen. Dort hätte man lernen können, was jeder gute Typograph schon immer gewusst hat: dass zu viele Zeichen pro Zeile bei kleinem Schriftgrad den Blicksprüngen - wir sind nun einmal abhängig von unserer Physis - nicht angemessen sind (der Vorgängerband ist noch in zwei Kolumnen gesetzt) und dass die überlegte Seitengestaltung dazu beitragen kann, dass man behält, was man liest. Schon ein Blick in das vor fast einem halben Jahrtausend gemalte Buch des Vergil macht wehmütig. Nicht das buchgestalterische Wissen ist seitdem verloren gegangen, wohl aber der Wille, auch den wissenschaftlichen Text angemessen zu präsentieren. Es ist ja so leicht, sich auf die Ökonomie zu berufen.
URSULA RAUTENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Körper starr, die Lippen fest geschlossen, der Blick ans Zeilenband geheftet: Neues zur Geschichte des Lesers und der Lektüre von der Antike bis zur Moderne
Um 1538 widmet Ludger tom Ring d. Ä. eine Tafel seiner Serie der Sibyllen und heidnischen Seher dem Dichter Vergil. Gestützt auf Verse der Vierten Ekloge (41 v. Chr.) aus den "Bucolica" galt Vergil mittelalterlichen Exegeten als Prophet, der die anbrechende Heils- und Endzeit mit der Geburt eines Kindes - in christlicher Deutung des Messias - geweissagt habe. Tom Rings Darstellung konzentriert sich aber weniger auf den Propheten als auf den Dichter. Vergils Blick schweift nicht in die Ferne, sondern richtet sich durch die Brille fest auf einen Folianten: er liest. Die ikonographische Tradition, in die der Maler den spätantiken Autor so nachdrücklich stellt, ist die des "poeta doctus", eben jenes Autorentyps, wie ihn Renaissance und Humanismus favorisieren. "Virgilius omnium poetarum doctissimus" (Vergil ist der gelehrteste unter allen Dichtern) lautet die Inschrift auf der Goldborte seines Gewandes, womit lediglich bestätigt wird, was Brille und Buch als Symbole der Gelehrsamkeit dem flüchtigen Betrachter längst signalisiert haben.
Jutta Assel und Georg Jäger haben in ihrem Beitrag "Zur Ikonographie des Lesens" im neuen "Handbuch Lesen" eine Fülle von Bildern Lesender zusammengetragen und nach ihrem Quellenwert für die Lesegeschichte gefragt. Welche Schlüsse lässt die Darstellung von Büchern und Lesenden für eine Geschichte des Lesens zu? Was genau vermittelt der lesende Vergil, versetzt in die humanistische Studierstube? Nichts über den antiken Leser, aber viel über die Lektürepraxis der gelehrten Welt um 1500. Eine zentrale Position weist die Bildkomposition Brille und Buch zu. Die Brille, gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts in Norditalien erfunden, dürfte die produktive Zeit des Gelehrtenlebens erheblich verlängert haben, indem sie Lesen (und Schreiben) im Alter ermöglicht hat. Vergil benutzt hier die Bügelbrille, bei der zwei geschliffene Eingläser über einen Nasensteg verbunden sind. Den Kneifer mit der rechten Hand vor Augen haltend, blättert er mit der freien linken in einer großformatigen Handschrift. Der Foliant im lederüberzogenen gotischen Holzdeckeleinband lehnt an einer Brüstung, die ein schräggestelltes Pult ersetzt. Lesepulte, die den Umgang mit den sperrigen Folianten erleichtern, begleiten den Kodex, seit er in der westlichen Welt erscheint. Eng mit der Überlieferung christlicher Texte verbunden, setzt er sich zwischen dem dritten und fünften nachchristlichen Jahrhundert gegen die Schriftrolle durch. Damit ist das Erfolgsmodell des Buches - Lagen von Pergament oder Papier, geheftet in einen festen oder flexiblen Einband - geboren. Vergil als heidnischer Literat hätte wahrscheinlich eine Rolle aus Papyrus, von beiden Händen gehalten, auf dem Schoß balanciert. Ludger tom Ring aber, wenn er überhaupt um die Bedeutung der Rolle für die Schriftüberlieferung der Antike gewusst hat, hätte sie für seine Darstellung kaum verwenden können. Nicht nur weil seine Vorstellung vom Lesen fest an das Buch gebunden ist, sondern weil er uns mit den halb aufgeblätterten Seiten ein detailliertes Textlayout zeigt, das eine neue Dimension des Lesens eröffnet hat: die wissenschaftliche Lektüre.
Wie Textpräsentation und Leseweisen sich bedingen, hat Ivan Illichs erhellender, poetisch formulierter Essay "Im Weinberg des Textes" vor einem Jahrzehnt einem breiten Publikum nahe gebracht. Mit dem Rationalitätsschub der Scholastik tritt neben die herrschende klösterliche Lektürepraxis ein zergliedernder und reflektierender Umgang mit der Bibel und ihren Kommentatoren. Die Gemeinschaft der frommen Murmler hinter Klostermauern, die unter stimmlichem und motorischem Einsatz der Schrift Zeile für Zeile und Seite für Seite folgen, die Wörter geradezu wiederkäuend, gibt nun nicht mehr das allein gültige Modell des lesenden Umgangs mit den kanonischen Texten vor. An den neugegründeten Universitäten wie Paris und Oxford bricht zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts die Zeit der individuellen, leisen Lektüre an; sie wird die anderthalb Jahrtausende geübte Praxis des lautierenden Lesens langfristig in ein Nischendasein verdrängen. Im klassischen Griechenland und in der römischen Welt hatte dem gesprochenen Wort, dem mit allen Kunstgriffen der Rhetorik vorgetragenen literarischen Text, alle Aufmerksamkeit gegolten. Demgegenüber ist das Murmeln der Mönche ein großer Schritt auf dem Weg zum leisen und konzentrierten Lesen. Aber immer noch gleicht es als Lauschen aufdie eigene Stimme dem Hören auf einen Vorleser. Die Akzentverschiebung vom noch auditiv vermittelten Verstehen der Schrift zur visuellen Entschlüsselung der Zeichen ist unmittelbar am Layout der Seite ablesbar: der Schreiber bereitet den Text sorgfältig für den (leisen) Leser vor. Bereits die frühmittelalterliche Handschrift kennt Gliederungshilfen, die Vortrag und Lesen erleichtern, wie ausgerückte Versalien, in roter Tinte geschriebene Initien, Marginalien und Interlinearglossen. Die Feingliederung der Abschnitte durch Rubrikzeichen und Zwischenüberschriften, die durchdachte Hierarchisierung der Textstruktur durch in Schmuck und Größe sorgfältig gestaffelte Initialen sowie die parallele Anordnung von Text, Glosse und Kommentar in unterschiedlichen Schriftgrößen sind Indizien eines neuen Umgangs mit der Überlieferung. Das "Schriftbild der Moderne" (Illich) entsteht.
So auch die Seiten im Buch des Vergil. Zwei Kolumnen in Kursivschrift, eine rote Versalie zu Beginn, Rubrikzeichen, Überschriften und Marginalien in winziger Schrift, dazu Lesebändchen und Lesezeichen: Virgil liest nicht, er studiert. Zudem repräsentiert er bereits eine moderne Lektürepraxis. Den Körper starr fixiert, die Lippen fest geschlossen, zählt für ihn allein das Buch. Versunken in die Welt des Textes, ist der Leser verloren für die Außenwelt: ein soziales Ärgernis und für den Bildbetrachter ein Affront, der durch die frontale Positionierung der Figur verstärkt wird.
Die "Welt des Lesens" von der Antike bis zur Gegenwart zu erschließen, hat sich ein gewichtiger Band zur Aufgabe gemacht. Auf die mediale Gebundenheit der "Lesepraktiken" verweist bereits der programmatische Untertitel der deutschen Ausgabe: "Von der Schriftrolle zum Bildschirm". Roger Chartier, Historiker und Protagonist französischer buchhistorischer Forschungen, zeichnet neben dem Paläographen Guglielmo Cavallo als Herausgeber. Im Vorwort wie in seinem Beitrag über das Lesen in Renansce und Barock formuliert Chartier zwei methodische Prämissen, von denen eine Geschichte des Lesens auszugehen habe. Da ist zunächst die Materialität der Überlieferung, dass nämlich die Zeichen in einer bestimmten physischen Gestalt dem Leser unter die Augen kommen. Und da ist zum zweiten die im individuellen Lektüreakt gegebene Freiheit, die auch Chartier im Rückgriff auf die rezeptionsästhetischen Theorien der Literaturwissenschaft (etwa bei Paul Ricoeur oder Wolfgang Iser) dem Leser zugesteht. Mit dem Plädoyer für die Materialität der Texte aber verschreibt sich die Erforschung der Lesegeschichte einem Paradigma, das traditionell vor allem die englische Buchgeschichte geleitet hat. Der in diesem Jahr verstorbene Don F. McKenzie, aber auch die Publikationen von Ivan Illich entfalten ihre Wirkung. Die Bedeutung scheinbar "harter" Fakten ( Alphabetisierungsgrad, schichtenspezifische Verfügbarkeit von Büchern, Ökonomie des Buchmarktes) ist damit relativiert. Der Königsweg zum "gläsernen Leser" führt nun nicht mehr ausschließlich über sozialgeschichtliche Parameter. Vor allem die Beiträge zum Lesen im Mittelalter dokumentieren dies eindrucksvoll, da die Mediävisten bei notorischer Quellenarmut zur Alltagskultur schon immer an die Überlieferung selbst verwiesen waren. Die Artikel zum Lesen (Malcolm Parkes), zu den neuen Lesern, den Laien im hohen und ausgehenden Mittelalter (Paul Saenger) und über den humanistischen Leser (Anthony Grafton) stammen von ausgewiesenen Autoren, denen wir Standardwerke zum Thema verdanken.
Die mediävistische Universalität, die dem relativ homogenen gesamteuropäischen Bildungs- und Sprachraum entspricht, verflüchtigt sich jedoch, je weiter die Beiträge in die Neuzeit fortschreiten. Die Nationalität des jeweiligen Verfassers hat fast immer eine Fokussierung innerhalb der Sprachgrenzen zur Folge. Seine Übersetzung ins Deutsche verdankt der vorliegende Band einem Abkommen zwischen der Wissenschaftsstiftung "Maison des Sciences de l'Homme" und dem Campus Verlag zur gemeinsamen Publikation deutscher und französischer geistes- und sozialwissenschaftlicher Werke. Doch bleiben deutschsprachige Publikationen (und Autoren), die für die Lesergeschichte des ausgehenden achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts wichtige Impulse gegeben haben, weitgehend ausgeklammert. Die Moderne ist ausgesprochen dürftig vertreten nur durch einen Überblick über die "neuen Leser im 19. Jahrhundert" (Martyn Lyons) und die sprunghaft-assoziativen Überlegungen Armando Petruccis zum Lesen im Zeitalter der (digitalen) Medienkonkurrenz. Der Aufsatz von Lyons über Frauen, Kinder und die Arbeiterklasse als neue Leser fällt zudem in das übliche gruppen- und schichtenbezogene Schubladendenken zurück.
Den zwar nicht zeitlichen, wohl aber qualitativen Schlusspunkt bildet der Beitrag von Reinhard Wittmann, der einzige im Original deutschsprachige. Er beleuchtet kritisch die "Leserevolution" des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Befördert von der Bildungsideologie der Aufklärung, entsteht ein selbstbewusstes Bildungsbürgertum, das sein Leitmedium im gedruckten Buch sieht. Eine räsonierende Öffentlichkeit stellt die Werte der feudalen, kirchlichen und staatlichen Autoritäten zur Diskussion; ihre Institutionen sind die Lesegesellschaft und die Leihbibliothek. Daneben bleiben die eingeübten Formen des Lesens bestehen: das "wilde", naive und vorreflektive Lesen, das am weitesten verbreitet ist (und bleiben wird), und das gelehrte Lesen. Neu hinzu kommt ein individuelles, emotionsgeleitetes Lesen, dem der Aufstieg der Belletristik und des weiblichen Lesepublikums entsprechen: die "Lesewut", den Aufklärungspädagogen ein Dorn im Auge, bricht aus. Um 1800 setzt die moderne Zersplitterung und Anonymisierung der Leserschaft ein, die sich einer autoritären Sozialdisziplinierung durch das Buch zunehmend widersetzen wird.
Es gibt eine Geschichte des Lesers, aber gibt es überhaupt eine Geschichte des Lesens? Gewiss nicht im Sinne eines linearen Fortschritts, sondern nur als "Geschichte" von Lesetechniken und Lektürepraktiken in ihrem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext und im Blick auf bestimmte Textsorten. Nach der Möglichkeit einer solchen "inneren" Geschichte des Lesens fragt Matthias Bickenbach. Da die historischen Leseoperationen dem Beobachter nicht unmittelbar zugänglich sind, nimmt er drei Parameter zum Ausgangspunkt: das laute und stille, das langsame und schnelle Lesen sowie die einmalige beziehungsweise die Wiederholungslektüre. Es handelt sich dabei um Konstanten des Lesevorgangs, die sowohl in den Quellentexten zum Lesen wie in der Wortgeschichte seit der Antike benannt werden. Sie sind freilich unterschiedlichen Bewertungen und normativen Setzungen unterworfen. Das laute Lesen zum Beispiel kann als verfeinerte Technik der Textrezeption gelten, so in der Antike, aber auch als dem Verständnis hinderlich abgelehnt werden, wie in der Scholastik. Bickenbachs methodisches Konzept verneint damit die Möglichkeit, Epochen innerhalb der Geschichte des Lesens aus einer linearen Abfolge dieser Ordnungsparameter zu gewinnen. Damit wird auch die von Rolf Engelsing um 1970 folgenreich in die Diskussion eingebrachte These, mit einem Übergang von der intensiven Wiederholungslektüre zur extensiven Lektürepraxis in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstehe das moderne Lesen, ein weiteres Mal relativiert. Bickenbachs Untersuchung selbst ist einem systemtheoretischen Ansatz verpflichtet. Wer sich nicht der Luhmann-Anwendung verschrieben hat, mag die theoretische Volte am Schluss - "warum es die Geschichte des Lesens nicht geben kann" - getrost überspringen; diezuvor entwickelte innere Geschichte des Lesens birgt reiches Material.
Im "Handbuch Lesen", das den Vorgängerband "Lesen - ein Handbuch" aus dem Jahre 1973 ersetzen soll, beobachtet nicht das Lesen sich selbst. Vielmehr sezieren der Psycholinguist und der Neurobiologe die kognitiven und psychophysischen Vorgänge beim Lesen mit kommunikationstheoretischem und empirisch-naturwissenschaftlichem Besteck. An die Stelle eines älteren, deterministischen Modells, das Schreiben und Lesen als spiegelbildliches Kodieren und Dekodieren von Bedeutung beschreibt, sind komplexere Fragestellungen getreten. Lesen gilt als kreative Interaktion zwischen Leser und Text, zwischen Vorwissen, Weltwissen, Sprachwissen einerseits und Textinformation andererseits. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um literarische Texte oder eher sachorientierte Informationen handelt. Auf der Wort-, Satz- und Textebene wird der Mikrokosmos des Lesens analysiert, man fragt nach den Folgen des Textverstehens für Lektürewirkungen, und die angewandte Leserforschung (Ursula Christmann/Norbert Groeben) untersucht, wie beim Gestalten der Seiten das Verstehen und Behalten optimiert werden kann. Um die Augenbewegungen beim Lesen, Blicksprung und Fixation, kümmert sich die Neurobiologie (Marc Wittmann/Ernst Pöppel). Beim Gleiten über die Zeilen in unterschiedlich großen Sakkaden gelangen die optischen Reize auf die Netzhaut des Auges und werden als neuronale Informationen an das Gehirn weitergegeben, gespeichert und bewertet. Mit der Zeit, das heißt mit zunehmender Menge an gespeicherter Lektüre, entsteht ein Wissensgebäude, das Teil der Persönlichkeit werden kann. Wir sind zwar abhängig von Buchstaben, aber frei in unserer Interpretation. So bestätigt die naturwissenschaftliche Theoriebildung die Thesen der literarischen Rezeptionsästhetik.
Das "Handbuch Lesen" versucht den gegenwärtigen Wissensstand über das gesamte Gebiet des Lesens zusammenzutragen. Neben die genannten Beiträge treten Artikel zur Mediengeschichte des Buches, zum Buchhandel und zu Bibliotheken, wobei - durchaus im Sinne eines Nachschlagewerkes - den gegenwärtigen Verhältnissen die größte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein gutes Drittel des fast 700 Seiten starken Bandes entfällt auf Bildungspolitik und Medienpädagogik. Und da sind sie wieder, die alten Sorgen der Aufklärer, nur dass der Feind jetzt nicht Lesewut und Romanlektüre heißt, sondern "funktionaler Analphabetismus": man kann sich auch ohne Buch gut unterhalten in der Welt der Bilder, wenn schon nicht zureichend informieren. Lange Listen über Leseförderung allgemein, über Institutionen der Literaturvermittlung im Besonderen und zu Literatur- und Leseförderung in der politischen Bildung ganz speziell: vom Rumpelstilzchen-Literaturprojekt bis zum Börsenverein des Deutschen Buchhandels, von einer Verteidigungsrede für die Preisbindung bis zum "Siebenstein-Geschichten-Wettbewerb" mit dem Raben Rudi (Stiftung Lesen in Zusammenarbeit mit dem ZDF) und dem Einsatz von "Leseomas" reicht das Spektrum. In Zukunft wird niemand mehr behaupten können, er habe nichts gewusst über die Vielfalt der pädagogischen Anstrengungen zum Artenschutz des Lesens.
Aber wie steht es tatsächlich um "Leser und Leseverhalten heute"? Der Sozialwissenschaftler Heinz Bonfadelli wertet neuere empirische Untersuchungen aus, darunter die Allensbach-Umfragen 1981 bis 1987, Studien im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 1989, der Stiftung Lesen 1992/93 und des Börsenvereins 1997. Danach wird nach wie vor in allen Teilen der Bevölkerung gelesen. Allerdings lesen Frauen mehr als Männer und sie lesen häufiger zur Unterhaltung, während Männer eher dem Nützlichkeitsprinzip folgen und sich informieren und bilden. Auch die Zeit und Häufigkeit, mit der ein Buch zur Hand genommen wird, ist in den letzten fünfundzwanzig Jahren stabil geblieben, trotz des Fernsehens. Es scheint, als würde das Buch seinen Platz im Mediensystem behaupten können. Allerdings muß dieses günstige Fazit relativiert werden: bei gestiegenem Bildungsniveau und viel Freizeit wird nicht mehr gelesen als früher. Auch die 1970 erstmals formulierte Hypothese des "increasing knowledge gap" ist nicht entschärft; trotz der Allgegenwart von Informationsmedien wie Fernsehen und Zeitung klafft ein Graben zwischen Gut- und Schlechtinformierten, der wahrscheinlich in Zukunft noch breiter werden wird: die kompetenten Mediennutzer sind auch die Vielleser und diese wiederum sind nach einer Studie des Börsenvereins die typischen Computernutzer.
Überhaupt: der Computer! Im unterschwelligen Diskurs des Bandes hat er das Fernsehen als Erzfeind des Lesens verdrängt. Auch in Beiträgen, in denen man es nicht vermuten und auch nicht für nötig halten würde, findet sich der obligatorische Kratzfuß vor Marshall McLuhen, der bereits 1962 ("The Gutenberg Galaxy") das Ende des Buchzeitalters angesagt hatte. Da aber das Buch trotz McLuhen, Nicolas Negroponte und Norbert Bolz noch immer nicht gestorben ist, gleichen diese Beschwörungsversuche dem Singen des verunsicherten Kindes im dunklen Wald. Eine sachliche Auseinandersetzung mit dem elektronischen Text als Konkurrenzmedium zum Buch findet im Handbuch nicht statt. Der einzige, einschlägig dem Thema gewidmete Beitrag "Elektronische Medien" umfasst ganze sieben Seiten. Eine zehnseitige Bibliographie zum Thema signalisiert das schlechte Gewissen der Herausgeber angesichts dieses Mangels. Dabei ist die Diskussion um das Lesen in Hypertextsystemen längst eröffnet und wird zunehmend auf hohem Niveau geführt. Wie sind Dokumente zu strukturieren, die, miteinander verbunden, eine komplexe Wissensarchitektur bilden sollen? Wie sind die Verknüpfungen, die Links oder Anker, anzulegen? Welche Werkzeuge werden dem Benutzer elektronischer Texte als Such- und Navigationshilfen angeboten, und wie sollte die Bildschirmseite gestaltet sein? Und schließlich eröffnen die Speicherkapazitäten neuer Generationen von offline-Medien und der offene Raum des "World Wide Web" bisher ungekannte Möglichkeiten der Einbindung des Textes in multimediale Zusammenhänge. Der Hypertext wird das Buch nicht verdrängen, aber er fügt der Bandbreite der Lektürepraktiken eine weitere Nuance hinzu. Was über elektronische Netze verbreitet wird, was weiterhin besser im Printmedium aufgehoben ist, dies ist nicht zuletzt abhängig von den Texten und ihrem intendierten Gebrauch. Man muß kein Prophet sein, um festzustellen, daß diese Selektionsprozesse funktional und ökonomieorientiert verlaufen werden.
Wie wenig fürsorglich schließlich das "Handbuch Lesen" als Buch (gedruckt mit Unterstützung der VG Wort) seine Leser behandelt! Überlange Zeilen und geringer Durchschuß, machen kaum Lust zum Lesen und Nachschlagen. Geradezu erbarmungswürdig ist die Abbildungsqualität der zudem nur schwarzweiß und kleinformatig reproduzierten Illustrationen am Schluss des Bandes. Offensichtlich hat die Herstellung die Aufsätze der Neurobiologen und Sprachpsychologen nicht gelesen. Dort hätte man lernen können, was jeder gute Typograph schon immer gewusst hat: dass zu viele Zeichen pro Zeile bei kleinem Schriftgrad den Blicksprüngen - wir sind nun einmal abhängig von unserer Physis - nicht angemessen sind (der Vorgängerband ist noch in zwei Kolumnen gesetzt) und dass die überlegte Seitengestaltung dazu beitragen kann, dass man behält, was man liest. Schon ein Blick in das vor fast einem halben Jahrtausend gemalte Buch des Vergil macht wehmütig. Nicht das buchgestalterische Wissen ist seitdem verloren gegangen, wohl aber der Wille, auch den wissenschaftlichen Text angemessen zu präsentieren. Es ist ja so leicht, sich auf die Ökonomie zu berufen.
URSULA RAUTENBERG
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"Ohne Roger Chartier, den Gründer der Leseforschung, gäbe es keine 'Geschichte des Lesens'. Seine gemeinsam mit Guglielmo Cavallo herausgegebene Essaysammlung (13 Aufsätze namhafter Autoren) stellt eine unerschöpfliche Fundgrube für alle dar, die sich ernsthaft mit jener stillen Kunst beschäftigen wollen, die vor allem im Rückzug von der Welt ihren Zauber entfaltet und die heute nur noch von wenigen gepflegt wird. Zugleich ist dieses gelehrte Buch eine Geschichte des gewöhnlichen Lesers, da wir in ihm etwas über die Lektüregewohnheiten unserer Vorfahren erfahren, so dass wir, die Leser an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, uns selbst besser verstehen lernen." (Alberto Manguel)