Die Menschen, von denen Eva Schmidt in ihren Büchern erzählt, sind Nachbarn, Menschen, die neben anderen Menschen leben, einander nah genug, um sich einsam zu fühlen, weit genug voneinander, um sich zu beobachten: aus Neugier, aus dem Bedürfnis nach Berührung oder Intimität, aus Lust an der Überschreitung. Es sind Menschen, die nachts allein in einem Auto am Straßenrand sitzen, Menschen am Fenster, wenn gegenüber das Licht angeht, Menschen, die im Gespräch ausweichen und lieber wieder von ihren Hunden sprechen, solche, die länger als andere den Vögeln am Himmel nachschauen. Von ihnen erzählt Eva Schmidt mit Empathie und Zurückhaltung, nüchtern und beteiligt zugleich. Der Blick, den sie auf ihre Figuren hat, und die Sprache, in der sie lebendig werden, sind provozierend klar. So klar, dass darin nach und nach Ahnungen spürbar und Risse erkennbar werden: leise Irritationen, die noch das Alltäglichste in unserem Leben in eine gespenstische Atmosphäre kippen lassen und in ein Erschrecken darüber, wie allein wir sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Wer beobachtet die Beobachter?
Der Schritt zurück als Stilprinzip: Die Autorin Eva Schmidt schien lange Jahre wie verstummt. Dann meldete sie sich mit zwei eindrucksvollen Romanen zurück. Und veröffentlicht nun einen Erzählungsband, der sie auf der Höhe ihrer Kunst zeigt: Geschichten von Einsamen, denen nichts bleibt als der Blick nach nebenan.
Von Tilman Spreckelsen
Jähe Erkenntnisse zum eigenen Leben können zweifellos richtig und zugleich grotesk falsch sein. "Wenn sie nicht aufgehört hätte zu trinken, wären wir noch immer zusammen", ist so ein Geistesblitz in eigener Sache, der in Eva Schmidts Erzählung "Sommerregen"das ganze Dilemma eines Alkoholikers in sich birgt. Der fällt, von Beruf Immobilienmakler, durch exzentrisches Verhalten auf, als er sich in die Häuser einschleicht, die er eigentlich verkaufen soll, um dort zu übernachten. Dass etwas mit ihm nicht stimmt, ahnt man schnell, während einige Nachtstunden aus seiner Perspektive erzählt werden, in denen er, wie es scheint, ziellos umherfährt, im Kofferraum einen Plattenspieler und Charlie-Parker-Aufnahmen, neben sich eine Provianttasche mit Broten und hartem Alkohol. Seine Gedanken kreisen um die Frau, die ihn verlassen hat, um seine Gewaltausbrüche ihr gegenüber ("er bereute nichts"), um das, was er ihr vorwirft (sie war nicht bereit, eine Ähnlichkeit mit Parker in ihm zu erkennen), und schließlich um eine letzte Begegnung mit ihr nach der Trennung. Was genau dabei passiert ist, bleibt ungesagt, der Trinker rekapituliert es nicht. So ist der Leser darauf angewiesen, sich seinen eigenen Reim zu machen. Dass der gruselig ausfällt, ist nicht nur dem auftrumpfenden Ton des Trinkers und der Erwähnung einer mitgeführten Waffe geschuldet. Es ist auch dieser Satz fast am Ende der Geschichte: "Verdammt, dachte er, wäre ich nur rechtzeitig gegangen."
Es geht um Grenzen in Eva Schmidts neuem Erzählungsband "Die Welt gegenüber", um diejenigen, die fortwährend dagegen stoßen, ohne es zu wollen, und diejenigen, die sie durchbrechen. Es geht in den zwölf Geschichten, die zwischen fast handlungslosen Prosaminiaturen und kühlen Short Storys angesiedelt sind, um den Preis, der dafür gezahlt werden muss, Grenzen auszuloten. Vor allem aber geht es um diejenigen, die den anderen dabei zusehen, um die Erzähler, letztlich um uns. Und um das Spannungsfeld, das sich daraus ergibt, dass der Betrachter mit dem Geschehen nichts zu tun hat und doch hineingezogen wird.
Das ist in Ansätzen durchaus vertraut im schmalen Werk einer der interessantesten deutschsprachigen Autorinnen überhaupt, die ihr literarisches Debüt, den Erzählungsband "Ein Vergleich mit dem Leben", 1985 bei Residenz mit bereits 33 Jahren publizierte, 1997 den Roman "Zwischen der Zeit" und dann lange Jahre überhaupt kein Buch mehr. An mangelnder Resonanz kann das nicht gelegen haben, schließlich erhielt Eva Schmidt, die in Bregenz lebt und diese Stadt oft in den Schauplätzen ihrer Texte durchschimmern lässt, nicht nur den Zuspruch der Kritik, sondern auch eine Reihe wichtiger Auszeichnungen wie den Rauriser Literaturpreis oder den Nicolas-Born-Preis. Auch die Jurys des Hesse-Preises und des Bremer Literaturpreises zeichneten sie als Nachwuchsautorin aus. Doch Schmidt ließ sich fast zwanzig Jahre Zeit, ehe sie 2016 und 2019 - inzwischen im Verlag Jung und Jung - die Romane "Ein langes Jahr" und "Die untalentierte Lügnerin" erscheinen ließ.
Einen Fingerzeig, auf welchem Weg sie sich dabei befand, gibt eine Veröffentlichung Schmidts aus dem Jahr 2001 in der bemerkenswerten neunten Ausgabe der Zeitschrift "Krachkultur". Sie enthält (neben dem literarischen Debüt von Sasa Stanisic) auch drei kurze Texte Eva Schmidts, die fünfzehn Jahre später teilweise in den wie aus Shortcuts montierten Roman "Ein langes Jahr" eingegangen sind. Allerdings nicht unverändert. Die Autorin nimmt dort gegenüber der Zeitschriftenfassung einiges zurück, vor allem Feststellungen, sichere Urteile und alles, was die Protagonisten den Lesern ausliefern könnte. An ihre Stelle treten im Roman nun in sehr ähnlichen Szenen Diskretion und Mehrdeutigkeit, was ihm entschieden guttut. Und es kommt, entscheidend für Schmidts Poetik seither, zum Schritt zurück als Stilprinzip: Die Geschehnisse werden nicht mehr gedeutet und eingeordnet, sondern nüchtern betrachtet, und es ist das Beobachten selbst, das dort erzählt wird. Prägnant geschieht das etwa in einem Kapitel, in dem eine Ich-Erzählerin von ihren beiläufigen Observationen des gegenüberliegenden Hauses berichtet, die zahlreiche Bewohner umfassen und erst in dem Moment an ein Ende kommen, in dem eine Nachbarin plötzlich das Auge auf die Neugierige richtet, die sich damit nun ihrerseits immer unwohler fühlt, ihren Posten verlässt und schließlich auszieht.
Bereits in Schmidts Debüt heißt es über eine Protagonistin: "Bei Menschen interessiert sie nur, wie sie sich zueinander verhalten, durch das Beobachten empfindet sie die Vorgänge nach, aber nur selten geschieht es, daß sie etwas mitempfindet" - es ist ein Blick auf die Welt der anderen wie durch einen Schleier, gewebt aus vergehender Zeit. Und es ist eine Entscheidung für die beobachtende Durchdringung und gegen die Teilhabe am Leben der anderen, die sich als Variationen auch in anderen Texten der Sammlung findet. Etwa in der Prosaminiatur "Sonne in einem leeren Zimmer", deren Erzähler das Dilemma exakt benennt: "Nur in guter Verfassung kann ich jemanden berühren. In guter Verfassung fehlt mir aber auch die Hellhörigkeit gegenüber der Not der anderen."
Brauchen Schmidts Figuren eigentlich Menschen, oder wären sie lieber allein? Könnten sie sich überhaupt auf ein Gegenüber einlassen? Das ist die immer neu verhandelte Frage auch im aktuellen Erzählungsband der Autorin. Das Spektrum der Protagonistin, an denen sie durchgespielt wird, ist weit, es reicht von einsamen Kindern und Erwachsenen, die sich ihrer annehmen oder ihnen die kalte Schulter zeigen, über Paare, die selbst nicht recht zu wissen scheinen, warum sie eigentlich zusammen sind, und Familien, die bei näherem Hinsehen auseinanderfallen, bis hin zu Zufallsbekanntschaften, die sich teils als überraschend stabil erweisen. Manche Konstellation kehrt aus früheren Texten Schmidts wieder, allen voran das Verhältnis zwischen Tochter, Mutter und Stiefvater in "Eine ernste Sache", die wie eine Variante zu dem im Roman "Die untalentierte Lügnerin" erscheint - mit dem Unterschied freilich, dass die junge Frau in der Erzählung zu ihrem eigenen Unglück an einen jungen Mann gerät, der anfällig für rechtsextremes Gedankengut und gewillt ist, das in die Tat umzusetzen, was sich im Zusammenspiel mit der antriebsarmen Protagonistin als toxisch erweist.
Auf der Strecke bleiben diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind, besonders also die Kinder. Dass man die durchgehende Kühle der Betrachtung in Schmidts Prosa nicht mit Empathielosigkeit verwechseln sollte, zeigt sich an ihnen in besonderem Maße. Die Autorin setzt solche Bilder gekonnt ein, etwa einen vom folgenlosen Schreien erschöpft wegdämmernden Säugling der Protagonistin in "Eine ernste Sache", dessen Mutter ersichtlich überfordert ist und von der Hilfe, die sie durch ihre Umgebung erhält, nur unvollkommen erreicht wird.
Schmidt richtet nicht über ihre Figuren, aber es ist kaum eine dabei, die vor ihrem kalten Blick besteht. Immer wieder raffen sich einige von ihnen auf, den Zuständen um sich herum die Stirn zu bieten, aber dass die Grenze zwischen angebotener Hilfe und Aufdringlichkeit fließend ist, teilt sich ihnen rasch mit, dem Leser sowieso. Wer - wie die Nachbarin in "Die Nacht, in der Jessica über das Seil stolperte" - der zugezogenen Rumpffamilie von nebenan allzu dicht und mit den besten Absichten auf die Pelle rückt, muss sich auf verwunderte Blicke und Ablehnung einstellen, zumal wenn die über den Zaun gereichte Mahlzeit offensichtlich einem Impuls geschuldet ist, der nur durch heimliche Beobachtung der hungernden Nachbarn entstanden sein kann.
So sind es die Blicke und daraus erwachsenden Bilder des anderen, die in den Texten dieser Sammlung die Hauptrolle spielen. Dass sie an ihre Grenzen stoßen, anfällig für Fehldeutungen, und den Beobachter prächtig in die Irre führen, ist den Geschichten eingeschrieben. Und auch, dass wir trotzdem auf sie nicht verzichten können: Meist sind sie alles, was wir haben.
Eva Schmidt: "Die Welt gegenüber". Erzählungen.
Jung und Jung, Salzburg 2021. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schritt zurück als Stilprinzip: Die Autorin Eva Schmidt schien lange Jahre wie verstummt. Dann meldete sie sich mit zwei eindrucksvollen Romanen zurück. Und veröffentlicht nun einen Erzählungsband, der sie auf der Höhe ihrer Kunst zeigt: Geschichten von Einsamen, denen nichts bleibt als der Blick nach nebenan.
Von Tilman Spreckelsen
Jähe Erkenntnisse zum eigenen Leben können zweifellos richtig und zugleich grotesk falsch sein. "Wenn sie nicht aufgehört hätte zu trinken, wären wir noch immer zusammen", ist so ein Geistesblitz in eigener Sache, der in Eva Schmidts Erzählung "Sommerregen"das ganze Dilemma eines Alkoholikers in sich birgt. Der fällt, von Beruf Immobilienmakler, durch exzentrisches Verhalten auf, als er sich in die Häuser einschleicht, die er eigentlich verkaufen soll, um dort zu übernachten. Dass etwas mit ihm nicht stimmt, ahnt man schnell, während einige Nachtstunden aus seiner Perspektive erzählt werden, in denen er, wie es scheint, ziellos umherfährt, im Kofferraum einen Plattenspieler und Charlie-Parker-Aufnahmen, neben sich eine Provianttasche mit Broten und hartem Alkohol. Seine Gedanken kreisen um die Frau, die ihn verlassen hat, um seine Gewaltausbrüche ihr gegenüber ("er bereute nichts"), um das, was er ihr vorwirft (sie war nicht bereit, eine Ähnlichkeit mit Parker in ihm zu erkennen), und schließlich um eine letzte Begegnung mit ihr nach der Trennung. Was genau dabei passiert ist, bleibt ungesagt, der Trinker rekapituliert es nicht. So ist der Leser darauf angewiesen, sich seinen eigenen Reim zu machen. Dass der gruselig ausfällt, ist nicht nur dem auftrumpfenden Ton des Trinkers und der Erwähnung einer mitgeführten Waffe geschuldet. Es ist auch dieser Satz fast am Ende der Geschichte: "Verdammt, dachte er, wäre ich nur rechtzeitig gegangen."
Es geht um Grenzen in Eva Schmidts neuem Erzählungsband "Die Welt gegenüber", um diejenigen, die fortwährend dagegen stoßen, ohne es zu wollen, und diejenigen, die sie durchbrechen. Es geht in den zwölf Geschichten, die zwischen fast handlungslosen Prosaminiaturen und kühlen Short Storys angesiedelt sind, um den Preis, der dafür gezahlt werden muss, Grenzen auszuloten. Vor allem aber geht es um diejenigen, die den anderen dabei zusehen, um die Erzähler, letztlich um uns. Und um das Spannungsfeld, das sich daraus ergibt, dass der Betrachter mit dem Geschehen nichts zu tun hat und doch hineingezogen wird.
Das ist in Ansätzen durchaus vertraut im schmalen Werk einer der interessantesten deutschsprachigen Autorinnen überhaupt, die ihr literarisches Debüt, den Erzählungsband "Ein Vergleich mit dem Leben", 1985 bei Residenz mit bereits 33 Jahren publizierte, 1997 den Roman "Zwischen der Zeit" und dann lange Jahre überhaupt kein Buch mehr. An mangelnder Resonanz kann das nicht gelegen haben, schließlich erhielt Eva Schmidt, die in Bregenz lebt und diese Stadt oft in den Schauplätzen ihrer Texte durchschimmern lässt, nicht nur den Zuspruch der Kritik, sondern auch eine Reihe wichtiger Auszeichnungen wie den Rauriser Literaturpreis oder den Nicolas-Born-Preis. Auch die Jurys des Hesse-Preises und des Bremer Literaturpreises zeichneten sie als Nachwuchsautorin aus. Doch Schmidt ließ sich fast zwanzig Jahre Zeit, ehe sie 2016 und 2019 - inzwischen im Verlag Jung und Jung - die Romane "Ein langes Jahr" und "Die untalentierte Lügnerin" erscheinen ließ.
Einen Fingerzeig, auf welchem Weg sie sich dabei befand, gibt eine Veröffentlichung Schmidts aus dem Jahr 2001 in der bemerkenswerten neunten Ausgabe der Zeitschrift "Krachkultur". Sie enthält (neben dem literarischen Debüt von Sasa Stanisic) auch drei kurze Texte Eva Schmidts, die fünfzehn Jahre später teilweise in den wie aus Shortcuts montierten Roman "Ein langes Jahr" eingegangen sind. Allerdings nicht unverändert. Die Autorin nimmt dort gegenüber der Zeitschriftenfassung einiges zurück, vor allem Feststellungen, sichere Urteile und alles, was die Protagonisten den Lesern ausliefern könnte. An ihre Stelle treten im Roman nun in sehr ähnlichen Szenen Diskretion und Mehrdeutigkeit, was ihm entschieden guttut. Und es kommt, entscheidend für Schmidts Poetik seither, zum Schritt zurück als Stilprinzip: Die Geschehnisse werden nicht mehr gedeutet und eingeordnet, sondern nüchtern betrachtet, und es ist das Beobachten selbst, das dort erzählt wird. Prägnant geschieht das etwa in einem Kapitel, in dem eine Ich-Erzählerin von ihren beiläufigen Observationen des gegenüberliegenden Hauses berichtet, die zahlreiche Bewohner umfassen und erst in dem Moment an ein Ende kommen, in dem eine Nachbarin plötzlich das Auge auf die Neugierige richtet, die sich damit nun ihrerseits immer unwohler fühlt, ihren Posten verlässt und schließlich auszieht.
Bereits in Schmidts Debüt heißt es über eine Protagonistin: "Bei Menschen interessiert sie nur, wie sie sich zueinander verhalten, durch das Beobachten empfindet sie die Vorgänge nach, aber nur selten geschieht es, daß sie etwas mitempfindet" - es ist ein Blick auf die Welt der anderen wie durch einen Schleier, gewebt aus vergehender Zeit. Und es ist eine Entscheidung für die beobachtende Durchdringung und gegen die Teilhabe am Leben der anderen, die sich als Variationen auch in anderen Texten der Sammlung findet. Etwa in der Prosaminiatur "Sonne in einem leeren Zimmer", deren Erzähler das Dilemma exakt benennt: "Nur in guter Verfassung kann ich jemanden berühren. In guter Verfassung fehlt mir aber auch die Hellhörigkeit gegenüber der Not der anderen."
Brauchen Schmidts Figuren eigentlich Menschen, oder wären sie lieber allein? Könnten sie sich überhaupt auf ein Gegenüber einlassen? Das ist die immer neu verhandelte Frage auch im aktuellen Erzählungsband der Autorin. Das Spektrum der Protagonistin, an denen sie durchgespielt wird, ist weit, es reicht von einsamen Kindern und Erwachsenen, die sich ihrer annehmen oder ihnen die kalte Schulter zeigen, über Paare, die selbst nicht recht zu wissen scheinen, warum sie eigentlich zusammen sind, und Familien, die bei näherem Hinsehen auseinanderfallen, bis hin zu Zufallsbekanntschaften, die sich teils als überraschend stabil erweisen. Manche Konstellation kehrt aus früheren Texten Schmidts wieder, allen voran das Verhältnis zwischen Tochter, Mutter und Stiefvater in "Eine ernste Sache", die wie eine Variante zu dem im Roman "Die untalentierte Lügnerin" erscheint - mit dem Unterschied freilich, dass die junge Frau in der Erzählung zu ihrem eigenen Unglück an einen jungen Mann gerät, der anfällig für rechtsextremes Gedankengut und gewillt ist, das in die Tat umzusetzen, was sich im Zusammenspiel mit der antriebsarmen Protagonistin als toxisch erweist.
Auf der Strecke bleiben diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind, besonders also die Kinder. Dass man die durchgehende Kühle der Betrachtung in Schmidts Prosa nicht mit Empathielosigkeit verwechseln sollte, zeigt sich an ihnen in besonderem Maße. Die Autorin setzt solche Bilder gekonnt ein, etwa einen vom folgenlosen Schreien erschöpft wegdämmernden Säugling der Protagonistin in "Eine ernste Sache", dessen Mutter ersichtlich überfordert ist und von der Hilfe, die sie durch ihre Umgebung erhält, nur unvollkommen erreicht wird.
Schmidt richtet nicht über ihre Figuren, aber es ist kaum eine dabei, die vor ihrem kalten Blick besteht. Immer wieder raffen sich einige von ihnen auf, den Zuständen um sich herum die Stirn zu bieten, aber dass die Grenze zwischen angebotener Hilfe und Aufdringlichkeit fließend ist, teilt sich ihnen rasch mit, dem Leser sowieso. Wer - wie die Nachbarin in "Die Nacht, in der Jessica über das Seil stolperte" - der zugezogenen Rumpffamilie von nebenan allzu dicht und mit den besten Absichten auf die Pelle rückt, muss sich auf verwunderte Blicke und Ablehnung einstellen, zumal wenn die über den Zaun gereichte Mahlzeit offensichtlich einem Impuls geschuldet ist, der nur durch heimliche Beobachtung der hungernden Nachbarn entstanden sein kann.
So sind es die Blicke und daraus erwachsenden Bilder des anderen, die in den Texten dieser Sammlung die Hauptrolle spielen. Dass sie an ihre Grenzen stoßen, anfällig für Fehldeutungen, und den Beobachter prächtig in die Irre führen, ist den Geschichten eingeschrieben. Und auch, dass wir trotzdem auf sie nicht verzichten können: Meist sind sie alles, was wir haben.
Eva Schmidt: "Die Welt gegenüber". Erzählungen.
Jung und Jung, Salzburg 2021. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Samuel Hamen schätzt das Verhaltene an den Erzählungen von Eva Schmidt. Keine Aufregung, dafür prägt eine feine Ausarbeitung die Geschichten über alltägliche Tristesse und über die Unmöglichkeit, dagegen aufzubegehren. Die lakonische Sprache und die wie auf Zehenspitzen agierenden Figuren passen gut zueinander, findet Hamen. Dass gesellschaftliche Bedingungen nicht in den Blick kommen, sondern das Unglück vor allem atmosphärisch vermittelt wird, scheint dem Rezensenten ebenfalls zuzusagen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Es ist die betörende Nüchternheit und luzide Genauigkeit ihrer Sätze, die mich an dieser Autorin begeistern. Robert Schneider