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60 Großstichwörter wie Sorge, Angst, Glück, Hoffnung, die uns alltäglich bewegen, werden einer kritischen Rezension unterzogen.

Produktbeschreibung
60 Großstichwörter wie Sorge, Angst, Glück, Hoffnung, die uns alltäglich bewegen, werden einer kritischen Rezension unterzogen.
Autorenporträt
Der Autor: Norbert Wokart, Studium der Philosophie, Theologie und Germanistik; zahlreiche Veröffentlichungen zur Philosophie der Moderne; bei J.B. Metzler sind erschienen: »Ent-Täuschungen: philosophische Signaturen des 20. Jahrhunderts«, 1991; »Antagonismus der Freiheit. Wider die Verharmlosung eines Begriffs«, 1992.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Ski und Rodel fallen flach
Norbert Wokarts Denken nimmt Kurs / Von Christian Geyer

Was gibt's Neues aus der Abteilung "Geist und Leben"? Zu vermelden ist nichts Geringeres als der Versuch, das Denken durch ein "Kursbuch" auf ganz neue Füße zu stellen. Die Art, wie bisher gedacht wurde, hält Norbert Wokart aus einer Reihe durchdachter Gründe für verbraucht. Erstarrt in Gewohnheiten, werde das Denken "mit der Zeit steril, und kaum jemand interessiert sich noch dafür". Was aber passiert mit einem Denken, für das sich kaum noch jemand interessiert? Es leidet unter Liebesentzug und sieht folglich die Welt nur noch grau, arm und, pardon, wohl auch recht unänigmatisch. "Doch die Welt ist bunter, reicher, wohl auch änigmatischer, als unsere eingefahrenen Urteile vermuten lassen", schreibt Wokart.

Wir wären bestimmt nicht auf die Idee gekommen, an dieser Stelle zu widersprechen, wenn wir nur gewußt hätten, was änigmatisch heißt. So aber fühlen wir uns düpiert und fragen: Was kann aus einem "Kursbuch des Denkens" Gutes kommen, das noch nicht einmal verrät, ob änigmatisch ein Schimpfwort oder ein Kosename ist? Nirgends steht da, ob ich sagen muß: Bleib mir vom Hals, du alter Änigmatiker, oder ob das Gegenteil paßt: So herrlich änigmatisch wie heute warst du schon lang' nicht mehr.

Viel grundsätzlicher aber möchte man dem Autor des Kursbuches die nicht minder stachelige Frage stellen: Was ist das für ein Kurs des Denkens, wenn nur derjenige gut denkt, der ständig anders denkt? Ein Schlingerkurs ist das, und wer möchte sicher sein, daß nicht auch ein im Schlingern erstarrtes Denken mit der Zeit so steril wird, daß sich kaum jemand noch dafür interessiert? Dann wäre die Welt genauso grau, arm und unänigmatisch wie zuvor. Zumal es ja zwei ganz verschiedene Sorten von Denkgewohnheiten gibt: gute und schlechte. Die schlechte läuft aufgrund einer äußerlichen Konditionierung ab und täuscht eine Wirklichkeit vor, die es gar nicht gibt. Die gute verdankt sich einer Treue zu sich selbst und bringt eine Routine hervor, hinter der eine um so tiefer verankerte Wirklichkeit steht. Denkgewohnheiten als solche sind also weder steril noch unsteril, und nicht wenige Leute interessieren sich für sie.

Wie sieht nun aber das Kursbuch aus? Es ist ein bißchen wie ein Lexikon aufgemacht, die Stichworte sind jedoch nicht alphabetisch angeordnet, sondern sechs Hauptkapiteln untergeordnet, welche im einzelnen die Überschriften tragen: Der Weg allen Fleisches, Aus der Büchse der Pandora, Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Mensch unter Menschen sein, Wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht, Die letzten Dinge der Menschheit. Entsprechend dem Anspruch des Kursbuches, Denkgewohnheiten aufzubrechen, verwundert es nicht, wenn die Zuordnung der Stichworte zu den sechs Hauptkapiteln in einer Weise vorgenommen wird, von der es heißt: Sie "entspricht nicht immer den Gewohnheiten, macht aber Zusammenhänge klar, die sonst gern übersehen werden".

Solche Zusammenhänge werden, da ist das Kursbuch dem gemeinen Lexikon nicht unähnlich, durch Pfeile angezeigt. Zum Beispiel gibt es in dem Hauptkapitel "Die letzten Fragen der Menschheit" das Stichwort "Orientierung". Wenn man hier anfängt zu lesen, erfährt man zunächst, daß es Kirche, Kunst, Literatur und Wissenschaft sind, die als KKLW-Formel orientierende Welterklärungsmodelle anbieten, mit denen man etwas anfangen kann, weil sie "alle mehr oder weniger brauchbare Vorschläge enthalten, wie man die Welt verstehen und sich in ihr zurechtfinden kann". So ist man schon mal sensibilisiert und nimmt sich vor, Bild und Buch demnächst bevorzugter zu behandeln als Torte und Tragetasche. Erstere sind schließlich, wenn man Wokart trauen darf, sehr brauchbar, viel brauchbarer vielleicht, als es letztere je sein können. Andererseits fragt man sich bei dieser Sicht der Dinge natürlich schon, warum Wokart die Torten aus der KKLW-Formel so kategorisch ausgrenzt. Bieten nicht auch sie ein sahniges Modell zu der Frage an, wie man sich in der Welt zurechtfinden kann? Möglicherweise hat Wokart diesen Zusammenhang übersehen, weil er sich über die Vielfalt der Tortenmodelle, mit denen man etwas anfangen kann, nicht im klaren ist: Es gibt aber nicht nur Sacher-, Trüffel- und Cointreautorte, sondern auch Whiskey-, Baumkuchen- und Engadiner Nußtorte, zu schweigen von Brombeer-, Waldbeer- und Himbeertorte. Niemand soll die Wahrheitsfrage für obsolet halten, nur weil sich kaum noch jemand für Torten interessiert.

Wo aber bleibt der Pfeil? Stöbert man unter "Orientierung" weiter, stößt man zunächst auf das Bild des Lebensweges, welches die Menschen lehre, "das Leben als einen Weg zwischen Geburt und Tod zu verstehen", und auch im Französischen ("chemin de la vie") und Italienischen ("cammino della vita") eine Entsprechung hat. An dieser Stelle weist der Pfeil von "Orientierung" zu "Sinn" und stiftet damit einen Zusammenhang, der nun nicht mehr übersehen werden kann. Ähnlich geht es noch lange fort, der Pfeile sind viele, der Stichworte noch mehr: Warten, Möglich, Auseinandersetzen, Bioethik, Querdenker, Gott, Informationsgesellschaft, Eschatologisch, Meinung, Ausgrenzen, Lüge, Mode, Erlösung, Einleitung, Geld, Grenzsituation, Sehen - so lauten siebzehn von siebenundsechzig, die alle irgendwie miteinander vernetzt werden, aber doch nie zu einer passablen Einheit finden.

Das liegt daran, daß Wokart zwar das ganze Leben bedenkt, aber vergessen hat, sein Denken an eine Erfahrung zu binden. Was bildet sich jemand vom Leben ein, der flott behauptet, "daß Trost nicht möglich, aber auch nicht nötig ist". Der naseweis dahersagt, "daß der Gottesbegriff wohl mehr Fragen aufwirft, als man glaubt, durch ihn lösen zu können", um sich im selben Atemzug bei der Frage nach dem Leid mit der Auskunft zu begnügen: "Ohne dieses lästige Hinauf und angenehme Hinab könnte es ja auch keine Bergesgipfel, Alpentäler, Wiesenhänge, Rebenhügel oder Flüsse geben. Ski und Rodel fielen natürlich im wörtlichen Sinne ebenfalls flach." Alles wird anschaulich, aber nichts durchschaut. Der vage Ehrgeiz, für die Wissensgesellschaft fit zu machen, saugt alle Reste von Erfahrung auf und verwandelt sie in Embleme der Information. Jedes gute Gedicht, jeder Psalm teilt mehr mit über den "chemin de la vie" und den "cammino della vita" als Wokarts Fülle von verpfeilten Informationen.

Der Autor macht nur eine einzige Erfahrung, und ausgerechnet auf die ist er nicht vorbereitet: daß sich über Philosophisches nicht informieren läßt, ohne selber zu philosophieren. In dem Maß, wie er Philosophie als Lebenshilfe herunterbrechen will, sabotiert er die Lebenshilfe, die Philosophie zu geben imstande ist, wenn man nichts von ihr will. Damit zahlt auch Wokart den Preis, der für den Aufschwung der Industrie von "Orientierungsliteratur" zu leisten ist. Was nutzt ein Zettelkasten mit Aphorismen, Bonmots, geflügelten Worte und Sentenzen von Alfred Bellebaum bis Karl Kraus, wenn da kein Standpunkt ist, der sie zusammenhält? Warum zitiert Wokart alle möglichen bildungsbürgerlichen Motive von Herakles am Scheideweg bis Mackie Messer, vom Jargon der Eigentlichkeit bis zur Arbeit am Mythos, um dann ausgerechnet Adornos Theorie der Halbbildung auszulassen?

Aus der hätte sich nicht nur für die Kapitel "Der Weg allen Fleisches" und "Mensch unter Menschen sein" gewinnbringend zitieren lassen. Zumindest in einer verschämten Anmerkung des Nachwortes hätte die Bemerkung untergebracht werden müssen: "Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren."

Norbert Wokart: "Die Welt im Kopf". Ein Kursbuch des Denkens. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1998. X, 410 S., geb., 49,80 DM.

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