Dovid Bergelson, 1882 in Ochrimowo in der heutigen Ukraine geboren, prägte über vier Jahrzehnte die moderne jiddische Literatur. Ob in Kiew, Berlin, New York oder Moskau - Bergelsons literarische Stimme wurde gehört. Er gilt als Erneuerer der jiddischen Prosa zwischen Moderne und Sozialistischem Realismus, bis mit dem Zweiten Weltkrieg und der versuchten Judenvernichtung Bergelsons Schreiben schließlich eine neue, existenzielle Dimension erreichte. Am 12. August 1952 wurde Dovid Bergelson in der sogenannten »Nacht der ermordeten Dichter« in Moskau hingerichtet.
Der vorliegende Band versammelt erstmalig ausgewählte Prosa sowie einen Dramenausschnitt aus Dovid Bergelsons umfänglichem Schaffen. Ergänzt sind die Texte um einen Anmerkungsapparat, ein Glossar und ein ausführliches Nachwort zum Leben und Werk Dovid Bergelsons.
Der vorliegende Band versammelt erstmalig ausgewählte Prosa sowie einen Dramenausschnitt aus Dovid Bergelsons umfänglichem Schaffen. Ergänzt sind die Texte um einen Anmerkungsapparat, ein Glossar und ein ausführliches Nachwort zum Leben und Werk Dovid Bergelsons.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dovid Bergelson, jiddischer Autor, war eines der Opfer von Stalins "Nacht der ermordeten Dichter" 1952, kann Rezensent Jakob Hessing in der hervorragenden Einleitung zu dessen Erzählungen von den Herausgeberinnen Sabine Koller und Alexandra Polyan lesen: So erschließt sich ihm auch die chronologische Einteilung der einzelnen Texte, die die Stationen seines bewegten Lebens zwischen Sowjetunion und Deutschland und immer wieder Exil deutlich machen. Das Frühwerk zeigt Hessing zufolge deutlich modernistische Züge, eine Geschichte über die sowjetische Siedlungspolitik mit starker Bibelsymbolik eignet eine "doppelt traurige Ironie", denn Stalin wird die jiddischen Dichter kurz darauf zwingen, alles Hebräische fallenzulassen. Auch ein Zusammenschluss von Alliierten und dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee ist nur von kurzer Dauer - ob all dieser Traumata und der ihm entzogenen jüdischen Leserschaft nimmt es kaum Wunder, so der Kritiker, dass Bergelson den typisch jiddischen Witz vermissen lässt. So ist das Buch für ihn in gewisser Weise auch Mahnmal für ermordete Schriftsteller und Terror, bestehen doch die Methoden von damals auch heute noch, wie er resümiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Dichter ohne Zukunft
Ein aus der Not geborenes Werk: Dovid Bergelsons Erzählungen
Das Nachwort zu ihrer sorgfältig edierten Auswahl von Erzählungen des jiddischen Prosaautors Dovid Bergelson (1884 bis 1952) beginnen Sabine Koller und Alexandra Polyan mit seinem Tod: "Moskau, 12. August 1952: Nach einem absurden Geheimprozess werden dreizehn führende jüdische Intellektuelle der Sowjetunion hingerichtet. Unter ihnen ist Dovid Bergelson." Stalin, der sie hat töten lassen, stirbt bald darauf; im Zuge der sogenannten Entstalinisierung werden seine Opfer 1955 rehabilitiert; aber erst als die Sowjetunion 1989 zusammenbricht, kommen die Hintergründe der Justizmorde ans Licht.
In der dunklen Geschichte des stalinistischen Terrors heißt das die "Nacht der ermordeten Dichter", und die beiden Herausgeberinnen tun gut daran, dieses Verbrechen an den Anfang ihrer vorzüglichen Einführung zu stellen. Erst in seinem Schatten gewinnen Bergelsons Leben und Werk ihre tragische Tiefe. Er beginnt zu schreiben, als Scholem Alejchems goldenes Zeitalter der jiddischen Literatur schon zu Ende geht. Vor den judenfeindlichen Pogromen in der Ukraine, in der er lebt, flieht er ins Berlin der Weimarer Republik, sucht nach neuen Wegen für diese Literatur. Als Hitler an die Macht kommt, kehrt er in die Sowjetunion zurück, lebt viele Jahre in dem Glauben, dass die jiddische Kultur hier ihre Zukunft habe.
Das wird sich zuletzt als schrecklicher Irrtum erweisen. Lange vor dem bitteren Ende jedoch spiegeln seine Erzählungen Bergelsons Not wider. Chronologisch angeordnet und kenntnisreich kommentiert, unterteilt die Auswahl sie in vier Perioden: Frühwerk, Bürgerkrieg und Emigration, Sowjetunion in den Zwischenkriegsjahren, Zweiter Weltkrieg und Schoa.
Das Frühwerk entsteht von 1910 an, noch vor den großen Umwälzungen des Ersten Weltkriegs und der sowjetischen Revolution. Scholem Alejchem, J. L. Perez und Mendele Mocher Sfurim, die Klassiker der jiddischen Literatur, sind zu dieser Zeit noch tätig, und Bergelsons frühe Erzählungen zeigen den Niedergang der traditionellen jiddischen Kultur, wie sie ehedem im Schtetl gelebt wurde.
Die Herausgeberinnen heben zahlreiche modernistische Elemente an den Texten hervor. In "Jojssef Schor" verweigert sich eine junge Frau der traditionellen Ehevermittlung und gibt einem modernen Künstler den Vorzug, einem Maler, der die Misere der jüdischen Gesellschaft in Bildern festhält.
Weitaus radikaler ist Bergelsons Erzählung "Der Taube". In der Stille, die ihn einschließt, nimmt ein alter, gehörloser Mühlenarbeiter die Niedertracht der Menschen um ihn herum sehr genau wahr. Er ist entsetzt darüber, denn seine eigene Tochter wird zum Opfer dieser Niedertracht. Sein Entsetzen aber findet keinen verbalen Ausdruck, weil er auch nicht sprechen kann. Am Ende erträgt er das Wissen nicht mehr, mit dem er leben muss, und geht in den Tod.
Ein tiefsinniger Humor kennzeichnete die klassischen Werke der jiddischen Literatur, mit dem sie die politische Machtlosigkeit der Schtetl-Gesellschaft kompensierten. Noch Bashevis Singer schrieb das fort, als er sich aus dem Vorkriegspolen nach Amerika gerettet hatte und dort seine Werke auf Jiddisch und auf Englisch veröffentlichte. Der Nobelpreis, den er erhielt, galt einer ganzen Tradition.
Viele Texte der vorliegenden Auswahl sind meisterhafte Erzählungen, und der große Ruhm, den Bergelson einst genossen hat, ist völlig berechtigt. Aber den Humor der jiddischen Klassiker wird man bei ihm vergeblich suchen. Das ist keine Kritik an seinem Stil, sondern ein Symptom der Not, die sein Werk bestimmt und aus der er sich am Ende nicht mehr befreien kann.
Er lebte im Berlin der Goldenen Zwanziger, war ein Stammgast im "Romanischen Café", kam mit allen Strömungen der europäischen Moderne in Berührung, aber ihm fehlte eine jiddische Leserschaft. Wie Singer hätte er nach New York gehen können, und zur Rückkehr in die Sowjetunion entschied er sich vielleicht auch, weil der messianische Ton, in dem die Sowjets ihre Heilsbotschaft verkündeten, ein jüdisches Sentiment in ihm berührte. Es war ein Fehlschluss, der ihn schließlich nicht nur das Leben kostete, sondern auch seinem Werk schadete, das er fortan unter kommunistischer Aufsicht schrieb.
Zu Stalins leeren Versprechen gehörte eine jüdische Autonomie, die seit 1928 im fernen Osten, in Birobidschan, geplant war. 1932 besuchte Bergelson das Gebiet und schrieb noch vor seiner Rückkehr in die Sowjetunion "Birobidschaner", einen enthusiastischen Text über das Projekt. Das in die Auswahl aufgenommene Kapitel beschreibt, wie Mendel Saks und Schimke Schneur in der Taiga nach einem geeigneten Ort suchen, um dort eine Kolchose zu errichten. Saks ist ein erfahrener Landarbeiter, er weiß genau, wonach er sucht, und bald wird er fündig. Er geht auf sein Ziel zu, und Schimke, der sich völlig auf seinen Partner verlässt, "denkt bei sich: Saks hat jetzt genau so ein Gefühl wie er - als betrete man etwas Heiliges. Man möchte am liebsten die Stiefel von sich werfen, damit die Schritte nicht so schwer sind." Als Moses am brennenden Dornbusch zum ersten Mal Gott begegnet, gebietet ihm der Herr, seine Schuhe auszuziehen, da er heiligen Boden betritt (Exodus 3,5). So empfindet es jetzt auch Schimke: Die Taiga wird für ihn zum Heiligtum, und instinktiv will er seine Stiefel abstreifen. Bergelson stellt die hohlen Botschaften der Sowjetunion in biblischer Symbolik dar, und eine doppelt traurige Ironie liegt über dieser Szene.
Bergelson stilisiert die Taiga zum Land der Verheißung, und zur gleichen Zeit errichten zionistische Pioniere in Palästina ihre Kibbuzim. Sie bestehen auch heute noch, während die Kolchosen längst untergegangen sind. Eine zionistische Option hatte Bergelson nie erwogen, und schon bald (1937, drei Jahre nach seiner Rückkehr) zwang Stalin die jiddischen Autoren, in ihren Texten keine hebräischen Wörter mehr zu verwenden. Damit beraubte er ihre Sprache aller Tiefe, denn ohne hebräische Elemente verliert das Jiddische den Bezug zu heiligen Traditionen.
Im Zweiten Weltkrieg werden die Verbrechen der Nazis an den Juden bekannt, und Bergelson fühlt sich zur Zeugenschaft verpflichtet. In einer Reihe von Erzählungen bekennt er sich offen und in hebräischen Formulierungen zum Leid seines jüdischen Volkes. Als Hitler im Sommer 1941 die Sowjetunion überfällt, kommt es noch einmal zur Illusion eines gemeinsamen Kampfes gegen den Feind, an dem auch die sowjetischen Juden teilnehmen. Das Jüdische Antifaschistische Komitee entsteht und bildet eine wichtige Verbindung zu Stalins westlichen Alliierten.
Nach dem Sieg über das Dritte Reich aber gehört das bald der Vergangenheit an. Im Kalten Krieg mutieren die früheren Verbündeten zu Feinden; das Komitee wird aufgelöst, seine ehemaligen Mitglieder, die Stalin wegen ihrer Westkontakte gebraucht hatte, stehen fortan unter dem Verdacht falscher Loyalitäten. Viele der in der Nacht des 12. August 1952 ermordeten Dichter gehörten einst diesem Komitee an, unter ihnen auch Dovid Bergelson.
Menschlichem Empfinden bleiben diese Morde unverständlich, aber nach anderen Beispielen muss man nicht lange suchen. Heute bringen Wladimir Putin oder die Hamas unschuldige Menschen im Nachbarland um und schicken die eigenen Soldaten in einen sinnlosen Tod. Stalins Terror hatte vielleicht andere Ausmaße; das Prinzip bleibt sich gleich. JAKOB HESSING
Dovid Bergelson:
"Die Welt möge Zeuge sein". Erzählungen.
Hrsg. von Sabine Koller und Alexandra Polyan.
Aus dem Jiddischen von Peter Comans u. a.
Jüdischer Verlag, Berlin 2023. 458 S., geb., 29,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein aus der Not geborenes Werk: Dovid Bergelsons Erzählungen
Das Nachwort zu ihrer sorgfältig edierten Auswahl von Erzählungen des jiddischen Prosaautors Dovid Bergelson (1884 bis 1952) beginnen Sabine Koller und Alexandra Polyan mit seinem Tod: "Moskau, 12. August 1952: Nach einem absurden Geheimprozess werden dreizehn führende jüdische Intellektuelle der Sowjetunion hingerichtet. Unter ihnen ist Dovid Bergelson." Stalin, der sie hat töten lassen, stirbt bald darauf; im Zuge der sogenannten Entstalinisierung werden seine Opfer 1955 rehabilitiert; aber erst als die Sowjetunion 1989 zusammenbricht, kommen die Hintergründe der Justizmorde ans Licht.
In der dunklen Geschichte des stalinistischen Terrors heißt das die "Nacht der ermordeten Dichter", und die beiden Herausgeberinnen tun gut daran, dieses Verbrechen an den Anfang ihrer vorzüglichen Einführung zu stellen. Erst in seinem Schatten gewinnen Bergelsons Leben und Werk ihre tragische Tiefe. Er beginnt zu schreiben, als Scholem Alejchems goldenes Zeitalter der jiddischen Literatur schon zu Ende geht. Vor den judenfeindlichen Pogromen in der Ukraine, in der er lebt, flieht er ins Berlin der Weimarer Republik, sucht nach neuen Wegen für diese Literatur. Als Hitler an die Macht kommt, kehrt er in die Sowjetunion zurück, lebt viele Jahre in dem Glauben, dass die jiddische Kultur hier ihre Zukunft habe.
Das wird sich zuletzt als schrecklicher Irrtum erweisen. Lange vor dem bitteren Ende jedoch spiegeln seine Erzählungen Bergelsons Not wider. Chronologisch angeordnet und kenntnisreich kommentiert, unterteilt die Auswahl sie in vier Perioden: Frühwerk, Bürgerkrieg und Emigration, Sowjetunion in den Zwischenkriegsjahren, Zweiter Weltkrieg und Schoa.
Das Frühwerk entsteht von 1910 an, noch vor den großen Umwälzungen des Ersten Weltkriegs und der sowjetischen Revolution. Scholem Alejchem, J. L. Perez und Mendele Mocher Sfurim, die Klassiker der jiddischen Literatur, sind zu dieser Zeit noch tätig, und Bergelsons frühe Erzählungen zeigen den Niedergang der traditionellen jiddischen Kultur, wie sie ehedem im Schtetl gelebt wurde.
Die Herausgeberinnen heben zahlreiche modernistische Elemente an den Texten hervor. In "Jojssef Schor" verweigert sich eine junge Frau der traditionellen Ehevermittlung und gibt einem modernen Künstler den Vorzug, einem Maler, der die Misere der jüdischen Gesellschaft in Bildern festhält.
Weitaus radikaler ist Bergelsons Erzählung "Der Taube". In der Stille, die ihn einschließt, nimmt ein alter, gehörloser Mühlenarbeiter die Niedertracht der Menschen um ihn herum sehr genau wahr. Er ist entsetzt darüber, denn seine eigene Tochter wird zum Opfer dieser Niedertracht. Sein Entsetzen aber findet keinen verbalen Ausdruck, weil er auch nicht sprechen kann. Am Ende erträgt er das Wissen nicht mehr, mit dem er leben muss, und geht in den Tod.
Ein tiefsinniger Humor kennzeichnete die klassischen Werke der jiddischen Literatur, mit dem sie die politische Machtlosigkeit der Schtetl-Gesellschaft kompensierten. Noch Bashevis Singer schrieb das fort, als er sich aus dem Vorkriegspolen nach Amerika gerettet hatte und dort seine Werke auf Jiddisch und auf Englisch veröffentlichte. Der Nobelpreis, den er erhielt, galt einer ganzen Tradition.
Viele Texte der vorliegenden Auswahl sind meisterhafte Erzählungen, und der große Ruhm, den Bergelson einst genossen hat, ist völlig berechtigt. Aber den Humor der jiddischen Klassiker wird man bei ihm vergeblich suchen. Das ist keine Kritik an seinem Stil, sondern ein Symptom der Not, die sein Werk bestimmt und aus der er sich am Ende nicht mehr befreien kann.
Er lebte im Berlin der Goldenen Zwanziger, war ein Stammgast im "Romanischen Café", kam mit allen Strömungen der europäischen Moderne in Berührung, aber ihm fehlte eine jiddische Leserschaft. Wie Singer hätte er nach New York gehen können, und zur Rückkehr in die Sowjetunion entschied er sich vielleicht auch, weil der messianische Ton, in dem die Sowjets ihre Heilsbotschaft verkündeten, ein jüdisches Sentiment in ihm berührte. Es war ein Fehlschluss, der ihn schließlich nicht nur das Leben kostete, sondern auch seinem Werk schadete, das er fortan unter kommunistischer Aufsicht schrieb.
Zu Stalins leeren Versprechen gehörte eine jüdische Autonomie, die seit 1928 im fernen Osten, in Birobidschan, geplant war. 1932 besuchte Bergelson das Gebiet und schrieb noch vor seiner Rückkehr in die Sowjetunion "Birobidschaner", einen enthusiastischen Text über das Projekt. Das in die Auswahl aufgenommene Kapitel beschreibt, wie Mendel Saks und Schimke Schneur in der Taiga nach einem geeigneten Ort suchen, um dort eine Kolchose zu errichten. Saks ist ein erfahrener Landarbeiter, er weiß genau, wonach er sucht, und bald wird er fündig. Er geht auf sein Ziel zu, und Schimke, der sich völlig auf seinen Partner verlässt, "denkt bei sich: Saks hat jetzt genau so ein Gefühl wie er - als betrete man etwas Heiliges. Man möchte am liebsten die Stiefel von sich werfen, damit die Schritte nicht so schwer sind." Als Moses am brennenden Dornbusch zum ersten Mal Gott begegnet, gebietet ihm der Herr, seine Schuhe auszuziehen, da er heiligen Boden betritt (Exodus 3,5). So empfindet es jetzt auch Schimke: Die Taiga wird für ihn zum Heiligtum, und instinktiv will er seine Stiefel abstreifen. Bergelson stellt die hohlen Botschaften der Sowjetunion in biblischer Symbolik dar, und eine doppelt traurige Ironie liegt über dieser Szene.
Bergelson stilisiert die Taiga zum Land der Verheißung, und zur gleichen Zeit errichten zionistische Pioniere in Palästina ihre Kibbuzim. Sie bestehen auch heute noch, während die Kolchosen längst untergegangen sind. Eine zionistische Option hatte Bergelson nie erwogen, und schon bald (1937, drei Jahre nach seiner Rückkehr) zwang Stalin die jiddischen Autoren, in ihren Texten keine hebräischen Wörter mehr zu verwenden. Damit beraubte er ihre Sprache aller Tiefe, denn ohne hebräische Elemente verliert das Jiddische den Bezug zu heiligen Traditionen.
Im Zweiten Weltkrieg werden die Verbrechen der Nazis an den Juden bekannt, und Bergelson fühlt sich zur Zeugenschaft verpflichtet. In einer Reihe von Erzählungen bekennt er sich offen und in hebräischen Formulierungen zum Leid seines jüdischen Volkes. Als Hitler im Sommer 1941 die Sowjetunion überfällt, kommt es noch einmal zur Illusion eines gemeinsamen Kampfes gegen den Feind, an dem auch die sowjetischen Juden teilnehmen. Das Jüdische Antifaschistische Komitee entsteht und bildet eine wichtige Verbindung zu Stalins westlichen Alliierten.
Nach dem Sieg über das Dritte Reich aber gehört das bald der Vergangenheit an. Im Kalten Krieg mutieren die früheren Verbündeten zu Feinden; das Komitee wird aufgelöst, seine ehemaligen Mitglieder, die Stalin wegen ihrer Westkontakte gebraucht hatte, stehen fortan unter dem Verdacht falscher Loyalitäten. Viele der in der Nacht des 12. August 1952 ermordeten Dichter gehörten einst diesem Komitee an, unter ihnen auch Dovid Bergelson.
Menschlichem Empfinden bleiben diese Morde unverständlich, aber nach anderen Beispielen muss man nicht lange suchen. Heute bringen Wladimir Putin oder die Hamas unschuldige Menschen im Nachbarland um und schicken die eigenen Soldaten in einen sinnlosen Tod. Stalins Terror hatte vielleicht andere Ausmaße; das Prinzip bleibt sich gleich. JAKOB HESSING
Dovid Bergelson:
"Die Welt möge Zeuge sein". Erzählungen.
Hrsg. von Sabine Koller und Alexandra Polyan.
Aus dem Jiddischen von Peter Comans u. a.
Jüdischer Verlag, Berlin 2023. 458 S., geb., 29,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»... der große Ruhm, den Bergelson einst genossen hat, ist völlig berechtigt.« Jakob Hessing Frankfurter Allgemeine Zeitung 20231016