Die Dekolonisierung hat die internationale Ordnung im 20. Jahrhundert revolutioniert. Doch die Standardnarrative, die das Ende des Kolonialismus als unvermeidlichen Übergang von einer Welt der Imperien zu einer der Nationalstaaten darstellen, verdecken, wie radikal dieser Wandel war. Anhand des politischen Denkens antikolonialer Intellektueller und Staatsmänner wie Nnamdi Azikiwe, W. E. B. Du Bois, George Padmore, Kwame Nkrumah, Eric Williams, Michael Manley und Julius Nyerere zeigt Adom Getachew in ihrem gefeierten Buch, wie enorm die Sprengkraft der dekolonialen Bewegung war, deren Ehrgeiz weit über die Neugestaltung einzelner Länder hinausging.
Vehement stellten die von Rassismuserfahrungen geprägten Protagonisten des »Black Atlantic« die internationale Hierarchie in Frage - mit dem Ziel, eine egalitäre postimperiale Welt zu schaffen. Politische und wirtschaftliche Herrschaftsverhältnisse wollten sie überwinden, ihr Recht auf Selbstbestimmung innerhalb der neu gegründeten Vereinten Nationen sicherstellen, Föderationen in Afrika und der Karibik gründen und eine Neue Weltwirtschaftsordnung entwickeln. Gestützt auf zahlreiche Archivquellen, präsentiert Getachew die fesselnde Geschichte der dekolonialen Bewegung inklusive ihres Scheiterns - und eröffnet eine faszinierende Perspektive auf die Debatten über die heutige Weltordnung.
Vehement stellten die von Rassismuserfahrungen geprägten Protagonisten des »Black Atlantic« die internationale Hierarchie in Frage - mit dem Ziel, eine egalitäre postimperiale Welt zu schaffen. Politische und wirtschaftliche Herrschaftsverhältnisse wollten sie überwinden, ihr Recht auf Selbstbestimmung innerhalb der neu gegründeten Vereinten Nationen sicherstellen, Föderationen in Afrika und der Karibik gründen und eine Neue Weltwirtschaftsordnung entwickeln. Gestützt auf zahlreiche Archivquellen, präsentiert Getachew die fesselnde Geschichte der dekolonialen Bewegung inklusive ihres Scheiterns - und eröffnet eine faszinierende Perspektive auf die Debatten über die heutige Weltordnung.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Monika Reme liest das Buch der Politikwissenschaftlerin Adom Getachew mit Gewinn. Ton und Dramaturgie der Arbeit stimmen, und was Getachew über antikoloniale Strategien afrikanischer, afroamerikanischer und karibischer Denker und Politiker wie Michael Manley oder Julius Nyerere zu sagen hat, rettet laut Reme manche visionäre Idee vor dem Vergessen und schafft neue Sichtweisen auf den Antikolonialismus. Getachews These von einem Antikolonialismus Mitte des 20. Jahrhunderts, der viel mehr wollte als postkoloniale Nationalstaaten, nämlich eine neue, egalitäre Weltwirtschaftsordnung, findet Reme höchst inspirierend, zumal sie auch die inneren Widersprüche und Schwächen solcher Konzepte thematisiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2023Ein postkolonialer Blick auf die Welt
Hoffnungen und Grenzen bei der Suche nach einer gerechte(re)n Welt
In ihrem viel beachteten Werk "Die Welt nach den Imperien - Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung" eröffnet Adom Getachew einen neuen Blick auf antikoloniale Strategien afrikanischer, karibischer und afroamerikanischer Vordenker. Fast genüsslich widerlegt die Politikprofessorin dabei vermeintliche Gewissheiten. Durch die erhellende Neuerzählung der anti- und postkolonialen Politik und ihrer Führungsfiguren kommt diesen der Platz in der Weltgeschichte zu, der ihnen gebührt. Ihre Widersprüche verschleiert die Autorin dabei nicht, sondern öffnet Raum für Komplexität.
Zentrale These der Wissenschaftlerin ist, dass antikoloniale Strategen in der Mitte des 20. Jahrhunderts "Befreiung" sehr viel größer dachten als die politische Unabhängigkeit der Nationalstaaten. Über den postkolonialen Nationalstaat hinaus zielten sie auf die Errichtung einer "herrschaftsfreien und egalitären internationalen Ordnung" ab und damit auf "Weltgestaltung". Echte Selbstbestimmung konnte es für die antikolonialen Vordenker, die Getachew porträtiert, nur mit internationalen Institutionen geben, die sowohl rechtliche und politische als auch ökonomische Nichtbeherrschung garantieren würden.
Diese Gewissheit speisten die antikolonialen Denker einerseits aus einer marxistisch inspirierten politisch-ökonomischen Analyse, andererseits aus den Erfahrungen mit dem Ende der Sklaverei und dem Völkerbund. So argumentiert Getachew, dass die Mitgliedschaft der ersten afrikanischen Staaten im Völkerbund nicht die Universalität des Völkerrechts bestätigte. Vielmehr wurden die afrikanischen Staaten Liberia und Äthiopien in diesen Staatenbund mit weniger Rechten und mehr Pflichten integriert und auf diese Weise die "rassifizierte Hierarchie" des Imperialismus fortgeführt.
Für die antikoloniale Befreiung war die Resolution 1514 der UN-Vollversammlung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker deshalb nur ein Teilerfolg, wenngleich ein wichtiger. Die Politikwissenschaftlerin interpretiert den Weg zum Recht auf Selbstbestimmung nicht als Verwirklichung eines in der UN-Charta angelegten Prinzips. Vielmehr zeigt sie auf, wie antikoloniale Denker und Politiker das Ideal einer universellen Gleichheit von Staaten auf die internationale Tagesordnung brachten. Ihre Forderung nach Freiheit von Fremdherrschaft betteten sie in den Anti-Sklaverei- und den Menschenrechts-Diskurs, indem sie das Imperium als Form der Versklavung entlarvten. Geschickt nutzten die ersten postkolonialen Staaten dann die Vollversammlung der Vereinten Nationen, um dieses Recht gegen die westlichen Großmächte durchzusetzen. Diese konnten sich bei der einstimmig angenommenen Resolution 1514 im Jahr 1960 nur noch enthalten.
Gleichzeitig suchten postkoloniale Führer nach Lösungen, um die wirtschaftliche Abhängigkeit und die darüber andauernde politische Einflussnahme zu beenden, die der ghanaische Staatsgründer Kwame Nkrumah bald als Neokolonialismus bezeichnete. Er oder auch der erste Premierminister von Trinidad und Tobago, Eric Williams, fanden eine Antwort in der Idee der regionalen Föderation, die unter anderem einen größeren Binnenmarkt und mehr Verhandlungsmacht ermöglichen sollte. Detailreich beschreibt Getachew Experimente des Föderalismus in Afrika und der Karibik sowie deren Schwachstellen und das Scheitern eines panafrikanischen Projekts.
Den Höhepunkt dessen, was sie als postkoloniale Weltgestaltung fasst, sieht Getachew dann im Projekt der Neuen Weltwirtschaftsordnung. Aus der Analogie des Wohlfahrtsstaates abgeleitet, forderten postkoloniale Staatsführer, wie Julius Nyerere aus Tansania oder Michael Manley aus Jamaika, internationale Umverteilung und die Überwindung der Ungleichheit in den Handelsbeziehungen ein. Konkret sah die Neue Weltwirtschaftsordnung beispielsweise eine "koordinierte Liberalisierung" zum Vorteil der Entwicklungsländer, Ausgleichszahlungen bei Rohstoffpreisschocks oder auch einen Fonds zur Diversifizierung der Volkswirtschaften vor. Diese Forderungen wurden im Rahmen der vom argentinischen Ökonomen Raúl Prebisch geleiteten UN-Welthandelskonferenz stark gemacht und 1974 von der Mehrheit der Staaten in der Vollversammlung als Erklärung zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verabschiedet.
Getachew geht auf die inneren Widersprüche und Schwachstellen des Konzepts intensiv ein, deutet aber den Niedergang der Neuen Weltwirtschaftsordnung als eine konzertierte "Verdrängung" der Ersten Welt. So ging die Unterwerfung der postkolonialen Staaten unter die Strukturanpassungsprogramme der Bretton-Woods-Institutionen ab den 1970er-Jahren für Getachew mit dem Niedergang der Selbstbestimmung Hand in Hand. Gleichzeitig fand eine Verlagerung der ökonomischen Debatten aus der UN-Vollversammlung in andere Foren statt, in denen die Dritte Welt nicht die Mehrheit stellte. Im Epilog streift Getachew, wie die Neue Weltwirtschaftsordnung trotz ihres Scheiterns das politische Denken über eine gerechte Globalisierung noch heute prägt.
Neben überraschenden Perspektiven auf verschiedene antikoloniale Episoden liegt die Relevanz ihrer Arbeit auch darin, diese visionären Ideen vor dem Vergessen zu bewahren. Das faszinierende Werk ist ab der ersten Seite fesselnd geschrieben und auch in der deutschen Übersetzung angenehm zu lesen. In den Fußnoten Zitate aus Primärquellen nachzulesen oder weiterführenden Erklärungen der Autorin zu folgen erhöht die Lesefreude noch. Fast nebenbei gibt Getachew zudem einen Grundkurs in Schwarzer Ideengeschichte und führt in postkoloniale ökonomische Theorien ein.
"Die Welt nach den Imperien" ist eine echte intellektuelle Bereicherung. In einer Zeit, in der sich sowohl das deutsche Entwicklungsministerium als auch das Auswärtige Amt öffentlich mit der Postkolonialität auseinandersetzen, führt an diesem Buch kein Weg vorbei. Die renommierten Preise, die Getachew dafür erhalten hat, sprechen für sich. Es bleibt zu hoffen, dass die Autorin noch weitere horizonterweiternde Einordnungen der Geschichte des postkolonialen Afrikas vorlegen wird. MONIKA REMÉ
Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung.
Suhrkamp-Verlag, Berlin, 2022. 448 S., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hoffnungen und Grenzen bei der Suche nach einer gerechte(re)n Welt
In ihrem viel beachteten Werk "Die Welt nach den Imperien - Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung" eröffnet Adom Getachew einen neuen Blick auf antikoloniale Strategien afrikanischer, karibischer und afroamerikanischer Vordenker. Fast genüsslich widerlegt die Politikprofessorin dabei vermeintliche Gewissheiten. Durch die erhellende Neuerzählung der anti- und postkolonialen Politik und ihrer Führungsfiguren kommt diesen der Platz in der Weltgeschichte zu, der ihnen gebührt. Ihre Widersprüche verschleiert die Autorin dabei nicht, sondern öffnet Raum für Komplexität.
Zentrale These der Wissenschaftlerin ist, dass antikoloniale Strategen in der Mitte des 20. Jahrhunderts "Befreiung" sehr viel größer dachten als die politische Unabhängigkeit der Nationalstaaten. Über den postkolonialen Nationalstaat hinaus zielten sie auf die Errichtung einer "herrschaftsfreien und egalitären internationalen Ordnung" ab und damit auf "Weltgestaltung". Echte Selbstbestimmung konnte es für die antikolonialen Vordenker, die Getachew porträtiert, nur mit internationalen Institutionen geben, die sowohl rechtliche und politische als auch ökonomische Nichtbeherrschung garantieren würden.
Diese Gewissheit speisten die antikolonialen Denker einerseits aus einer marxistisch inspirierten politisch-ökonomischen Analyse, andererseits aus den Erfahrungen mit dem Ende der Sklaverei und dem Völkerbund. So argumentiert Getachew, dass die Mitgliedschaft der ersten afrikanischen Staaten im Völkerbund nicht die Universalität des Völkerrechts bestätigte. Vielmehr wurden die afrikanischen Staaten Liberia und Äthiopien in diesen Staatenbund mit weniger Rechten und mehr Pflichten integriert und auf diese Weise die "rassifizierte Hierarchie" des Imperialismus fortgeführt.
Für die antikoloniale Befreiung war die Resolution 1514 der UN-Vollversammlung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker deshalb nur ein Teilerfolg, wenngleich ein wichtiger. Die Politikwissenschaftlerin interpretiert den Weg zum Recht auf Selbstbestimmung nicht als Verwirklichung eines in der UN-Charta angelegten Prinzips. Vielmehr zeigt sie auf, wie antikoloniale Denker und Politiker das Ideal einer universellen Gleichheit von Staaten auf die internationale Tagesordnung brachten. Ihre Forderung nach Freiheit von Fremdherrschaft betteten sie in den Anti-Sklaverei- und den Menschenrechts-Diskurs, indem sie das Imperium als Form der Versklavung entlarvten. Geschickt nutzten die ersten postkolonialen Staaten dann die Vollversammlung der Vereinten Nationen, um dieses Recht gegen die westlichen Großmächte durchzusetzen. Diese konnten sich bei der einstimmig angenommenen Resolution 1514 im Jahr 1960 nur noch enthalten.
Gleichzeitig suchten postkoloniale Führer nach Lösungen, um die wirtschaftliche Abhängigkeit und die darüber andauernde politische Einflussnahme zu beenden, die der ghanaische Staatsgründer Kwame Nkrumah bald als Neokolonialismus bezeichnete. Er oder auch der erste Premierminister von Trinidad und Tobago, Eric Williams, fanden eine Antwort in der Idee der regionalen Föderation, die unter anderem einen größeren Binnenmarkt und mehr Verhandlungsmacht ermöglichen sollte. Detailreich beschreibt Getachew Experimente des Föderalismus in Afrika und der Karibik sowie deren Schwachstellen und das Scheitern eines panafrikanischen Projekts.
Den Höhepunkt dessen, was sie als postkoloniale Weltgestaltung fasst, sieht Getachew dann im Projekt der Neuen Weltwirtschaftsordnung. Aus der Analogie des Wohlfahrtsstaates abgeleitet, forderten postkoloniale Staatsführer, wie Julius Nyerere aus Tansania oder Michael Manley aus Jamaika, internationale Umverteilung und die Überwindung der Ungleichheit in den Handelsbeziehungen ein. Konkret sah die Neue Weltwirtschaftsordnung beispielsweise eine "koordinierte Liberalisierung" zum Vorteil der Entwicklungsländer, Ausgleichszahlungen bei Rohstoffpreisschocks oder auch einen Fonds zur Diversifizierung der Volkswirtschaften vor. Diese Forderungen wurden im Rahmen der vom argentinischen Ökonomen Raúl Prebisch geleiteten UN-Welthandelskonferenz stark gemacht und 1974 von der Mehrheit der Staaten in der Vollversammlung als Erklärung zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verabschiedet.
Getachew geht auf die inneren Widersprüche und Schwachstellen des Konzepts intensiv ein, deutet aber den Niedergang der Neuen Weltwirtschaftsordnung als eine konzertierte "Verdrängung" der Ersten Welt. So ging die Unterwerfung der postkolonialen Staaten unter die Strukturanpassungsprogramme der Bretton-Woods-Institutionen ab den 1970er-Jahren für Getachew mit dem Niedergang der Selbstbestimmung Hand in Hand. Gleichzeitig fand eine Verlagerung der ökonomischen Debatten aus der UN-Vollversammlung in andere Foren statt, in denen die Dritte Welt nicht die Mehrheit stellte. Im Epilog streift Getachew, wie die Neue Weltwirtschaftsordnung trotz ihres Scheiterns das politische Denken über eine gerechte Globalisierung noch heute prägt.
Neben überraschenden Perspektiven auf verschiedene antikoloniale Episoden liegt die Relevanz ihrer Arbeit auch darin, diese visionären Ideen vor dem Vergessen zu bewahren. Das faszinierende Werk ist ab der ersten Seite fesselnd geschrieben und auch in der deutschen Übersetzung angenehm zu lesen. In den Fußnoten Zitate aus Primärquellen nachzulesen oder weiterführenden Erklärungen der Autorin zu folgen erhöht die Lesefreude noch. Fast nebenbei gibt Getachew zudem einen Grundkurs in Schwarzer Ideengeschichte und führt in postkoloniale ökonomische Theorien ein.
"Die Welt nach den Imperien" ist eine echte intellektuelle Bereicherung. In einer Zeit, in der sich sowohl das deutsche Entwicklungsministerium als auch das Auswärtige Amt öffentlich mit der Postkolonialität auseinandersetzen, führt an diesem Buch kein Weg vorbei. Die renommierten Preise, die Getachew dafür erhalten hat, sprechen für sich. Es bleibt zu hoffen, dass die Autorin noch weitere horizonterweiternde Einordnungen der Geschichte des postkolonialen Afrikas vorlegen wird. MONIKA REMÉ
Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung.
Suhrkamp-Verlag, Berlin, 2022. 448 S., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Welt nach den Imperien ist eine echte intellektuelle Bereicherung ... an diesem Buch [führt] kein Weg vorbei.« Monika Remé Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230301
»Die Welt nach den Imperien ist eine echte intellektuelle Bereicherung ... an diesem Buch [führt] kein Weg vorbei.« Monika Remé Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230301