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Die Welt nach Wagner   (Mängelexemplar) - Ross, Alex
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Ein Standardwerk über den großen Komponisten - von einem der angesehensten Musikkritiker der USA. Beginnend mit dem Tod Wagners erzählt Alex Ross, was für uns zur Gegenwart geworden ist: Wir leben und sehen die Welt seit Wagner mit seinen Augen, seine Themen und Szenen prägen auch heute noch unser gesellschaftliches Bühnenbild. Wagner ist für Ross ein deutsches Drama, das sich aus der Wirklichkeit, aber auch aus dem Wahn speist. Sein Buch ist eine eindrucksvolle Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, durchzogen von dem Erbe Richard Wagners - der widersprüchlich war, ungreifbar, vielleicht…mehr

Produktbeschreibung
Ein Standardwerk über den großen Komponisten - von einem der angesehensten Musikkritiker der USA. Beginnend mit dem Tod Wagners erzählt Alex Ross, was für uns zur Gegenwart geworden ist: Wir leben und sehen die Welt seit Wagner mit seinen Augen, seine Themen und Szenen prägen auch heute noch unser gesellschaftliches Bühnenbild. Wagner ist für Ross ein deutsches Drama, das sich aus der Wirklichkeit, aber auch aus dem Wahn speist. Sein Buch ist eine eindrucksvolle Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, durchzogen von dem Erbe Richard Wagners - der widersprüchlich war, ungreifbar, vielleicht sogar unvollendet. Nur so ist auch seine Musik und sein Nachleben in Deutschland zu verstehen: Wir sind noch immer Wagner.

Autorenporträt
Alex Ross, geboren 1968, ist seit 1996 der Musikkritiker des New Yorker. Davor schrieb er vier Jahre lang für die New York Times. Ross wurde ein Arts and Letters Award der American Academy of Arts and Letters verliehen, der Belmont Prize, ein Guggenheim Fellowship und ein MacArthur Fellowship. Er war 2002 Fellow der American Academy in Berlin. Studium der Anglistik und Slawistik in München. Unterricht an der Ludwig-Maximilian- Universität in englischer Literaturwissenschaft, Organisation des Aufbaustudiengangs "Literarische Übersetzung aus dem Englischen". Studium der Anglistik, Germanistik und Musikwissenschaft in Tübingen, Zürich, London und München. Promotion zum Dr.phil. Lehre und Forschung in englischer Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft an den Universitäten München, London und Glasgow.
Rezensionen
Komponist
und Hetzer

Alex Ross’ eindrucksvolles Buch über
Richard Wagners Einfluss im 20. Jahrhundert

VON HELMUT MAURÓ

Was bleibt von Richard Wagner, wenn man mal nicht über seine Musik redet? Viel! Der Komponist hat die ganze Welt verrückt gemacht, weit über die Grenzen der musikalischen Zirkel und Operngänger hinaus. Er hat Malerei und Architektur beeinflusst, Literatur und Philosophie, Sexualität und Geschlechterrollen, Religion und Klassenkampf. Er stand 1849 in Dresden selbst auf den Barrikaden, erfand das Musiktheater neu, brüskierte sein soziales Umfeld, wo immer es Gelegenheit dazu gab, spannte seinem größten musikalischen Förderer Hans von Bülow die Frau aus und hetzte in seinem gleichnamigen Aufsatz „Gegen das Judenthum in der Musik“. Kurzum, ein musikalisches Genie, dem man auf einer Cocktail-Party wahrscheinlich aus dem Weg gehen würde.

Wahrscheinlich kann man sich ihm nur lauthals schimpfend nähern, mit einer nietzscheanischen Hassliebe, sich an die Stirn fassend, immer wieder staunend vor seiner Kunst, seiner Besessenheit im Guten wie im Bösen. Der Klassik-Kritiker des New Yorker, Alex Ross, hat sich in seinem neuen Buch „Die Welt nach Wagner“, wie Hunderte Musikologen, Psychologen, Philologen und Philosophen vor ihm, auf die Suche nach dem Musiker, dem Menschen und dem Monster Wagner gemacht. Der Musiker kommt diesmal zu kurz, stattdessen verschmelzen Künstler und Monster zu einem schier irrealen Phänomen globaler Wirkung, das Ross schlicht „Wagnerismus“ nennt.

Es ist ein sperriger, etwas konstruierter Begriff, weit aus dem Französischen der 1880er-Jahre hergeholt. Die Wagner-Begeisterung eines großen Teils der französischen Intellektuellen ließ auch nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg nicht nach. Man sah Wagner nicht als Deutschen, sondern als Europäer. Ross schreibt, Baudelaire „ignoriert, dass Wagner Deutscher ist, und kritisiert die Borniertheit, die viele Franzosen dazu verleitet hat, ein Werk von höchster Bedeutung abzulehnen“.

Es gab auch in Frankreich viele Wagner-Gegner, aber die beriefen sich auf kunstästhetische Kategorien, nicht auf nationalistische. Ihnen war Wagner zu modern, zu formlos, zu zukunftsverliebt. Also genau das, wofür die Symbolisten schwärmten. Mallarmé, Verlaine, Cézanne, Gaugin, van Gogh beriefen sich auf Wagner, die Zeitschrift „Revue wagnérienne“ versammelte einschlägige Interessenten, die Oper „Tristan und Isolde“ stürzte sie in einen mentalen Rausch.

Der Wagnerkult, le Wagnérisme, kannte kaum Grenzen, Wagner stand für alles, was Wunsch, Traum und Zukunft war, Wagner war la vie moderne. Baudelaires Begeisterung für Wagner ist legendär, das Vorspiel zum Lohengrin haut ihn um: „Ich fühlte mich befreit von den Banden der Schwere, und ich fand durch die Erinnerung das außerordentliche Wohlgefühl wieder, das an hohen Orten in der Luft liegt (…). Und dann malte ich mir unwillkürlich den wonnevollen Zustand eines Menschen aus, der in einer völligen Einsamkeit einer großen Träumerei anheimgegeben ist, jedoch in einer Einsamkeit mit unermesslichem Horizont und breit sich ergießendem Lichte (…). Ich hatte ganz die Vorstellung von einer Seele, die sich in einer lichthellen Umgebung bewegt, einer Extase, aus Wonne und Erkenntnis geboren und hoch und ferne schwebend – über der natürlichen Welt!“ Baudelaire war aber kein blinder Schwärmer. Er zieht Schlüsse aus eigenem und fremdem Erleben. Er war überzeugt, dass Wagners Musik, „die wahrhafte Musik verschiedenen Gehirnen analoge Ideen suggeriert“, dass sie die „unteilbare Totalität“ der göttlichen Schöpfung widerspiegelt.

Der Wagner-Diskurs beherrschte die Zeit. In Deutschland berichteten die Bayreuther Blätter über alles, was mit Wagner zu tun hatte, auch in Frankreich gab es ein eigenes Wagner-Magazin, ebenso in Italien und schließlich sogar in Großbritannien, wo man von Wagners Opern oft nur den Hochzeitsmarsch aus „Lohengrin“ kannte, diesen aber gleich als Standardmusik zur Eheschließung festlegte. Da waltete ein Pragmatismus wie im Opernhaus, wo man der Meinung war, Oper sei italienisch, weswegen alle Opern auf italienisch gesungen wurden. Auch die von Wagner.

Ross lässt all dies wieder aufleben, sei es im Bezug zur Wiener Secession, zu satanischer Literatur, zum viktorianischen England oder, natürlich, zu Hitler. Was allerdings neu ist: Dass der ganze Wagner-Wust in einem fast lässigen, journalistischen Ton – flüssig übersetzt von Gloria Buschor und Günter Kotzor – heruntererzählt wird, ganz in der angelsächsischen Sachbuchtradition. Was den Wagnerianer vielleicht abschrecken könnte: Es wird nicht über Musik geredet. Über Malerei, Schriftstellerei, Architektur, das schon, aber nicht über Musik. Vielleicht hätten für Wagners musikalische Wirkung auch 800 Seiten nicht ausgereicht, vielleicht wollte Ross nach seinem Bestseller „The Rest is Noise“ keinen Flop riskieren. Das Interesse an Wagner minus Musik scheint jedenfalls vor allem in den USA größer als die Diskussion über sperrige Harmonien und die Auflösung der traditionellen musikalischen Formensprache.

Vielleicht erklärt das auch den stellenweise problematischen Umgang mit gängigen Begriffen, etwa dem im Zusammenhang mit Wagner seit 1851 etablierten Begriff „Zukunftsmusik“. Er wird immer mit „Musik der Zukunft“ übersetzt, womit seinerzeit aber Werke von Chopin, Liszt und Berlioz bezeichnet wurden. Brisanter ist die Verwendung von Nietzsches „Übermenschen“, den Ross in den Dunstkreis der Nazi-Ideologie rückt, als sei er der Zwillingsbruder des „Untermenschen“. Auch der ganze Wagnerismus, der nach und nach pathologische Züge annimmt, gerinnt im Laufe des Textes unversehens zur Nazi-Ideologie. „Die Version der Nationalsozialisten ist die bekannteste Ausprägung des Wagnerismus“, schreibt Ross.

Für den anvisierten ideologischen Kurzschluss schiebt er den Philosophen Alain Badiou mit der Behauptung vor: „Der Begriff ‚protofaschistisch‘ wurde praktisch für Wagner geprägt.“ Und Ross ergänzt: „Dieser Zusammenhang ist kein Zufall.“ Und wenige Sätze später: „Trotz ihrer inneren Widersprüche war die Weltanschauung des Komponisten die Keimzelle der NS-Ideologie.“ Wagners Aufsatz über „Das Judenthum in der Musik“ ist aber noch keine Weltanschauung, selbst wenn man die von Cosima Wagner kolportierten Aussagen ergänzt. Wagner ist auch nicht die Keimzelle des Antisemitismus, geschweige denn der NS-Ideologie, die sich im Übrigen nicht in Antisemitismus erschöpfte.

Immerhin schreibt Ross auch: „Die abscheulichsten Äußerungen des Komponisten verblassen neben der verbalen Gewalt, die Martin Luther entfesselt“ mit seinem Aufruf, Synagogen niederzubrennen. Dennoch erscheint Wagner als singulärer Wüterich und sein Antisemitismus als individuelle Erscheinung.

Man kann schlechterdings auch nicht, wie dies Ross leider tut, den amerikanischen Rassismus zur Zeit der Sklavenhaltung mit dem deutschen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts gleichsetzen, der nicht mit Sklaverei, sondern – im Gegenteil – mit der allmählichen Gleichstellung der Juden in Deutschland einhergeht. Wagners Rassismus und Antisemitismus werden nicht kontextualisiert, sondern erscheinen vielmehr als Ausdruck einer individuellen Entgrenzung, radikal wie seine übrigen Ansichten und Interessen, einschließlich aller möglichen Widersprüche. Gerade die scheinen den Komponisten anzuregen, sind Quelle seines künstlerischen Tuns und Denkens. So ist er von jüdischer Kultur fasziniert, studiert jüdischen Mystizismus, sucht Parallelen im Christentum und arbeitet in sein „Bühnenweihfestspiel“ „Parsifal“ kabbalistische Riten ein. Den Kindern liest er Lessings „Nathan der Weise“ vor und kann sich angesichts des Theaterbrandes in Wien mit 400 jüdischen Toten den „heftigen Scherz“ nicht verkneifen, alle Juden sollten bei einer Aufführung des „Nathan“ verbrennen. Infam und rassistisch. Außerdem sind für Wagner Juden „das Symptom einer weitverbreiteten Seuche“, und die ist der „die Unschuld würgende Dämon“ des Goldes.

Dann wieder geht es um Rassetheorien, etwa die weit verbreitete von Arthur de Gobineaus, dass alle Menschenrassen aus eigenen Ursprüngen entstanden sind, wobei die weiße Rasse die erhabenste sei. Das freute weiße Rassisten in den USA, wo Gobineaus Schriften schon 1865 in Übersetzungen zu lesen waren. Wagner bezweifelt, dass die Rasse-Hierarchie unabänderlich sei, er glaubt an die reinigende Kraft des Blutes Christi. Das „dürfte den niedrigsten Racen zu göttlichster Reinigung gedeihen“. Christus selbst gehört dabei keiner Rasse an.

Zutreffend schreibt Ross, dass es in Wagners Opern keine Juden gebe. Keinen Fagin wie in „Oliver Twist“, keinen Svengali wie in George de Mauriers „Trilby“ und keinen hakennasigen Börsenmakler wie in Degas’ „Portraits à la Bourse“. Doch spätestens seit Adornos „Fragmente über Wagner“ von 1939 wird man in Mime und Alberich antisemitische „Judenkarikaturen“ sehen, ebenso in Beckmesser aus den „Meistersingern“. Auch die „Nibelungen“-Zwerge werden oft in diesem Zusammenhang genannt, nicht zu vergessen die düstere Verführerin Kundry im „Parsifal“.

Es gibt da vieles in vielem zu sehen, Ross löst das Dilemma so auf: „Es gibt nicht nur hell und dunkel, gut oder böse, oben oder unten.“ Letztlich gehe es um die Frage, ob man als Verehrer der Musik und Musikdramen Wagners auch dessen ideologischen Ballast auf sich nehme. Ross sagt ja, aber es gebe einen Ausweg. Er beruft sich dafür auf den schwarzen Vorkämpfer und Wagnerianer Du Bois sowie auf Shakespeare und verweist auf die Bedeutung der Einbildungskraft im Theater, die es ermögliche, ein „doppeltes Bewusstsein“ zu entwickeln.

Wichtig wäre auch die Rolle des Redakteurs der Neuen Zeitschrift für Musik, der Wagners Aufsatz ins Blatt hob, der gedruckte Rede und Gegenrede moderierte, zur Veröffentlichung die Fußnote anbrachte: „Mag man die darin ausgesprochenen Ansichten theilen, oder nicht, Genialität der Anschauung wird man dem Verf. nicht abstreiten können.“ Genialität bedeutete damals eher Originalität, dennoch, das ganze Hin und Her, angefangen von der Kritik Theodor Uhligs, die Aufgeregtheit über Meyerbeers „Le Prophète“, die Verquickung von Nationalbestreben und Antisemitismus, endlich die Selbst-Ermutigung Wagners, seinen zunächst noch unter Pseudonym veröffentlichten Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ stolz mit Klarnamen im Sonderdruck herauszugeben – dieses ganze nationalistische Wabern und antisemitische Weben wäre wichtig zum Verständnis von Wagners Aufsatz, der so gerne ein Manifest wäre und doch nur ein großmäuliges Pamphlet geworden ist.

Auch hier darf man nicht die Größe des Komponisten Wagner für den Politiker Wagner zum Maßstab nehmen. Der Aufsatz taugt jedenfalls nicht dazu, den ganzen europäischen Antisemitismus seit dem Mittelalter und den Antisemitismus der Nationalsozialisten zu erklären. Es gibt starke Verbindungen, keine Frage, aber – trotz großer philologischer und philosophischer Anstrengungen in diese Richtung – den direkten Weg von Wagner nach Ausschwitz gibt es nicht. Dies nicht deutlich zu machen, sondern vielsagend im Dunkeln zu lassen, kann man dem sonst so klarsichtigen und fleißigen Autor vorwerfen.

Man erfährt im Buch allerdings auch, dass Wagner kein Spalter ist. Es gibt nicht nur fanatische Anhänger und glühende Verächter, wie es oft und gerne behauptet wurde, um dem Werk etwas Sektenhaftes einzuschreiben. Es gab natürlich die barfuß nach Bayreuth pilgernden Sektierer, aber das waren weniger Anhänger als Stalker. Musik ist nicht ideologisch, Theaterformen auch nicht. Und was der Mensch und Künstler darüber hinaus denkt, sagt und schreibt, gehört zum Menschen und vielleicht zum Künstler, aber nicht zum Werk. Das alles wurde in den vergangenen Jahrzehnten gerne zusammengerührt, um bestimmter Effekte willen. Es muss wieder getrennt werden, was im Buch nicht durchgehend gelingt. Dennoch ist es ein höchst lesenswerter Aufriss der Wagnerschen Wirkungsgeschichte.

Letztlich geht es um die Frage,
ob man als Verehrer der
Musik Wagners auch
dessen antisemitischen Ballast
auf sich nimmt

Der Musikkritiker Alex Ross.
Foto: David Michalek

Unteilbare Totalität: Eine Büste des Komponisten im Richard-Wagner-Museum in Bayreuth.

Foto: REUTERS

Alex Ross:
Die Welt nach Wagner.
Rowohlt-Verlag,
Hamburg 2020.
907 Seiten, 40 Euro.


DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Christian Wildhagen nimmt sich eine ganze Seite, um Alex Ross' monumentales Wagner-Buch zu würdigen. Auf tausend Seiten rekonstruiert der Musikkritiker des New Yorkers darin die Wagner-Rezeption und natürlich auch die Debatte um die alte Frage, wie viel Hitler in Wagner steckt. Wildhagen hat jede einzelne Seite davon genossen, wie er versichert. Ross spreche vom "backshadowing", also von der nachträglichen Projektion, ohne die tatsächlichen Schattenseiten des Komponisten kleinzureden, betont Wildhagen. Natürlich zeige Ross in seiner Beschäftigung mit Wagner auch etwas Obsessives, räumt der Kritiker ein, aber wie Ross die "Verzauberung durch Wagner" durch die Jahrhunderte spürbar macht, dabei immer auch den Theoretiker und antisemitischen Eiferer mitbedenkt, das versetzt Wildhagen nach eigenen Worten in einen ähnlichen Rauschzustand wie eine gute Tristan-Inszenierung.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.01.2021

Komponist
und Hetzer
Alex Ross’ eindrucksvolles Buch über
Richard Wagners Einfluss im 20. Jahrhundert
VON HELMUT MAURÓ
Was bleibt von Richard Wagner, wenn man mal nicht über seine Musik redet? Viel! Der Komponist hat die ganze Welt verrückt gemacht, weit über die Grenzen der musikalischen Zirkel und Operngänger hinaus. Er hat Malerei und Architektur beeinflusst, Literatur und Philosophie, Sexualität und Geschlechterrollen, Religion und Klassenkampf. Er stand 1849 in Dresden selbst auf den Barrikaden, erfand das Musiktheater neu, brüskierte sein soziales Umfeld, wo immer es Gelegenheit dazu gab, spannte seinem größten musikalischen Förderer Hans von Bülow die Frau aus und hetzte in seinem gleichnamigen Aufsatz „Gegen das Judenthum in der Musik“. Kurzum, ein musikalisches Genie, dem man auf einer Cocktail-Party wahrscheinlich aus dem Weg gehen würde.
Wahrscheinlich kann man sich ihm nur lauthals schimpfend nähern, mit einer nietzscheanischen Hassliebe, sich an die Stirn fassend, immer wieder staunend vor seiner Kunst, seiner Besessenheit im Guten wie im Bösen. Der Klassik-Kritiker des New Yorker, Alex Ross, hat sich in seinem neuen Buch „Die Welt nach Wagner“, wie Hunderte Musikologen, Psychologen, Philologen und Philosophen vor ihm, auf die Suche nach dem Musiker, dem Menschen und dem Monster Wagner gemacht. Der Musiker kommt diesmal zu kurz, stattdessen verschmelzen Künstler und Monster zu einem schier irrealen Phänomen globaler Wirkung, das Ross schlicht „Wagnerismus“ nennt.
Es ist ein sperriger, etwas konstruierter Begriff, weit aus dem Französischen der 1880er-Jahre hergeholt. Die Wagner-Begeisterung eines großen Teils der französischen Intellektuellen ließ auch nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg nicht nach. Man sah Wagner nicht als Deutschen, sondern als Europäer. Ross schreibt, Baudelaire „ignoriert, dass Wagner Deutscher ist, und kritisiert die Borniertheit, die viele Franzosen dazu verleitet hat, ein Werk von höchster Bedeutung abzulehnen“.
Es gab auch in Frankreich viele Wagner-Gegner, aber die beriefen sich auf kunstästhetische Kategorien, nicht auf nationalistische. Ihnen war Wagner zu modern, zu formlos, zu zukunftsverliebt. Also genau das, wofür die Symbolisten schwärmten. Mallarmé, Verlaine, Cézanne, Gaugin, van Gogh beriefen sich auf Wagner, die Zeitschrift „Revue wagnérienne“ versammelte einschlägige Interessenten, die Oper „Tristan und Isolde“ stürzte sie in einen mentalen Rausch.
Der Wagnerkult, le Wagnérisme, kannte kaum Grenzen, Wagner stand für alles, was Wunsch, Traum und Zukunft war, Wagner war la vie moderne. Baudelaires Begeisterung für Wagner ist legendär, das Vorspiel zum Lohengrin haut ihn um: „Ich fühlte mich befreit von den Banden der Schwere, und ich fand durch die Erinnerung das außerordentliche Wohlgefühl wieder, das an hohen Orten in der Luft liegt (…). Und dann malte ich mir unwillkürlich den wonnevollen Zustand eines Menschen aus, der in einer völligen Einsamkeit einer großen Träumerei anheimgegeben ist, jedoch in einer Einsamkeit mit unermesslichem Horizont und breit sich ergießendem Lichte (…). Ich hatte ganz die Vorstellung von einer Seele, die sich in einer lichthellen Umgebung bewegt, einer Extase, aus Wonne und Erkenntnis geboren und hoch und ferne schwebend – über der natürlichen Welt!“ Baudelaire war aber kein blinder Schwärmer. Er zieht Schlüsse aus eigenem und fremdem Erleben. Er war überzeugt, dass Wagners Musik, „die wahrhafte Musik verschiedenen Gehirnen analoge Ideen suggeriert“, dass sie die „unteilbare Totalität“ der göttlichen Schöpfung widerspiegelt.
Der Wagner-Diskurs beherrschte die Zeit. In Deutschland berichteten die Bayreuther Blätter über alles, was mit Wagner zu tun hatte, auch in Frankreich gab es ein eigenes Wagner-Magazin, ebenso in Italien und schließlich sogar in Großbritannien, wo man von Wagners Opern oft nur den Hochzeitsmarsch aus „Lohengrin“ kannte, diesen aber gleich als Standardmusik zur Eheschließung festlegte. Da waltete ein Pragmatismus wie im Opernhaus, wo man der Meinung war, Oper sei italienisch, weswegen alle Opern auf italienisch gesungen wurden. Auch die von Wagner.
Ross lässt all dies wieder aufleben, sei es im Bezug zur Wiener Secession, zu satanischer Literatur, zum viktorianischen England oder, natürlich, zu Hitler. Was allerdings neu ist: Dass der ganze Wagner-Wust in einem fast lässigen, journalistischen Ton – flüssig übersetzt von Gloria Buschor und Günter Kotzor – heruntererzählt wird, ganz in der angelsächsischen Sachbuchtradition. Was den Wagnerianer vielleicht abschrecken könnte: Es wird nicht über Musik geredet. Über Malerei, Schriftstellerei, Architektur, das schon, aber nicht über Musik. Vielleicht hätten für Wagners musikalische Wirkung auch 800 Seiten nicht ausgereicht, vielleicht wollte Ross nach seinem Bestseller „The Rest is Noise“ keinen Flop riskieren. Das Interesse an Wagner minus Musik scheint jedenfalls vor allem in den USA größer als die Diskussion über sperrige Harmonien und die Auflösung der traditionellen musikalischen Formensprache.
Vielleicht erklärt das auch den stellenweise problematischen Umgang mit gängigen Begriffen, etwa dem im Zusammenhang mit Wagner seit 1851 etablierten Begriff „Zukunftsmusik“. Er wird immer mit „Musik der Zukunft“ übersetzt, womit seinerzeit aber Werke von Chopin, Liszt und Berlioz bezeichnet wurden. Brisanter ist die Verwendung von Nietzsches „Übermenschen“, den Ross in den Dunstkreis der Nazi-Ideologie rückt, als sei er der Zwillingsbruder des „Untermenschen“. Auch der ganze Wagnerismus, der nach und nach pathologische Züge annimmt, gerinnt im Laufe des Textes unversehens zur Nazi-Ideologie. „Die Version der Nationalsozialisten ist die bekannteste Ausprägung des Wagnerismus“, schreibt Ross.
Für den anvisierten ideologischen Kurzschluss schiebt er den Philosophen Alain Badiou mit der Behauptung vor: „Der Begriff ‚protofaschistisch‘ wurde praktisch für Wagner geprägt.“ Und Ross ergänzt: „Dieser Zusammenhang ist kein Zufall.“ Und wenige Sätze später: „Trotz ihrer inneren Widersprüche war die Weltanschauung des Komponisten die Keimzelle der NS-Ideologie.“ Wagners Aufsatz über „Das Judenthum in der Musik“ ist aber noch keine Weltanschauung, selbst wenn man die von Cosima Wagner kolportierten Aussagen ergänzt. Wagner ist auch nicht die Keimzelle des Antisemitismus, geschweige denn der NS-Ideologie, die sich im Übrigen nicht in Antisemitismus erschöpfte.
Immerhin schreibt Ross auch: „Die abscheulichsten Äußerungen des Komponisten verblassen neben der verbalen Gewalt, die Martin Luther entfesselt“ mit seinem Aufruf, Synagogen niederzubrennen. Dennoch erscheint Wagner als singulärer Wüterich und sein Antisemitismus als individuelle Erscheinung.
Man kann schlechterdings auch nicht, wie dies Ross leider tut, den amerikanischen Rassismus zur Zeit der Sklavenhaltung mit dem deutschen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts gleichsetzen, der nicht mit Sklaverei, sondern – im Gegenteil – mit der allmählichen Gleichstellung der Juden in Deutschland einhergeht. Wagners Rassismus und Antisemitismus werden nicht kontextualisiert, sondern erscheinen vielmehr als Ausdruck einer individuellen Entgrenzung, radikal wie seine übrigen Ansichten und Interessen, einschließlich aller möglichen Widersprüche. Gerade die scheinen den Komponisten anzuregen, sind Quelle seines künstlerischen Tuns und Denkens. So ist er von jüdischer Kultur fasziniert, studiert jüdischen Mystizismus, sucht Parallelen im Christentum und arbeitet in sein „Bühnenweihfestspiel“ „Parsifal“ kabbalistische Riten ein. Den Kindern liest er Lessings „Nathan der Weise“ vor und kann sich angesichts des Theaterbrandes in Wien mit 400 jüdischen Toten den „heftigen Scherz“ nicht verkneifen, alle Juden sollten bei einer Aufführung des „Nathan“ verbrennen. Infam und rassistisch. Außerdem sind für Wagner Juden „das Symptom einer weitverbreiteten Seuche“, und die ist der „die Unschuld würgende Dämon“ des Goldes.
Dann wieder geht es um Rassetheorien, etwa die weit verbreitete von Arthur de Gobineaus, dass alle Menschenrassen aus eigenen Ursprüngen entstanden sind, wobei die weiße Rasse die erhabenste sei. Das freute weiße Rassisten in den USA, wo Gobineaus Schriften schon 1865 in Übersetzungen zu lesen waren. Wagner bezweifelt, dass die Rasse-Hierarchie unabänderlich sei, er glaubt an die reinigende Kraft des Blutes Christi. Das „dürfte den niedrigsten Racen zu göttlichster Reinigung gedeihen“. Christus selbst gehört dabei keiner Rasse an.
Zutreffend schreibt Ross, dass es in Wagners Opern keine Juden gebe. Keinen Fagin wie in „Oliver Twist“, keinen Svengali wie in George de Mauriers „Trilby“ und keinen hakennasigen Börsenmakler wie in Degas’ „Portraits à la Bourse“. Doch spätestens seit Adornos „Fragmente über Wagner“ von 1939 wird man in Mime und Alberich antisemitische „Judenkarikaturen“ sehen, ebenso in Beckmesser aus den „Meistersingern“. Auch die „Nibelungen“-Zwerge werden oft in diesem Zusammenhang genannt, nicht zu vergessen die düstere Verführerin Kundry im „Parsifal“.
Es gibt da vieles in vielem zu sehen, Ross löst das Dilemma so auf: „Es gibt nicht nur hell und dunkel, gut oder böse, oben oder unten.“ Letztlich gehe es um die Frage, ob man als Verehrer der Musik und Musikdramen Wagners auch dessen ideologischen Ballast auf sich nehme. Ross sagt ja, aber es gebe einen Ausweg. Er beruft sich dafür auf den schwarzen Vorkämpfer und Wagnerianer Du Bois sowie auf Shakespeare und verweist auf die Bedeutung der Einbildungskraft im Theater, die es ermögliche, ein „doppeltes Bewusstsein“ zu entwickeln.
Wichtig wäre auch die Rolle des Redakteurs der Neuen Zeitschrift für Musik, der Wagners Aufsatz ins Blatt hob, der gedruckte Rede und Gegenrede moderierte, zur Veröffentlichung die Fußnote anbrachte: „Mag man die darin ausgesprochenen Ansichten theilen, oder nicht, Genialität der Anschauung wird man dem Verf. nicht abstreiten können.“ Genialität bedeutete damals eher Originalität, dennoch, das ganze Hin und Her, angefangen von der Kritik Theodor Uhligs, die Aufgeregtheit über Meyerbeers „Le Prophète“, die Verquickung von Nationalbestreben und Antisemitismus, endlich die Selbst-Ermutigung Wagners, seinen zunächst noch unter Pseudonym veröffentlichten Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ stolz mit Klarnamen im Sonderdruck herauszugeben – dieses ganze nationalistische Wabern und antisemitische Weben wäre wichtig zum Verständnis von Wagners Aufsatz, der so gerne ein Manifest wäre und doch nur ein großmäuliges Pamphlet geworden ist.
Auch hier darf man nicht die Größe des Komponisten Wagner für den Politiker Wagner zum Maßstab nehmen. Der Aufsatz taugt jedenfalls nicht dazu, den ganzen europäischen Antisemitismus seit dem Mittelalter und den Antisemitismus der Nationalsozialisten zu erklären. Es gibt starke Verbindungen, keine Frage, aber – trotz großer philologischer und philosophischer Anstrengungen in diese Richtung – den direkten Weg von Wagner nach Ausschwitz gibt es nicht. Dies nicht deutlich zu machen, sondern vielsagend im Dunkeln zu lassen, kann man dem sonst so klarsichtigen und fleißigen Autor vorwerfen.
Man erfährt im Buch allerdings auch, dass Wagner kein Spalter ist. Es gibt nicht nur fanatische Anhänger und glühende Verächter, wie es oft und gerne behauptet wurde, um dem Werk etwas Sektenhaftes einzuschreiben. Es gab natürlich die barfuß nach Bayreuth pilgernden Sektierer, aber das waren weniger Anhänger als Stalker. Musik ist nicht ideologisch, Theaterformen auch nicht. Und was der Mensch und Künstler darüber hinaus denkt, sagt und schreibt, gehört zum Menschen und vielleicht zum Künstler, aber nicht zum Werk. Das alles wurde in den vergangenen Jahrzehnten gerne zusammengerührt, um bestimmter Effekte willen. Es muss wieder getrennt werden, was im Buch nicht durchgehend gelingt. Dennoch ist es ein höchst lesenswerter Aufriss der Wagnerschen Wirkungsgeschichte.
Letztlich geht es um die Frage,
ob man als Verehrer der
Musik Wagners auch
dessen antisemitischen Ballast
auf sich nimmt
Der Musikkritiker Alex Ross.
Foto: David Michalek
Unteilbare Totalität: Eine Büste des Komponisten im Richard-Wagner-Museum in Bayreuth.
Foto: REUTERS
Alex Ross:
Die Welt nach Wagner.
Rowohlt-Verlag,
Hamburg 2020.
907 Seiten, 40 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2021

Da kommt das Königreich der Freiheit

Das Gesamtkunstwerk als Anstoß: Alex Ross beugt sich kundig über die Wirkungsgeschichte Richard Wagners und macht dabei durchaus noch Entdeckungen.

Als Richard Wagner am 13. Februar 1883 starb, war die Nachwelt mehr als nur respektvoll erschüttert. Nietzsche schrieb einem Freund: "Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat." Brahms, hinter dem sich die Gegner Wagners versammelt hatten, schickte zur Beerdigung einen Lorbeerkranz. In Neuseeland schrieb ein Dichter namens Fergus Hume von der aischyleischen Musik des Verstorbenen, aus dem amerikanischen Süden meldete sich die Stimme eines Abolitionisten und Pazifisten, durch Wagner sei "die alte Ordnung unwirklich geworden". Die Totenfeiern zeigten, "welchen ungeheuren Schatten Wagner auf die Welt geworfen hatte", heißt es in "Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne" von Alex Ross. Noch erstaunlicher aber ist, dass dieser Schatten mit dem Tod nicht verblasste. Die Einwände gegen Wagner - die Effektsicherheit, das Histrionentum - waren ja nicht aus der Luft gegriffen. Dass die Wirkung Wagners bald nachlasse, dass die Wagner'schen Effekte durch neue, stärkere entwertet würden, das war eine plausible Vermutung. Aber so kam es nicht. Im Gegenteil, Wagners Erfolg war nicht bloß einer der Opern- und Konzerthäuser, er zeigte sich am stärksten in der "beispiellosen Wirkung auf andere Künste". Sie vor allem interessiert Alex Ross, weniger die szenisch-musikalische Aufführungsgeschichte.

Die Wirkungsgeschichte Wagners ist nicht gerade unbekannt. Und doch gibt es, das eben gehört zur andauernden Wirkung, immer noch etwas Neues, Interessantes zu sagen, jedenfalls wenn man über einen freien, umsichtigen Kopf verfügt wie Alex Ross und dessen wunderbare Verbindung von Fleiß und Freude. Die große Linie gibt das Wort Nietzsches vor: "Wagner resümiert die Moderne." Es erklärt die besondere Bedeutung, die er für Frankreich hatte. Dort ist Wagner die Losung der Modernen, Wagner-Verachtung ist das Merkmal der Rückständigen. Flaubert schreibt im Wörterbuch der Gemeinplätze: "Lachen Sie, wenn Sie seinen Namen hören, und machen Sie sich über seine Musik der Zukunft lustig." Wagners Zusammenführung der Künste passt zu den synästhetischen Idealen der französischen Autoren; der freie Vers, das Prosagedicht zur "Emanzipation vom musikalischen Periodenschema", der "musikalischen Prosa" Wagners, wie der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus sie beschrieben hat. Diese Emanzipation lässt auch die großen französischen Maler - Manet, Monet, Seurat, Signac, van Gogh, Degas oder Cézanne - zu Parteigängern Wagners werden.

Anders, weniger streitig und weniger interessant, entwickelt sich das Wagner-Interesse in England. Hier ist der Komponist ein Bote nicht der Moderne, sondern aus der Welt des König Artus. Wie in Frankreich wird eine Zeitschrift der Wagnerianer gegründet, aber "The Meister" hat nicht das Niveau der "Revue Wagnérienne". Auch in den Vereinigten Staaten wird Wagner rasch populär, im Metropolitan Opera House ist er zeitweilig der meistgespielte Komponist und auch im Sommer in Brighton Beach auf Coney Island. Dass die "brutale Energie des amerikanischen Unternehmergeistes" (und das damit verbundene Bedürfnis nach Erbauung und Verfeinerung) sich besonders angesprochen fühlte, vermutet Alex Ross mit guten Gründen. Ähnlich hat schon Shaw die Popularität Shakespeares unter den britischen Manchesterkapitalisten erklärt.

Deutschland ist demgegenüber langweilig und verhockt. Für Nietzsches Vermutung, der Typus Wagner stehe "unter Deutschen einfach fremd, wunderlich, unverstanden, unverständlich da", findet Alex Ross einige weitere Gründe. Hier ist Wagner nicht ein Problem, hier ist er den einen nationaler Besitz, den anderen fremd, Thomas Mann ist eine der wenigen Ausnahmen. Das trübe Bild hat allerdings auch damit zu tun, dass Wagners Wirkung auf die Musik, auf Bruckner, Mahler, Strauss und die Neue Wiener Schule, von Ross kaum beachtet wird.

Ist schon die Wirkungsgeschichte Wagners im Kaiserreich matt und uninspiriert, so verstärkte sich das nach 1918. Hans Heinz Stuckenschmidt, Parteigänger der musikalischen Avantgarde, resümierte 1933: "Die Jugend aber, und merkwürdigerweise auch die Hitlerjugend, steht Wagner ferner als je. Sie fühlt sich in seinem Pathos nicht wohl. Sie versteht seine Sprache kaum." Und die kommenden zwölf Jahre änderten daran nichts. Wagner galt unter eingefleischten Nationalsozialisten nicht viel, als dekadent, "na - lassen wir halt dem Führer seinen Spleen". In der Saison 1932/33 kam es im Reich zu 1837 Wagner-Aufführungen, 1939/40 waren es nur noch 1154. Wagner war unmodern, kompliziert, volksfern. Auch die oft gehörte Behauptung, in den KZs sei Wagner gespielt worden, ist nicht gut belegt. "Wir haben ganz sicher keinen Wagner gespielt", sagte später Anita Lasker-Wallfisch, Mitglied im Frauenorchester von Auschwitz und professionelle Cellistin. Wagner war zu schwierig für ein Ensemble mit vielen Laien, stattdessen gab es Schlager, Walzer, einzelne Sätze von Schubert und Beethoven.

Auf dem Gang durch die Kulturgeschichte, den der Leser mit Alex Ross unternimmt, trifft er natürlich alte Bekannte, aber es gibt doch sehr viel Überraschendes. Für Theodor Herzl war Wagner die große Stärkung in allen Krisen. Er sah sich als der zweite Moses seines Volkes, seine Staatsgründung als Werk ungekannter Größe: "Moses Auszug verhält sich dazu wie ein Fastnachtspiel von Hans Sachs zu einer Wagnerschen Oper." Die russische Revolution feierte sich mit Massenspektakeln, darunter "Das Geheimnis der befreiten Arbeit": Musik aus "Lohengrin" verkündete "die Ankunft des Königreichs der Freiheit". Die musikalische Leitung hatte Dimitri Tiomkin, den man als einen der wichtigsten Komponisten Hollywoods kennt. Großartig auch die Anverwandlung Wagners im Jazz (Proben auf Youtube unter Daniel Lambert, Pilgrim Chorus oder Charlie Parker, Cool Blues, Boston Storyville 1953).

"Lohengrin" geriet in Deutschland unter Verdacht. Der Held aus mythischer Ferne, der sich nicht befragen lassen will, hat etwas vom Führer. Für W. E. B. Du Bois sah die Sache anders aus. "The Souls of Black Folk", ein Grundlagenbuch der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, enthält ein erzählendes Kapitel: Ein junger Schwarzer verlässt seine Heimat, in New York besucht er offenbar zum ersten Mal ein Konzert mit klassischer Musik, er hört das "Lohengrin"-Vorspiel und fühlt die Sehnsucht, "sich mit dieser klaren Musik aus dem Schmutz und Staub des niederen Lebens zu erheben. Wenn er nur in der freien Luft aufleben könnte, wo Vögel singen und untergehende Sonnen von Blut unberührt sind." In dieser Luft darf er nicht leben, schon bald wird er Opfer eines Lynchmobs. Er weiß es, und während er auf seine Mörder wartet, wird er ruhig, lächelt und erinnert er sich an "Lohengrin", den Augenblick seines Lebens, "in dem der Schleier sich zu lüften schien".

Das hat mit Wagner zu tun, gewiss, aber auch mit einer Kraft der Kunst, die heute kaum mehr erfahren wird. Künstler, die in unseren Tagen sterben, hinterlassen nur noch eine respektvoll erschütterte Öffentlichkeit. Als Hans Heinz Stuckenschmidt 1933 über Wagners sinkende Bedeutung nachdachte, mochte er das schon im Blick gehabt haben: "Vielleicht ist wirklich Kunst nur noch ein Rudiment früherer Kultur, wie der Schwanzknochen am menschlichen Leibe."

STEPHAN SPEICHER

Alex Ross: "Die Welt nach Wagner". Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne.

Aus dem Englischen von Gloria Buschor und Günter Kotzor. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 908 S., Abb., geb., 40,- [Euro].

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Wagnerism ist monumentale Musikgeschichte, bestens recherchiert und geradezu enzyklopädisch aufbereitet. Man staunt über die enorme Breite und den Willen zur Vollumfänglichkeit, merkt dem Autor die Begeisterung über und Faszination für die vielen Wagner-Jünger an. Aber man spürt eben auch, dass noch viel mehr zu sagen wäre; dass die Geschichte des Wagnerianers so viel komplexer ist, als Nietzsche sie wahrnahm (und zu seiner Zeit wahrnehmen konnte). Adrian Daub Zeit Online 20201027