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Der lang erwartete neue Roman von Aleksandar Hemon
Als Erzherzog Franz Ferdinand an einem Junitag des Jahres 1914 in Sarajevo eintrifft, ist Rafael Pinto damit beschäftigt, hinter dem Tresen der Apotheke, die er von seinem Vater geerbt hat, Kräuter zu zerkleinern. Es ist nicht ganz das Leben, das er sich während seiner Studententage im libertären Wien vorgestellt hatte, aber es ist nichts, was ein Schuss Laudanum, ein Spaziergang und Tagträumereien nicht in Wohlgefallen auflösen könnten.
»Als Schriftsteller ist sich Hemon bewusst, wie trickreich man Erinnerungen verfälschen kann, damit
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Produktbeschreibung
Der lang erwartete neue Roman von Aleksandar Hemon

Als Erzherzog Franz Ferdinand an einem Junitag des Jahres 1914 in Sarajevo eintrifft, ist Rafael Pinto damit beschäftigt, hinter dem Tresen der Apotheke, die er von seinem Vater geerbt hat, Kräuter zu zerkleinern. Es ist nicht ganz das Leben, das er sich während seiner Studententage im libertären Wien vorgestellt hatte, aber es ist nichts, was ein Schuss Laudanum, ein Spaziergang und Tagträumereien nicht in Wohlgefallen auflösen könnten.

»Als Schriftsteller ist sich Hemon bewusst, wie trickreich man Erinnerungen verfälschen kann, damit sie literaturtauglich werden. Für die Leser sind sie ein Geschenk.« NZZ

Und dann explodiert die Welt. Der Krieg verschlingt alles, was er kannte, und das Einzige, worauf Pinto hinlebt, ist die Zuneigung von Osman, einem Kameraden, einem Mann der Tat, der Pintos poetische Seele komplementiert. Ein charismatischer Geschichtenerzähler und Pintos Beschützer und Liebhaber.

Gemeinsam entkommen Pinto und Osman den Schützengräben und geraten in die Fänge von Spionen und Bolschewiken. Während sie über Berge und durch Wüsten reisen, von einer Welt in die andere, bis nach Shanghai, ist es einzig Pintos Liebe zu Osman, die überleben wird.

Die große, zärtliche, mitreißende Geschichte umspannt Jahrzehnte und Kontinente - und wird Sie erschüttern, wie es die Bücher von Hanya Yanagihara und Douglas Stuart vermögen.
Autorenporträt
Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in 'The New Yorker', 'Granta' und 'The Paris Review'. Sein Erzählband 'Die Sache mit Bruno' erschien 2000, 2002 folgte der Roman 'Nowhere Man', der für den 'National Book Critics Circle Award' nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem 'Genius Grant' aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman 'Lazarus', der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien 'Das Buch meiner Leben'. Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Als eine Liebesgeschichte mit einem schönen Anfang aber grausamem Fortgang liest Jörg Plath mit Aleksandar Hemons Roman. Hauptfigur ist Rafael Pinto, ein jüdischer Apotheker, der sich 1914 in Sarajevo in den k.u.k.-Rittmeister Kaspar verliebt. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs kommt, heißt es weiter, den beiden dazwischen, später, im Schützengraben, lernt Pinto dann Osman kennen. Die Erlebnisse der beiden fügen sich nach den etwas pathetischen ersten paar Dutzend Seiten weder zu einer Schmonzette noch zu einem Schaulaufen der Toleranz-Diskurse, beruhigt uns Plath, sondern zu einem großen Roman über Liebe, Krieg und Emigration, in dem gar die Grenze zwischen Tod und Leben überschritten wird, wenn Pintos geliebter Osman stirbt und doch nicht aus der Handlung verschwindet. Noch weitere faszinierende Figuren tauchen in der reichhaltigen Handlung auf, erfahren wir, so etwa ein eingebildeter Oxford-Major und ein Mädchen, das Pinto durch die Kriegswirren begleitet. Hemon beweist sich ein weiteres Mal als ein faszinierender Solitär der amerikanischen Migrationsliteratur, seine Sprache vermischt amerikanische und osteuropäische Einflüsse und ist außerdem ironiebewusst, , freut sich der Kritiker. Auch gelinge es ihm famos, die 35 Handlungsjahre, die der Plot umfasst, zu straffen und sein Buch mit einem Bewusstsein für das Wesen der Fiktion anzureichern.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2024

Die Dinge werden sich verschlimmern

Eine Begegnung mit Aleksandar Hemon anlässlich seines neuen Romans "Die Welt und alles, was sie enthält", der im Ersten Weltkrieg spielt. Aber auch für die Gegenwart gilt: für die Ukraine, die Vereinigten Staaten und Nahost.

Von Thomas David

Ein greller türkisblauer Himmel. Ein plötzlicher Sturmwind aus Erde, Holz und Fleisch, der über Pinto hinwegfegt und nicht nur seine Gedanken auslöscht, sondern Zeit und Raum zu verschlingen scheint und die Welt dem Untergang entgegentreibt. Als eine weitere Granate einschlägt, beginnt Pinto zu rennen, "als gäbe es irgendwo Schutz", während Osman einen anderen vor dem russischen Beschuss in Deckung bringt. Pinto und Osman sind die Hauptfiguren von Aleksandar Hemons neuem Roman "Die Welt und alles, was sie enthält", ein sephardischer Jude aus Sarajevo und ein bosnischer Muslim, die sich im Krieg kennen- und lieben gelernt haben. Erdbrocken, Gliedmaßen, zerfetztes Fleisch gehen auf sie nieder, ein mit dem Staub der Toten vermischter blutiger Regen. Im Juni 1916 erleben Pinto und Osman als Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee auf einem Schlachtfeld in Galizien den Beginn der Brussilow-Offensive, die Russland im Ersten Weltkrieg zu seinem größten Schlachtsieg verhalf und Hunderttausende das Leben kostete. "Der Geheiligte erschuf Welten und vernichtete sie", so der 1964 in Sarajevo geborene Hemon in seinem Roman, "erschuf Welten und vernichtete sie, und zu guter Letzt erschuf Er diese, und nun war Er drauf und dran, auch sie zu vernichten."

"Ursprünglich sollten Pinto und Osman nur gute Freunde sein, die sich durch ihre nostalgischen Gefühle für Sarajevo verbunden fühlen", sagt Aleksandar Hemon. "Die beiden sollten sich auf ihrer Reise, die sie im Laufe der Jahre von der Front in Galizien bis ins zentralasiatische Taschkent und schließlich nach Schanghai führt, immer weiter von Sarajevo entfernen." An einem sonnigen Tag im Januar geht Hemon in Berlin-Neukölln die zur Mittagszeit recht verkehrsarme Hasenheide entlang und erzählt von der Arbeit an "Die Welt und alles, was sie enthält". An einem Haus zu Beginn des Straßenabschnitts die Gedenktafel für die in Plötzensee hingerichteten Widerstandskämpfer Arvid und Mildred Harnack. Ein paar Schritte neben dem Haus, in dem der an der Princeton University lehrende Hemon während seines Sabbaticals zusammen mit seiner Frau und den beiden Töchtern lebt, hängt vor einem Balkon die ukrainische Flagge.

"Mein Exposé sah vor, dass Sarajevo für Pinto und Osman nur noch in der Erinnerung existiert und von ihnen schließlich so sehr mythologisiert wird, dass die Stadt vollkommen phantastisch wirkt", sagt Hemon, der sich zu Beginn des Bosnienkriegs im Frühjahr 1992 in den USA aufhielt und dort bereits begonnen hatte, das Trauma des Krieges, die Erinnerungen an seine Heimat und die Familie sowie sein Leben im Exil literarisch zu verarbeiten. Nach Sarajevo kehrte er erstmals 1997 zurück. Mit den auf Englisch verfassten Storys seines 2000 erschienenen Debüts "Die Sache mit Bruno" und dem zwei Jahre später erschienenen Roman "Nowhere Man" etablierte er sich als eine der faszinierendsten, von der Kritik gern mit Vladimir Nabokov verglichenen Stimmen der jüngeren amerikanischen Literatur.

"Aber irgendwann ging mir auf, dass Nostalgie eine Art flacher Ton ist, eine Note, die man vielleicht lauter spielen kann, die sich aber nicht verändert", sagt Hemon. "Mir ging auf, dass es sich bei der Freundschaft zwischen Pinto und Osman um Liebe handeln muss, sodass sich die beiden nicht nur nach einem Leben in Sarajevo sehnen, sondern vor allem nacheinander, und das Heimatgefühl von einem Ort auf einen Menschen übertragen wird."

Zwar lässt Hemon in seinem neuen Roman abermals den Akkordeonspieler auftreten, der bereits in einer frühen Geschichte Zeuge der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand wird, Hemons im Juni 1914 aus der Ukraine in Sarajevo eingetroffener Urgroßvater, wie es in der Story heißt. Dennoch gibt er in "Die Welt und alles, was sie enthält" die Mythologisierung der eigenen Familiengeschichte und das auf existenzieller Erfahrung beruhende Verwirrspiel mit der eigenen Identität, das seine früheren Erzählungen und Romane auszeichnet, weitgehend auf und betritt gemeinsam mit Pinto und Osman, die in russische Gefangenschaft geraten und nach Ende des Kriegs immer weiter nach Osten ziehen, Neuland. Als ein sich über Dekaden, bis ins Jahr 1949 erstreckender nomadischer und multilingualer Roman, der Hemons eigener Heimatlosigkeit und Unbehaustheit zu entspringen scheint und von den Idiomen und Wörtern der Sprachen und Dialekte durchzogen ist, die Pinto und Osman auf ihrem Weg in die Fremde aufschnappen, ist "Die Welt und alles, was sie enthält" zugleich ein zutiefst persönliches Buch.

"Ich hatte das Exposé irgendwann 2010 an den Verlag geschickt und wollte im Herbst desselben Jahres mit dem Schreiben beginnen", sagt Hemon, dessen Roman nicht zuletzt aus einem Kurs zum Thema "Krieg, Gewalt und Leid" hervorgegangen ist, den er 2009 an der renommierten Northwestern University in Chicago unterrichtet hatte, wo Hemon seit der Einwanderung in die USA lebte. "Aber dann wurde meine neun Monate alte Tochter Isabel krank und starb, sodass ich meine Pläne ändern musste." Er biegt vor einer verwaisten Minigolfanlage in den Volkspark Hasenheide ein und geht im grellen Licht der Mittagssonne Richtung Tempelhofer Feld. Das Baby, bei dessen Geburt Pinto inmitten der Wirren des russischen Bürgerkriegs Hilfe leistet, während Osman einem britischen Spion zur Flucht vor den Bolschewiki verhilft und seinem Geliebten fortan nur noch in Gedanken oder als körperlose Stimme erscheint, war in Hemons 2010 verfasstem Exposé nicht vorgesehen. "Dass sich Pinto nach Osmans Verschwinden wie ein Vater um das Mädchen kümmert, kam in meinem Exposé nicht vor", sagt Hemon. "Ich nehme an, das Kind verleiht nicht nur Pintos Liebe eine neue Gestalt."

"Die Vorstellung eines Gottes, der Welten erschafft und sie dann immer wieder vernichtet, ist in der christlichen Theologie heute vielleicht nicht mehr so präsent." Hemon spaziert entlang der ehemaligen Start- und Landebahn des 2008 geschlossenen Flughafens Berlin-Tempelhof. Nur wenige andere Fußgänger an diesem kalten Wintertag, hin und wieder ein Skater. Auf den angrenzenden Grünflächen ein paar Leute mit ihren Hunden. "Aber selbst Menschen, die wie ich nicht an diesen allmächtigen ewigen Gott glauben, wissen, dass die Welt kein stabiles Gebilde ist, und streben dennoch nach irgendeiner Art von Beständigkeit, nach dauerhaften Beziehungen oder was auch immer", sagt Hemon. Er trägt einen schwarzen Hoody und ein grünes Sakko, Wollmütze und Sonnenbrille, einen Schulterbeutel an einem orangefarbenem Gurt. Er muss noch Hemden in die Reinigung bringen und fürs Abendessen einkaufen. Hemon ist erst am Vorabend aus Teneriffa zurückgekehrt, wo er die Filmemacherin Lana Wachowski besucht hat, mit der er seit der Zusammenarbeit an einer Folge der Serie "Sense8" und dem Blockbuster "Matrix Resurrections", an dessen Drehbuch Hemon mitschrieb, befreundet ist. In ein paar Tagen fliegt er nach Sarajevo, um in einem Studio die Electronic Dance Music zu mischen, die er seit ein paar Jahren unter dem Namen Cielo Hemon produziert. In Berlin hat er schon Live-Sets im "Kater Blau" gespielt.

"Ich meine, es ist doch ziemlich erstaunlich, dass ich im Sommer mit meiner Familie nach Princeton zurückkehren werde und überlege, dort ein Haus zu kaufen, obwohl ich weiß, dass in Amerika Schreckliches geschehen wird. Es geschieht sogar bereits." Hemon spricht über den Untergang von Imperien, über die auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zu Fall gekommenen Reiche der Habsburger, Osmanen und Romanows. Er spricht über den Zusammenbruch vorherrschender Gesellschaftsordnungen, über die zyklisch wiederkehrende Zerstörung der Welt und von allem, was sie enthält. "Die amerikanische Demokratie ist dem Zusammenbruch im Januar 2021 beim Sturm aufs Kapitol nur knapp entkommen", sagt er. "Wenn Trump die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr gewinnen sollte, könnte der Moment gekommen sein, in dem der Kollaps nicht mehr abzuwenden ist." In Princeton hat Hemon seit 2018 eine Professur für Kreatives Schreiben. Sein neuer Roman ist möglicherweise sein letzter, weil er nicht noch einmal zwölf oder dreizehn Jahre lang allein an einem Buch arbeiten wolle und sich Amerika ohnehin zu wenig für Fremde interessiere, die sich wie er nie wirklich assimiliert hätten und Romane schrieben, in denen sich der amerikanische Leser nicht wiedererkenne. In "Die Welt und alles, was sie enthält", kommt Amerika nicht vor.

"Dass die USA zunehmend diverser werden, macht Trump und seinen Wählern Angst", sagt Hemon. "Trump und die Republikaner fürchten um ihre weißen Privilegien und glauben, dass sie um ihr Leben kämpfen müssen. Sie sind entschlossen, das System zu zerstören und alles niederzubrennen, statt die Regierung anderen zu überlassen, während die Demokraten so verhalten reagieren wie in den späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren die Sozialdemokraten hier in Berlin auf die Nazis. Zu viele Kompromisse, eine allzu vorsichtige Haltung in dem Glauben, die Demokratie in ihrer jetzigen Form bewahren zu können, was allerdings ebenfalls unmöglich ist, weil das antiquierte amerikanische Zweiparteiensystem nicht die multikulturelle Vielfalt der USA widerspiegelt und die amerikanische Demokratie nur überleben wird, wenn dieses System zerbricht und erneuert wird."

Hemon steht auf dem weitläufigen, fast menschenleeren Tempelhofer Feld. Über ihm der wolkenlose strahlendblaue Himmel. Die kaiserliche Paradepappel, an der bis zum Frühjahr 1914 Wilhelm II. seine Soldaten aufmarschieren ließ, wurde beim Bau des Flughafens gefällt. "Der Untergang des amerikanischen Imperiums wird natürlich weltweite Auswirkungen haben und dazu führen, dass sich die imperialen Bestrebungen Russlands und Chinas ausweiten. Bereits Trumps Wiederwahl hätte unmittelbare Auswirkungen auf den Krieg in der Ukraine", sagt Hemon, der sich im August 1991 in Kiew aufhielt, als der sowjetische Staatschef Gorbatschow auf der Krim von Putschisten unter Hausarrest gestellt wurde und die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärte. Der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine habe in ihm, in seiner Familie und bei den bosnischen Freunden das Trauma des eigenen Kriegs reaktiviert. Erinnerungen an die Belagerung von Sarajevo, die Hemons seit Jahren in Kanada lebende Eltern miterlebten, Erinnerungen an Bombennächte und Massaker, Flucht und Vertreibung, die ethnische Säuberung. "Ich erkenne einen Genozid, wenn ich ihn sehe", sagt Hemon. "Russland versucht, ein gesamtes Volk auszulöschen, und wenn Trump die Hilfszahlungen an die Ukraine einfrieren sollte, könnte dies gelingen. Ich weiß, was Völkermord ist", sagt er, "und was derzeit in Gaza geschieht, lässt mich und meine Freunde ausrasten."

"Und trotz alldem kehre ich in die USA zurück und überlege, einen Kredit für ein Haus aufzunehmen, den ich dann dreißig bescheuerte Jahre lang zurückzahlen müsste." Aleksandar Hemon ist inzwischen neunundfünfzig Jahre alt. "Das bedeutet, dass ich daran glauben muss, dass sich die Dinge in den nächsten dreißig Jahren zumindest nicht verschlimmern." In "Die Welt und alles, was sie enthält" ist es die Liebe zu Osman und dem Mädchen Rahela, die Pinto auf seinem Weg durch die Unbill der Zeit am Leben hält. "Gleichzeitig weiß ich, dass das völlig illusorisch ist. Die Dinge werden sich verschlimmern", sagt Hemon und steuert unweit der Kite Area auf einen der Ausgänge des Tempelhofer Feldes zu, weil er doch noch die Hemden zur Reinigung bringen muss und auch den Einkauf fürs Abendessen nicht vergessen darf. "Die Alternative wäre, unterirdische Bunker zu graben und Lebensmittel zu lagern. Aber das wäre total verrückt."

Aleksandar Hemons Roman "Die Welt und alles, was sie enthält" ist gerade im Claassen Verlag erschienen.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2024

Liebe im Granathagel
Aleksandar Hemon beschreibt in seinem neuen Roman eine Jahrzehnte und Kontinente umspannende Geschichte zweier Männer, die im Ersten Weltkrieg beginnt.
„Die Welt und alles, was sie enthält“ ist ein recht anmaßender Titel. Entscheidet sich das Schicksal eines Roman nicht immer daran, wie glücklich oder weniger glücklich er den Ausschnitt der Welt auswählt, den er erzählt? Aleksandar Hemon hat offenbar noch etwas anderes im Sinn als einen historischen, einen Bildungs- oder Gesellschaftsroman, um ein paar der Subgenres zu nennen, in denen die Gattung sonst aufs Ganze geht.
Er stellt eine einzelne Person in den Mittelpunkt, die keine Bildung erfährt, denn immerfort passiert ihr nur etwas; die keine Gesellschaft als Ganzes zur Erscheinung bringt, denn dazu bewegt sich diese Person viel zu rasch durch viel zu große Räume; die auch kein geschichtliches Tableau aufschlägt, denn Geschichte insgesamt stellt hier nichts dar als eine Serie von Katastrophen. Und wenn man Glück hat, begegnet einem dabei einmal die Liebe. Die Widmung sagt es noch kürzer: „Für meine Töchter, Ella, Isabel (†) und Esther. Für die Flüchtenden dieser Welt.“
Die Hauptfigur, Rafael Pinto, wächst in Sarajevo vor dem Ersten Weltkrieg auf, wird jedoch von dort in die weite Welt verschlagen. Dies hat er mit seinem Autor Aleksandar Hemon gemeinsam, 1964 ebenda geboren und zufällig gerade in den USA, als der Krieg in Bosnien losbrach. Er ist in Amerika geblieben und schreibt seither auf Englisch, ein nicht ganz freiwilliger Kosmopolit. Pinto hingegen, aus einer traditionstreuen sephardischen Familie stammend, hat im weltoffenen Wien Pharmazie studiert und führt jetzt eine Apotheke in Sarajevo.
Das Buch setzt ein am 28. Juni 1914, dem Tag, an dem in Sarajewo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau von einem serbischen Anarchisten erschossen werden. Pinto wird Augenzeuge des Attentats und auch des Umstands, wie leicht es beinahe unterblieben wäre: wenn nämlich nicht zufällig ein Passant denjenigen Mann angerempelt hätte, der schon drauf und dran war, den Schützen zu entwaffnen. Zwei Sekunden im Straßengetümmel, und die Weltgeschichte wäre anders verlaufen … Wäre sie das?
Pinto wird zur österreichisch-ungarischen Armee eingezogen und erlebt den gesamten Ersten Weltkrieg an der russischen Front, genauer gesagt, er überlebt ihn jeden Tag neu, unter unsäglichen Bedingungen, Hunger, Dreck, Läuse, Kälte, Gestank. Seine Kameraden sterben wie die Fliegen, an Bauchschuss, Kopfschuss, Herzschuss, selbst Mundschuss gibt es.
Aber der homosexuelle Pinto trifft dort auf die Liebe seines Lebens, seinen bosnischen Landsmann Osman, und sie schaffen es zusammenzubleiben, auch als sie später in russische Gefangenschaft geraten, nach Taschkent deportiert werden und sich nunmehr in den mittelasiatischen Wirren nach der Russischen Revolution wiederfinden.
Sie fliehen vor Bolschewiken und durchgeknallten deutschen Freischärlern, queren Wüsten und Hochgebirge über irrsinnige Strecken, mit zerrissenen Schuhen, ohne Wasser, vor Entkräftung an den Schweif eines ergiebig furzenden Kamels geklammert, und springen immer wieder dem Tod von der Schippe. Osman geht schließlich doch verloren; aber im Geiste, als tröstliches Wahnbild, fühlt Pinto immer noch seine Gegenwart und erfährt, man kann es nicht anders sagen, mit ihm eine Art Phantomglück. Er hat die neugeborene Rahela dabei, die Osman mit einer Usbekin (oder war es eine Kirgisin?) bei einem einmaligen heterosexuellen Ausrutscher gezeugt hat; die Mutter stirbt bei der Geburt. Für das unfassbar zähe Kind, das er wie einen Rucksack trägt, ist Pinto nunmehr Vater und Mutter zugleich. So gelangt er schließlich ins Shanghai der Zwischenkriegszeit, sofern in dieser chaotischen Stadt, wo die Europäer dem japanischen Bombardement des Chinesenviertels wie einem Feuerwerk zuschauen, der Krieg überhaupt je aufhört, und schlägt sich unter Lebensumständen, die wechseln wie das Wetter, irgendwie durch. „Irgendwie“ ist das Schlüsselwort dieses Buchs.
Rahela, nunmehr eine junge Frau, versucht ihren Vater, der völlig vom Opium zerrüttet ist, aus Shanghai herauszuholen, als Maos Rote Armee einmarschiert. Sie verspricht ihm die Heimkehr nach Sarajevo. Wenn man verrät, dass er es nicht mehr schafft und sich die Story also nicht rundet, macht man sich nicht des Spoilerns schuldig, denn auf solche ultimative Vergeblichkeit läuft das ganze Buch hinaus. Vor dem Protagonisten selbst hat freilich noch ein anderer seinen Auftritt. „Der Geheiligte erschuf Welten“, so hebt der Roman an, „und vernichtete sie, erschuf Welten und vernichtete sie, und zu guter Letzt, Er wollte schon aufgeben, erschuf Er diese. Und sie könnte schlechter sein, diese Welt, und alles, was sie enthält (…).“ Leibniz hatte erklärt, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, Voltaire hatte das angesichts des barbarischen Weltlaufs hohnlachend für Unsinn erklärt; Schopenhauer meinte, es wäre vielmehr die schlechteste aller möglichen Welten, denn wäre sie nur noch ein kleines bisschen schlechter, so wäre sie schon gar nicht mehr möglich. Damit, wie gut oder wie schlecht sie genau ist, hält Hemon sich nicht auf, ihm genügt es, dass sie möglich und also da ist. Mehr verlangt er nicht von der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes.
Wenn er dennoch sagt, sie hätte schlechter sein können, so bezieht er sich vor allem auf das auszeichnende Merkmal der Menschen, die Sprache. Das meint nicht eine bestimmte Sprache, sondern alle Sprachen insgesamt, wie sie seit dem Turmbau von Babel durcheinanderzwitschern, Bosnisch, Französisch, Deutsch, Tadschikisch, Uigurisch, Chinesisch und noch weitere. Sie strömen zusammen zur einen und einzigartigen Sprache, die zum Band zwischen Rahela und Pinto wird.
Beim Lesen ist es schon auch eine Herausforderung, wenn auf einer einzigen Seite ein Schafkopf von einem pisabaljandu, kaftantragende Teos, fildzani zum Genuss des Kaffees, dazu eine gewaltige dzeva nach der anderen serviert werden, ohne Glossar oder eine „A.d.Ü.“. Aber nach einer Weile wird klar, dass es das gar nicht braucht, dass man nur lauschen und nicht auch begreifen soll.
Aus der Fülle der Idiome hebt sich das Ladino der bosnischen Sepharden hervor; es schmilzt aus der Bedeutung in den reinen Klang, wie zu einem Urlaut der Menschheit, ehe Wort und Musik auseinandertraten. „Noces, noces, buenas noces, noces son d’enamorar, ah, noces son d’enamorar“ – das braucht man nicht verstanden zu haben, um es zu verstehen. Und auch der Tod wird zu einem wiederkehrenden Motiv, „la gran eskuridad“.
Hemon lässt es absichtsvoll in der Schwebe, ob das, wovon er schreibt, ein reales Menschenleben zu seiner Grundlage hat oder nicht. Im Epilog spricht er davon, dass bei einer Lesung in Jerusalem 2001 die nunmehr alt gewordene Rahela auf ihn zugekommen sei und ihm den Stoff seiner Erzählung geliefert habe. Wie zur dokumentarischen Bekräftigung sind alte Fotos eingestreut; das letzte zeigt einen jungen Mann in Fez und Uniform mit Gewehr, der ein Lamm in den Armen hält. Ist das eine Mystifikation? Ist es Kitsch? Die Frage gleitet ab von diesem Buch. Es genügt, dass es möglich war.
BURKHARD MÜLLER
Am dunkelsten Ort der
Welt findet die Hauptfigur
die große Liebe
Manchmal versteht man am meisten, wenn man einfach nur lauscht: Blick auf Shanghai im Jahr 2024.
Foto: HECTOR RETAMAL / AFP
Aleksandar Hemon:
Die Welt und alles,
was sie enthält. Roman.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Claassen, Berlin 2024.
396 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Der in Bosnien geborene, in den USA lebende und auf Englisch schreibende Autor wird wegen seiner erzählerischen Bravour, seiner fabulierenden Lust und List zu Recht mit dem literarischen Migranten Vladimir Nabokov verglichen.« Franz Haas Neue Zürcher Zeitung 20240425