Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers
Erstdruck: Stockholm 1942
Vollständige Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth.
Berlin 2015.
Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Rudolf von Alt, Bibliothek im Palais Lanckoronski in Wien, 1881.
Gesetzt aus Minion Pro, 11 pt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Erstdruck: Stockholm 1942
Vollständige Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth.
Berlin 2015.
Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Rudolf von Alt, Bibliothek im Palais Lanckoronski in Wien, 1881.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2017Abschied von
Europa
Die Stundenbücher des Stefan Zweig
Der zu Lebzeiten meistgelesene Schriftsteller deutscher Zunge, dessen in mehr als fünfzig Sprachen übersetzte Bücher – vorwiegend Erzählungen, Essays und romanhafte Biografien historischer Persönlichkeiten – in Millionenauflagen Verbreitung fanden, seufzte zuweilen, dass es bei ihm „wie in einer Telefonzentrale und Druckerstube“ zugehe. Stefan Zweig schrieb so im April 1935 an seine Sekretärin und künftige zweite Ehefrau Lotte Altmann, an deren Seite er Österreich bereits im Jahr zuvor verlassen hatte – zunächst nach London, dann bei Kriegsausbruch in die USA, schließlich nach dem brasilianischen Petropolis, wo das Paar im Februar 1942 freiwillig aus dem Leben schied.
Jene „Telefonzentrale“, die vormals für das dichte Netzwerk eines passionierten Projektemachers stand, war da längst stillgelegt: Zweig war des Portugiesischen nicht mächtig. Er litt unter seiner „paradiesischen“ Isolation in einer Hemisphäre, die er in dem 1941 veröffentlichten Buch „Brasilien. Land der Zukunft“ noch als Muster einer neuen Zivilisation gefeiert hatte, welche an die Stelle des in Barbarei versunkenen Europas rücken werde.
Ferne Freunde unterrichtete Zweig noch in den letzten Wochen seines Lebens über den anhaltenden Betrieb innerhalb der hauseigenen, selbst dem Nomadenleben des Flüchtlings abgetrotzten „Druckerstube“. Zweigs Schreibtisch befeuerte geradezu einen grafischen Großbetrieb, sodass sein Verleger Anton Kippenberg witzelte, der Wiener Fabrikantensohn habe den Insel Verlag zu seiner zweiten „Fabrik“ gemacht. Zweigs gewöhnlich gleichzeitig oder in dichter Folge in mehreren Sprachen erscheinende Werke wurden vom Autor selbst bis zur Druckreife betreut und unterlagen auch in Neuauflagen seiner Revision. Er kümmerte sich um die Gesamtausstattung seiner Bücher bis hin zur Wahl des Papiers. Die eigene Sammlung sogenannter Hausexemplare seiner Bücher umfasste rund 600 verschiedene Ausgaben. Ihre Schicksalswege wurden vom Urheber mit äußerster Pedanterie in den Spalten eines großformatigen Journals verzeichnet – dem sogenanntem Hauptbuch.
Prinzipiell hatte sich daran auch im Exil nichts geändert, und noch vor dem letzten Atemzug brachte Zweig die jüngst fertiggestellten Werke auf den Weg, darunter die „Schachnovelle“ und die im Original wie in ersten Übersetzungen ins Englische, Spanische und Portugiesische – besorgt von befreundeten Übersetzern – bereits druckreif gefertigten Typoskripte seiner Autobiografie. Unter dem Titel „Die Welt von Gestern“ erschien die deutsche Version postum noch 1941 im Stockholmer Exilverlag Bermann Fischers.
Hinzu traten die offenen, die begonnenen Projekte, darunter ein Roman und als letztes, unvollendet gebliebenes Werk ein großer biografischer Essay über Michel de Montaigne. Der „Montaigne“ war die Frucht des Mangels an lebenden Gesprächspartnern und einer erklärten „contemplativen Pause“ in Zweigs Arbeitsabläufen. Drei Wochen vor seinem Tod schreibt er dem Schriftsteller Hermann Kesten ins New Yorker Exil: „Hier ist mein einziger Umgang zur Zeit der vor dreihundertfünfzig Jahren verstorbene Michel de Montaigne“. Den Verfasser der „Essais“ und gescheiterten Politiker, der sich aus den blutigen Wirren der Religionskriege hinter die Mauern seines Bibliotheksturms zurückgezogen hatte, schildert Zweig als Bewahrer seiner inneren Freiheit und Vorkämpfer geistiger und moralischer Unabhängigkeit. Als „Tröster“ erschien ihm Montaigne zum rechten Zeitpunkt – bot dieser ihm doch die erklärte Möglichkeit, sich „wie seinerzeit in Erasmus in diesem Mann zu spiegeln, der in eine ebenso furchtbare Zeit wie die unsre verschlagen war.“
Beide Essays, der bekanntere über den Humanisten Erasmus von Rotterdam, und der bislang kaum greifbare über Michel de Montaigne, der als Zweigs persönliches Vermächtnis anzusehen ist, sind jetzt in einem Band vereint. In der Doppelspiegelung mit zwei Bannerträgern eines humanen Geists, die im Abstand fast eines Jahrhunderts in die Abgründe ihrer Zeit blickten und doch standhielten, wird auch für Zweig die katastrophale Zeitspanne auslotbar, die beide Essays voneinander trennt. Der „Erasmus“ entstand 1934 als historisch verkleidete Positionierung eines übernationalen Europäertums gegenüber der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. In dem Zauderer Erasmus, der sich unter den fanatisch ausgetragenen Glaubenskonflikten des Reformationszeitalters zwischen alle Stühle setzte und sich die eingefleischte Handlungshemmung des Intellektuellen zur zweiten Natur werden ließ, erschuf sich Zweig einen persönlichen „Nothelfer“ – die Biografie seines eigenen „Spiegelbildes“, wie ihm Thomas Mann bescheinigte.
Zweigs „Montaigne“ indessen ist tief geprägt vom Bewusstsein einer unumkehrbaren Katastrophe der europäischen Zivilisation. Montaignes persönliches Problem – auch dies dürfte Zweig mit seinem Protagonisten teilen – ist ein nur schwer zu regulierendes Maß, genauer ein Übermaß an Empathie, darauf angewiesen, in distanznehmender Reflexion austariert zu werden – auch um den Preis des zeitweiligen Rückzugs hinter eine selbst errichtete „Zitadelle“: Also „halte ich mich an Montaigne“, schrieb Zweig dem Exilgefährten Joachim Maas kurz vor Jahreswechsel 1941/42: Montaigne, „der in einer genau so dreckigen Zeit wie der unseren versucht, unabhängig zu bleiben und auch unter der Gasmaske klar zu denken.“ Dass Zweig in Montaigne überdies einen Verteidiger des im äußersten Fall selbst herbeigeführten Tods fand, dürfte ihm die letzten Stunden erleichtert haben.
Davor aber brachte Zweig noch seine große Autobiografie auf den Weg. Sie ist jetzt in einer ebenso großzügig wie leserfreundlich ausgestatteten Neuausgabe durch Zweigs Biografen Oliver Matuschek greifbar. Er hat den Text und einzelne Stellen in einem rund 250-seitigen Anhang so gründlich und lehrreich kommentiert, dass für Zweigs wohl bedeutendstes Werk mit all seinen autobiografischen wie generationsbiografischen Gehalten auch die narrativen, zuweilen roman-, dann wieder novellenhaften Formierungen sichtbar werden. „Die Welt von Gestern“ ist ein Hausbuch auch für alle späteren Generationen von noch immer bestechender, teilweise schon wieder beunruhigender Aktualität, wo immer vom Schicksal und den Gefährdungen der Vision eines weltbürgerlichen, übernationalen Europas der offenen Grenzen der Rede ist.
VOLKER BREIDECKER
Stefan Zweig: Erasmus von Rotterdam & Montaigne. Zwei biographische Essays. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017, 288 Seiten, 16 Euro.
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Herausgegeben und kommentiert von Oliver Matuschek. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, 700 Seiten, 34 Euro. E-Book 27,99 Euro.
Zweigs Montaigne-Essay ist
geprägt vom Bewusstsein einer
unumkehrbaren Katastrophe
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Europa
Die Stundenbücher des Stefan Zweig
Der zu Lebzeiten meistgelesene Schriftsteller deutscher Zunge, dessen in mehr als fünfzig Sprachen übersetzte Bücher – vorwiegend Erzählungen, Essays und romanhafte Biografien historischer Persönlichkeiten – in Millionenauflagen Verbreitung fanden, seufzte zuweilen, dass es bei ihm „wie in einer Telefonzentrale und Druckerstube“ zugehe. Stefan Zweig schrieb so im April 1935 an seine Sekretärin und künftige zweite Ehefrau Lotte Altmann, an deren Seite er Österreich bereits im Jahr zuvor verlassen hatte – zunächst nach London, dann bei Kriegsausbruch in die USA, schließlich nach dem brasilianischen Petropolis, wo das Paar im Februar 1942 freiwillig aus dem Leben schied.
Jene „Telefonzentrale“, die vormals für das dichte Netzwerk eines passionierten Projektemachers stand, war da längst stillgelegt: Zweig war des Portugiesischen nicht mächtig. Er litt unter seiner „paradiesischen“ Isolation in einer Hemisphäre, die er in dem 1941 veröffentlichten Buch „Brasilien. Land der Zukunft“ noch als Muster einer neuen Zivilisation gefeiert hatte, welche an die Stelle des in Barbarei versunkenen Europas rücken werde.
Ferne Freunde unterrichtete Zweig noch in den letzten Wochen seines Lebens über den anhaltenden Betrieb innerhalb der hauseigenen, selbst dem Nomadenleben des Flüchtlings abgetrotzten „Druckerstube“. Zweigs Schreibtisch befeuerte geradezu einen grafischen Großbetrieb, sodass sein Verleger Anton Kippenberg witzelte, der Wiener Fabrikantensohn habe den Insel Verlag zu seiner zweiten „Fabrik“ gemacht. Zweigs gewöhnlich gleichzeitig oder in dichter Folge in mehreren Sprachen erscheinende Werke wurden vom Autor selbst bis zur Druckreife betreut und unterlagen auch in Neuauflagen seiner Revision. Er kümmerte sich um die Gesamtausstattung seiner Bücher bis hin zur Wahl des Papiers. Die eigene Sammlung sogenannter Hausexemplare seiner Bücher umfasste rund 600 verschiedene Ausgaben. Ihre Schicksalswege wurden vom Urheber mit äußerster Pedanterie in den Spalten eines großformatigen Journals verzeichnet – dem sogenanntem Hauptbuch.
Prinzipiell hatte sich daran auch im Exil nichts geändert, und noch vor dem letzten Atemzug brachte Zweig die jüngst fertiggestellten Werke auf den Weg, darunter die „Schachnovelle“ und die im Original wie in ersten Übersetzungen ins Englische, Spanische und Portugiesische – besorgt von befreundeten Übersetzern – bereits druckreif gefertigten Typoskripte seiner Autobiografie. Unter dem Titel „Die Welt von Gestern“ erschien die deutsche Version postum noch 1941 im Stockholmer Exilverlag Bermann Fischers.
Hinzu traten die offenen, die begonnenen Projekte, darunter ein Roman und als letztes, unvollendet gebliebenes Werk ein großer biografischer Essay über Michel de Montaigne. Der „Montaigne“ war die Frucht des Mangels an lebenden Gesprächspartnern und einer erklärten „contemplativen Pause“ in Zweigs Arbeitsabläufen. Drei Wochen vor seinem Tod schreibt er dem Schriftsteller Hermann Kesten ins New Yorker Exil: „Hier ist mein einziger Umgang zur Zeit der vor dreihundertfünfzig Jahren verstorbene Michel de Montaigne“. Den Verfasser der „Essais“ und gescheiterten Politiker, der sich aus den blutigen Wirren der Religionskriege hinter die Mauern seines Bibliotheksturms zurückgezogen hatte, schildert Zweig als Bewahrer seiner inneren Freiheit und Vorkämpfer geistiger und moralischer Unabhängigkeit. Als „Tröster“ erschien ihm Montaigne zum rechten Zeitpunkt – bot dieser ihm doch die erklärte Möglichkeit, sich „wie seinerzeit in Erasmus in diesem Mann zu spiegeln, der in eine ebenso furchtbare Zeit wie die unsre verschlagen war.“
Beide Essays, der bekanntere über den Humanisten Erasmus von Rotterdam, und der bislang kaum greifbare über Michel de Montaigne, der als Zweigs persönliches Vermächtnis anzusehen ist, sind jetzt in einem Band vereint. In der Doppelspiegelung mit zwei Bannerträgern eines humanen Geists, die im Abstand fast eines Jahrhunderts in die Abgründe ihrer Zeit blickten und doch standhielten, wird auch für Zweig die katastrophale Zeitspanne auslotbar, die beide Essays voneinander trennt. Der „Erasmus“ entstand 1934 als historisch verkleidete Positionierung eines übernationalen Europäertums gegenüber der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. In dem Zauderer Erasmus, der sich unter den fanatisch ausgetragenen Glaubenskonflikten des Reformationszeitalters zwischen alle Stühle setzte und sich die eingefleischte Handlungshemmung des Intellektuellen zur zweiten Natur werden ließ, erschuf sich Zweig einen persönlichen „Nothelfer“ – die Biografie seines eigenen „Spiegelbildes“, wie ihm Thomas Mann bescheinigte.
Zweigs „Montaigne“ indessen ist tief geprägt vom Bewusstsein einer unumkehrbaren Katastrophe der europäischen Zivilisation. Montaignes persönliches Problem – auch dies dürfte Zweig mit seinem Protagonisten teilen – ist ein nur schwer zu regulierendes Maß, genauer ein Übermaß an Empathie, darauf angewiesen, in distanznehmender Reflexion austariert zu werden – auch um den Preis des zeitweiligen Rückzugs hinter eine selbst errichtete „Zitadelle“: Also „halte ich mich an Montaigne“, schrieb Zweig dem Exilgefährten Joachim Maas kurz vor Jahreswechsel 1941/42: Montaigne, „der in einer genau so dreckigen Zeit wie der unseren versucht, unabhängig zu bleiben und auch unter der Gasmaske klar zu denken.“ Dass Zweig in Montaigne überdies einen Verteidiger des im äußersten Fall selbst herbeigeführten Tods fand, dürfte ihm die letzten Stunden erleichtert haben.
Davor aber brachte Zweig noch seine große Autobiografie auf den Weg. Sie ist jetzt in einer ebenso großzügig wie leserfreundlich ausgestatteten Neuausgabe durch Zweigs Biografen Oliver Matuschek greifbar. Er hat den Text und einzelne Stellen in einem rund 250-seitigen Anhang so gründlich und lehrreich kommentiert, dass für Zweigs wohl bedeutendstes Werk mit all seinen autobiografischen wie generationsbiografischen Gehalten auch die narrativen, zuweilen roman-, dann wieder novellenhaften Formierungen sichtbar werden. „Die Welt von Gestern“ ist ein Hausbuch auch für alle späteren Generationen von noch immer bestechender, teilweise schon wieder beunruhigender Aktualität, wo immer vom Schicksal und den Gefährdungen der Vision eines weltbürgerlichen, übernationalen Europas der offenen Grenzen der Rede ist.
VOLKER BREIDECKER
Stefan Zweig: Erasmus von Rotterdam & Montaigne. Zwei biographische Essays. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017, 288 Seiten, 16 Euro.
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Herausgegeben und kommentiert von Oliver Matuschek. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, 700 Seiten, 34 Euro. E-Book 27,99 Euro.
Zweigs Montaigne-Essay ist
geprägt vom Bewusstsein einer
unumkehrbaren Katastrophe
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2018Funkelnder Kronzeugenbericht eines überzeugten Europäers
Das Vermächtnis als Utopie: Stefan Zweigs Reflexionen über "Die Welt von gestern", wiedergelesen in unseren kleinmütigen Zeiten
Ein entschiedener, ein begeisterter Europäer ist einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Stefan Zweig war der glühende Verfechter eines vereinten Europa - zu einer Zeit, als dies noch nicht mehr war als eine Utopie. Seine Romane, Erzählungen und Biographien liegen in mehr als fünfzig Sprachen vor. In diesen Tagen lohnt vor allem der Blick in seine kurz vor dem Selbstmord wie im Fieber geschriebenen Reflexionen. Ihr Titel: "Die Welt von gestern".
Diese "Erinnerungen eines Europäers", wie Zweig seine 1942 postum in Stockholm veröffentlichte Schrift im Untertitel genannt hat, sind unlängst in einer von Oliver Matuschek sorgfältig edierten und kommentierten Ausgabe im S. Fischer Verlag neu herausgekommen. Der Klassiker war immer präsent und hat über die Jahrzehnte die verschiedensten Lesarten herausgefordert. Wie konzentriert Zweig hier seine Vorstellung eines geeinten Europa formuliert und damit einen Gedanken, der direkt in unsere Gegenwart hineinragt, fällt heute besonders ins Auge - "Die Welt von gestern" sollte daher Pflichtlektüre sein, nicht nur für Schüler, sondern vor allem für die Europa-Kritiker unserer Zeit.
Diese Erinnerungen sind nicht nur das ergreifende Zeugnis der Sinnsuche eines Flüchtlings, dem durch die Verfolgung der Nationalsozialisten alles genommen wurde und der sich nach seiner Flucht aus Österreich über London und New York nach Brasilien schließlich mit sechzig Jahren, von Verfolgung und Depressionen erschöpft, im Februar 1942 im brasilianischen Petrópolis das Leben nahm. Dieser Teil von Zweigs Biographie ist bekannt und wurde immer wieder erzählt, ob in der Biographie von George Prochnik, "Das unmögliche Exil", oder jüngst in Maria Schraders Kinofilm "Vor der Morgenröte". Darüber hinaus gewinnt der Text noch einmal an Brisanz, weil er von einer Sehnsucht erzählt, der Sehnsucht nach einem geeinten Europa, wie wir es heute als selbstverständlich betrachten und das zugleich von nicht wenigen wieder in Frage gestellt wird.
Während einerseits ein neuer Präsident im Pariser Elysée-Palast Europa als Einheit gerade ganz neu denken will, ist andernorts ein Unmut zu vernehmen, der die Europäische Union in ihren Grundfesten bedroht. Großbritannien hat seinen Austritt erklärt, und das Zerwürfnis zwischen Europas Verteidigern und seinen Kritikern wird immer größer. Argwöhnisch betrachten Politiker wie etwa der ungarische Präsident Victor Orbán Marcrons Pläne zur Neuerfindung Europas mit einer gemeinsamen Wirtschafts-, Einwanderungs- und Sicherheitspolitik und reagieren darauf, indem sie den Abbau von Integration betreiben und zugleich mehr nationale Rechte einklagen. Dass vor allem die Regierungen in Warschau und Budapest Brüssel vierzehn Jahre nach ihrem EU-Beitritt zunehmend als Feindbild betrachten, hat historisch gesehen etwas Schicksalhaftes, und ebenso, dass dreißig Jahre nach Ende des Kalten Kriegs immer mehr der damals hart erkämpften Errungenschaften wie Rechtssicherheit und Pressefreiheit zurückgenommen werden. Den zahlreichen Euroskeptikern in West und Ost sei deshalb "Die Welt von gestern" zur Lektüre empfohlen. Denn Stefan Zweigs Aussicht auf ein imaginiertes europäisches Bündnis liest sich heute wie ein Aufruf, sich noch einmal der Anfänge dieser europäischen Idee zu besinnen.
"Glanz und Schatten über Europa" ist das Kapitel überschrieben, in dem Zweig sich an das Europa vor dem Epochenbruch 1914 erinnert, eine Zeit, in der er und seine intellektuellen Mitstreiter für "eine Einigung Europas" kämpften: Es sei schwer, schreibt Zweig in "Die Welt von gestern", der Generation von heute, die in Katastrophen, Niedergängen und Krisen aufgewachsen sei, den Optimismus und das Weltvertrauen zu schildern, "die uns junge Menschen seit jener Jahrhundertwende beseelten". Vierzig Jahre Frieden hätten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, "die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europa fast gleichmäßig zu fühlen war". Eine wunderbare Unbesorgtheit sei damit über die Welt gekommen, schreibt Zweig weiter und fragt: "Was sollte diesen Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zog? Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft, niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ,gute alte Zeit'".
Der Schriftsteller und seine französischen, italienischen und russischen Mitstreiter - Franz Werfel, Georges Duhamel, René Arcos, Giuseppe Antonio Borgese und der französische Nobelpreisträger Romain Rolland - setzten sich für ein "kommendes Europäertum" ein. Und dieses Europa, das ihnen vorschwebte, war ein Europa, das weltoffen und gebildet sein sollte - eine Vereinigung des Geistes und des friedlichen Miteinanders und kein Bollwerk der Bürokraten.
Am Ende aber war es nicht zuletzt dieser Idealismus, der die Sehnsuchtseuropäer die heraufziehende Gefahr verkennen und verachten ließ. Auch das gehört zu dieser Geschichte, und Stefan Zweig verschweigt sie nicht, im Gegenteil. "Wir glaubten, genug zu tun, wenn wir europäisch dachten", schreibt Zweig. Erst aus der Feier des Europäischen heraus formuliert er seine Befragung, wie es so weit kommen konnte, dass Europa in die Barbarei erst des Ersten und dann des Zweiten Weltkriegs zurückfiel. Die Trauer darüber kommt über das persönliche Unglück hinaus auf jeder Seite zum Ausdruck.
Zweigs Materialien und Aufzeichnungen lagen ihm in seinem Exil nicht vor. Die Vorstellung, dass er erst in einer Kleinstadt bei New York und später im brasilianischen Petrópolis mitten im Dschungel allein aus seinem Gedächtnis heraus diese Schrift zu Papier brachte, hat etwas Bezwingendes. "Die Welt von gestern" ist sein Vermächtnis, in dem er formulierte, was er der Welt von morgen an Gedanken hinterlassen wollte. Während andere Schriftsteller wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht auch im Exil noch die Kraft aufbrachten, dem Grauen etwas entgegenzusetzen, war Zweig dazu nicht mehr in der Lage. Was bleibt, sind seine Romane, Erzählungen und Biographien. Und die Erinnerungen eines emphatischen Europäers, die man lesen sollte, heute mehr denn je.
SANDRA KEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Vermächtnis als Utopie: Stefan Zweigs Reflexionen über "Die Welt von gestern", wiedergelesen in unseren kleinmütigen Zeiten
Ein entschiedener, ein begeisterter Europäer ist einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Stefan Zweig war der glühende Verfechter eines vereinten Europa - zu einer Zeit, als dies noch nicht mehr war als eine Utopie. Seine Romane, Erzählungen und Biographien liegen in mehr als fünfzig Sprachen vor. In diesen Tagen lohnt vor allem der Blick in seine kurz vor dem Selbstmord wie im Fieber geschriebenen Reflexionen. Ihr Titel: "Die Welt von gestern".
Diese "Erinnerungen eines Europäers", wie Zweig seine 1942 postum in Stockholm veröffentlichte Schrift im Untertitel genannt hat, sind unlängst in einer von Oliver Matuschek sorgfältig edierten und kommentierten Ausgabe im S. Fischer Verlag neu herausgekommen. Der Klassiker war immer präsent und hat über die Jahrzehnte die verschiedensten Lesarten herausgefordert. Wie konzentriert Zweig hier seine Vorstellung eines geeinten Europa formuliert und damit einen Gedanken, der direkt in unsere Gegenwart hineinragt, fällt heute besonders ins Auge - "Die Welt von gestern" sollte daher Pflichtlektüre sein, nicht nur für Schüler, sondern vor allem für die Europa-Kritiker unserer Zeit.
Diese Erinnerungen sind nicht nur das ergreifende Zeugnis der Sinnsuche eines Flüchtlings, dem durch die Verfolgung der Nationalsozialisten alles genommen wurde und der sich nach seiner Flucht aus Österreich über London und New York nach Brasilien schließlich mit sechzig Jahren, von Verfolgung und Depressionen erschöpft, im Februar 1942 im brasilianischen Petrópolis das Leben nahm. Dieser Teil von Zweigs Biographie ist bekannt und wurde immer wieder erzählt, ob in der Biographie von George Prochnik, "Das unmögliche Exil", oder jüngst in Maria Schraders Kinofilm "Vor der Morgenröte". Darüber hinaus gewinnt der Text noch einmal an Brisanz, weil er von einer Sehnsucht erzählt, der Sehnsucht nach einem geeinten Europa, wie wir es heute als selbstverständlich betrachten und das zugleich von nicht wenigen wieder in Frage gestellt wird.
Während einerseits ein neuer Präsident im Pariser Elysée-Palast Europa als Einheit gerade ganz neu denken will, ist andernorts ein Unmut zu vernehmen, der die Europäische Union in ihren Grundfesten bedroht. Großbritannien hat seinen Austritt erklärt, und das Zerwürfnis zwischen Europas Verteidigern und seinen Kritikern wird immer größer. Argwöhnisch betrachten Politiker wie etwa der ungarische Präsident Victor Orbán Marcrons Pläne zur Neuerfindung Europas mit einer gemeinsamen Wirtschafts-, Einwanderungs- und Sicherheitspolitik und reagieren darauf, indem sie den Abbau von Integration betreiben und zugleich mehr nationale Rechte einklagen. Dass vor allem die Regierungen in Warschau und Budapest Brüssel vierzehn Jahre nach ihrem EU-Beitritt zunehmend als Feindbild betrachten, hat historisch gesehen etwas Schicksalhaftes, und ebenso, dass dreißig Jahre nach Ende des Kalten Kriegs immer mehr der damals hart erkämpften Errungenschaften wie Rechtssicherheit und Pressefreiheit zurückgenommen werden. Den zahlreichen Euroskeptikern in West und Ost sei deshalb "Die Welt von gestern" zur Lektüre empfohlen. Denn Stefan Zweigs Aussicht auf ein imaginiertes europäisches Bündnis liest sich heute wie ein Aufruf, sich noch einmal der Anfänge dieser europäischen Idee zu besinnen.
"Glanz und Schatten über Europa" ist das Kapitel überschrieben, in dem Zweig sich an das Europa vor dem Epochenbruch 1914 erinnert, eine Zeit, in der er und seine intellektuellen Mitstreiter für "eine Einigung Europas" kämpften: Es sei schwer, schreibt Zweig in "Die Welt von gestern", der Generation von heute, die in Katastrophen, Niedergängen und Krisen aufgewachsen sei, den Optimismus und das Weltvertrauen zu schildern, "die uns junge Menschen seit jener Jahrhundertwende beseelten". Vierzig Jahre Frieden hätten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, "die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europa fast gleichmäßig zu fühlen war". Eine wunderbare Unbesorgtheit sei damit über die Welt gekommen, schreibt Zweig weiter und fragt: "Was sollte diesen Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zog? Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft, niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ,gute alte Zeit'".
Der Schriftsteller und seine französischen, italienischen und russischen Mitstreiter - Franz Werfel, Georges Duhamel, René Arcos, Giuseppe Antonio Borgese und der französische Nobelpreisträger Romain Rolland - setzten sich für ein "kommendes Europäertum" ein. Und dieses Europa, das ihnen vorschwebte, war ein Europa, das weltoffen und gebildet sein sollte - eine Vereinigung des Geistes und des friedlichen Miteinanders und kein Bollwerk der Bürokraten.
Am Ende aber war es nicht zuletzt dieser Idealismus, der die Sehnsuchtseuropäer die heraufziehende Gefahr verkennen und verachten ließ. Auch das gehört zu dieser Geschichte, und Stefan Zweig verschweigt sie nicht, im Gegenteil. "Wir glaubten, genug zu tun, wenn wir europäisch dachten", schreibt Zweig. Erst aus der Feier des Europäischen heraus formuliert er seine Befragung, wie es so weit kommen konnte, dass Europa in die Barbarei erst des Ersten und dann des Zweiten Weltkriegs zurückfiel. Die Trauer darüber kommt über das persönliche Unglück hinaus auf jeder Seite zum Ausdruck.
Zweigs Materialien und Aufzeichnungen lagen ihm in seinem Exil nicht vor. Die Vorstellung, dass er erst in einer Kleinstadt bei New York und später im brasilianischen Petrópolis mitten im Dschungel allein aus seinem Gedächtnis heraus diese Schrift zu Papier brachte, hat etwas Bezwingendes. "Die Welt von gestern" ist sein Vermächtnis, in dem er formulierte, was er der Welt von morgen an Gedanken hinterlassen wollte. Während andere Schriftsteller wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht auch im Exil noch die Kraft aufbrachten, dem Grauen etwas entgegenzusetzen, war Zweig dazu nicht mehr in der Lage. Was bleibt, sind seine Romane, Erzählungen und Biographien. Und die Erinnerungen eines emphatischen Europäers, die man lesen sollte, heute mehr denn je.
SANDRA KEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main