»Die Universalität von Krasznahorkais Blick zerstreut alle Zweifel an der zeitgenössischen Literatur.« W. G. Sebald
Dem Zauber des Beginns ist immer schon der Schrecken des Endes eingeschrieben. Von den europäischen Schriftstellern seiner Generation hat keiner dies so deutlich erfahren wie der ungarische Autor und europäische Weltbürger László Krasznahorkai. In seinem Werk, das im Moment eine aufsehenerregende Rezeption im angelsächsischen Raum erfährt, wird eine so betörend luzide wie düstere Karte unserer Gegenwart gezeichnet. Das leuchtende Dunkel Becketts, in dem er sich mit Kafkas Kompass bewegt, steht auch hinter den Erzählungen seines neuen Buches 'Die Welt voran', das durch die Musikalität seiner Sprache und die Eindringlichkeit seiner Bilder zur Widerspiegelung einer beinah geretteten Welt wird.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Dem Zauber des Beginns ist immer schon der Schrecken des Endes eingeschrieben. Von den europäischen Schriftstellern seiner Generation hat keiner dies so deutlich erfahren wie der ungarische Autor und europäische Weltbürger László Krasznahorkai. In seinem Werk, das im Moment eine aufsehenerregende Rezeption im angelsächsischen Raum erfährt, wird eine so betörend luzide wie düstere Karte unserer Gegenwart gezeichnet. Das leuchtende Dunkel Becketts, in dem er sich mit Kafkas Kompass bewegt, steht auch hinter den Erzählungen seines neuen Buches 'Die Welt voran', das durch die Musikalität seiner Sprache und die Eindringlichkeit seiner Bilder zur Widerspiegelung einer beinah geretteten Welt wird.
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radikal, unversöhnlich, gnadenlos. [...]gerade in dieser existentiellen, symbolischen Verdichtung ist sie so groß. [...]ein philosophische Ergründer unserer Welt, ist ein Meister des Absurden und Grotesken. Niels Beintker Bayerischer Rundfunk, BR 2 20150530
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Wenn es jemals ein Buch gegeben hat, das Georg Lukács geflügeltem Wort von der "transzendentalen Obdachlosigkeit" stärker nachgeeifert hat als László Krasznahorkais "Die Welt voran", es würde Andreas Isenschmid schon sehr wundern, auch wenn die tragische condition humaine ein wenig "in der Eiswüste der Abstraktion" verloren geht. Die Anfangsüberlegungen erscheinen eher wie ein philosophischer Traktat, findet der Rezensent, und auch die Geschichten des Mittelteils sind durchsetzt von Disputen über das Wesen der Dinge, bis der Schluss schließlich nur noch Schweigen bereithält, leere Seiten - von den Fußnoten, die die Leere erklären, einmal abgesehen, verrät Isenschmid, dem die Vermittlung durch konkretes Material etwas lieber gewesen wäre als die abstrakten Behauptungen, die auch die fiktiven Figuren aufstellen müssen: "Hinter Ihnen ist das Universum, auch wenn es nicht existiert. Hinter mir ist, auch wenn es existiert, nur das Nichts und wieder das Nichts," zitiert der Rezensent beispielhaft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2015Traurigkeit ist so verführerisch wie Honig
Frisch ausgezeichnet: Die berückenden Erzählungen des großen Ungarn László Krasznahorkai
"Ich lese László Krasznahorkais Buch und stehe an einem Strudel. Nach kurzem Zögern stürze ich hinein - sofort erfasst er mich, reißt mich mit sich fort, lässt mich nicht mehr los. Ich spüre, es nicht mit diesem, einem bestimmten Buch zu tun zu haben, sondern mit dem Ganzen - wie immer bei großen Schriftstellern." Imre Kertész schrieb dies aus Anlass von Krasznahorkais Roman "Melancholie des Widerstandes", einer verzweifelten, schwarzen Parabel über Osteuropa, geschrieben im Wendejahr 1989. Doch erst kürzlich bekannte der ungarische Literaturnobelpreisträger, dass ihn diese Geschichte besonders traurig macht, weil sie bis heute vollkommen auf sein Land passt - wohl einer der Gründe dafür, dass er selbst seit einigen Jahren in Berlin im Exil lebt.
Sofort nach der Wende begann Krasznahorkai, der 1954 in Gyula geboren wurde und nach dem Abitur in Budapest Philosophie studierte, die Welt zu bereisen - und darüber zu schreiben. Er versank in China in einem Vexierspiel aus Anmut und Grausamkeit ("Der Gefangene von Urga"), suchte und fand in Japan einen vollkommenen Ort ("Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Weg, im Osten ein Fluß"). Dort vertiefte er sich in die meditative Handwerkskunst, die mit Strenge und Besessenheit betäubende Schönheit hervorbringt ("Seiobo auf Erden").
Der Melancholie konnten seine sehnsüchtigen, gegen die heimatliche Armut und Verrohung aufbegehrenden Reisenden in ihren "meisterlich besohlten Schnürstiefeln" jedoch nicht entkommen - je weiter sie sich von zu Hause entfernten, desto höhnischer grinste sie auf Bildern und aus der Menschenmenge heraus jene dämonische Fratze an, die Krasznahorkai schon in seinem Debüt "Satanstango" beschworen hatte. "Ich kann unglückseligerweise diese ungarische Erde nie verlieren - egal, wo ich bin", stellte er während der Arbeit an seinem neuen Erzählungsband fest. Genau von dieser Unmöglichkeit handeln diese meisterhaften und poetischen Geschichten.
Statt "Die Welt voran" könnte der Band auch "In der Welt verloren" heißen, denn wo der reisende Erzähler hinwill, was er sucht und warum er dort ist, wo er schließlich landet, das weiß er nicht. Auffallend oft findet er sich an Orten wieder, an denen Menschen nicht vorgesehen sind, auf Autobahnkreuzen etwa oder in menschenleerer, kalt abweisender Natur. Schon der Aufbruch wirft ein bezeichnendes Licht auf seine Irrfahrten: Blindlings war er losmarschiert, weil er den morastigen, beunruhigend dunklen Punkt des Raumes, an dem er sich befand, nicht mehr ertragen konnte - war es das elende ungarische Dorf aus seinem ersten Roman "Satanstango"? Von einer schmerzenden, wahnsinnigen Unruhe geschüttelt, sehnt er sich nur nach Ruhe, doch wo er auch hinkommt, sieht er sich von sinn- und ziellosem Gewimmel umgeben. In Indien beneidet er Sterbende um ihr ruhiges Haus ("Ein Tropfen Wasser") oder beobachtet schockiert, dass Arbeiter sich im lebensgefährlichen Staub der Marmorsteinbrüche von Estremoz glücklich fühlen: Sie lieben ihre Schubkarren, nicht das an Marzipan erinnernde Gestein ("Einmal auf der 381").
Besonders erschreckt den Erzähler, dass er, während er seine zwei Koffer von Land zu Land schleppt, überall auf Doppelgänger trifft, auf Flüchtlinge und Heimatlose, die genau wie er selbst für die Einheimischen scheinbar unsichtbar sind. "Irrfahrt im Stehen" heißt diese Parabel, die an Kafkas Tagebuchnotiz über das Leben als "stehenden Sturmlauf" erinnert und zu den eindrucksvollsten Geschichten des Bandes gehört.
Krasznahorkais Erzählen bewegt sich auf der Messerschneide zwischen dem absolut Phantastischen und dem absolut Realen, und auch wenn manch kürzere Geschichte etwas kühl und abstrakt wirkt, weil sie philosophisch-existentiellen Gedanken folgt und dabei fast ohne Erzählfleisch bleibt, so werfen die längeren Stücke den Leser in einen Strudel aus Spannung, Beklemmung und feinsinniger Situationskomik. Eine der schönsten Geschichten ist "El ultimo lobo": Ein gescheiterter Philosophieprofessor erzählt in einer Berliner Billigkneipe einem genervten Barmann von seinem letzten intellektuellen Abenteuer, einer absurden, bedrohlich existentiell werdenden Recherche über ein Wolfsrudel in der spanischen Sierra - der tragische Schluss der Geschichte quält ihn so, dass er ihn jeden Tag umschreibt. "Die Sprache ist unsere Schmutzwäsche", denkt der Professor, weil "keineswegs der Zufall mit seiner ungeheuren, unerschöpflichen, triumphalen, unbesiegbaren Kraft" die Dinge hervorbringt, sondern tief im Gewebe der Zustände zwischen den Dingen eine dämonische Absicht verankert ist, die alles mit ihrem Gestank erfüllt.
"Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern" hatte Samuel Beckett von seinen traurigen, listigen und momentweise übermütigen Figuren verlangt - diesem Credo folgen auch die Welterkunder des László Krasznahorkai. Mit stolzer Lakonik verirrt sich ein betrunkener Simultandolmetscher in Schanghai auf einem vierstöckigen Autobahnkreuz, und während er jedes Zeitgefühl verliert, erkennt er im gleichmäßigen Rauschen ringsum den lebenslang ersehnten Wasserfall, den er - wie er in diesem Moment mit melancholisch-klarem Blick sieht - nie besuchen wird. Gerade in ihrer Tragik sind diese Geschichten schwebend leicht und von Heiterkeit erfüllt, besonders dann, wenn der Erzähler leidenschaftlich und empört von seiner Traurigkeit erzählt. Heike Flemming hat diesen überbordenden Furor wunderbar musikalisch übersetzt.
Mit dem Wal, so erklärt ein Schriftsteller seinem Auditorium, habe diese Traurigkeit angefangen, sie sei verführerisch wie Honig und beherrsche ihn noch immer. Als Kind hat er das riesige, stinkende Tier auf einem Lastwagen ausgestellt gesehen, Bote und Botschaft in einem, und mit ihm begann in dem ungarischen Städtchen der sechziger Jahre die Hölle, die er in einem Roman ("Melancholie des Widerstandes") beschrieben hat. Aber das sei eine Lüge gewesen, denn er habe damals nicht wissen können, was die Hölle sei - markiert der Moment, wie er dort am Kopf des Kadavers stand, doch erst den "Nullpunkt des Verstehens" ("Die Theseus-Allgemeine"). Diese Sekunde, berichtet das Alter Ego des Autors, wird zum inneren Schwungrad seines Schreibens und lässt ihn unermüdlich "der Achse der Welt" nachspüren, die sich zwischen den Erzählungssammlungen "Seiobo auf Erden" (2010) und jetzt "Die Welt voran" aber merklich verschoben hat: Jene aus Strenge und Erschöpfung geborene Schönheit hat nicht nur ihre tröstende, sondern auch ihre verstörende Kraft verloren - von beidem bleibt nur eine Ahnung, "als würde eine Schwalbe hinter dem Rücken im Sturzflug herabschießen ... Wenn der Betreffende den Kopf nach hinten reißt, ist sie schon nicht mehr da."
Vielleicht hat sich nur Jorge Luis Borges so konsequent an die tiefsten Fragen gewagt - er schwebt wie ein Schutzheiliger über diesen Geschichten, in denen der Erzähler sich bescheiden zurücknimmt zugunsten der Ungeheuerlichkeiten, von denen er zu berichten hat. Wie in einem Fiebertraum ist alles, was er betrachtet, groß und klein, deutlich und undeutlich zugleich, und nichts scheint sicher, weder das Ich noch die Gegenwart, von der Vergangenheit ganz zu schweigen. "Ich brauche nichts von hier", behauptet der Erzähler im letzten Text, der fast ein Prosagedicht ist - und eine Liebeserklärung an die brüchige Welt.
NICOLE HENNEBERG
László Krasznahorkai: "Die Welt voran". Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 407 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frisch ausgezeichnet: Die berückenden Erzählungen des großen Ungarn László Krasznahorkai
"Ich lese László Krasznahorkais Buch und stehe an einem Strudel. Nach kurzem Zögern stürze ich hinein - sofort erfasst er mich, reißt mich mit sich fort, lässt mich nicht mehr los. Ich spüre, es nicht mit diesem, einem bestimmten Buch zu tun zu haben, sondern mit dem Ganzen - wie immer bei großen Schriftstellern." Imre Kertész schrieb dies aus Anlass von Krasznahorkais Roman "Melancholie des Widerstandes", einer verzweifelten, schwarzen Parabel über Osteuropa, geschrieben im Wendejahr 1989. Doch erst kürzlich bekannte der ungarische Literaturnobelpreisträger, dass ihn diese Geschichte besonders traurig macht, weil sie bis heute vollkommen auf sein Land passt - wohl einer der Gründe dafür, dass er selbst seit einigen Jahren in Berlin im Exil lebt.
Sofort nach der Wende begann Krasznahorkai, der 1954 in Gyula geboren wurde und nach dem Abitur in Budapest Philosophie studierte, die Welt zu bereisen - und darüber zu schreiben. Er versank in China in einem Vexierspiel aus Anmut und Grausamkeit ("Der Gefangene von Urga"), suchte und fand in Japan einen vollkommenen Ort ("Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Weg, im Osten ein Fluß"). Dort vertiefte er sich in die meditative Handwerkskunst, die mit Strenge und Besessenheit betäubende Schönheit hervorbringt ("Seiobo auf Erden").
Der Melancholie konnten seine sehnsüchtigen, gegen die heimatliche Armut und Verrohung aufbegehrenden Reisenden in ihren "meisterlich besohlten Schnürstiefeln" jedoch nicht entkommen - je weiter sie sich von zu Hause entfernten, desto höhnischer grinste sie auf Bildern und aus der Menschenmenge heraus jene dämonische Fratze an, die Krasznahorkai schon in seinem Debüt "Satanstango" beschworen hatte. "Ich kann unglückseligerweise diese ungarische Erde nie verlieren - egal, wo ich bin", stellte er während der Arbeit an seinem neuen Erzählungsband fest. Genau von dieser Unmöglichkeit handeln diese meisterhaften und poetischen Geschichten.
Statt "Die Welt voran" könnte der Band auch "In der Welt verloren" heißen, denn wo der reisende Erzähler hinwill, was er sucht und warum er dort ist, wo er schließlich landet, das weiß er nicht. Auffallend oft findet er sich an Orten wieder, an denen Menschen nicht vorgesehen sind, auf Autobahnkreuzen etwa oder in menschenleerer, kalt abweisender Natur. Schon der Aufbruch wirft ein bezeichnendes Licht auf seine Irrfahrten: Blindlings war er losmarschiert, weil er den morastigen, beunruhigend dunklen Punkt des Raumes, an dem er sich befand, nicht mehr ertragen konnte - war es das elende ungarische Dorf aus seinem ersten Roman "Satanstango"? Von einer schmerzenden, wahnsinnigen Unruhe geschüttelt, sehnt er sich nur nach Ruhe, doch wo er auch hinkommt, sieht er sich von sinn- und ziellosem Gewimmel umgeben. In Indien beneidet er Sterbende um ihr ruhiges Haus ("Ein Tropfen Wasser") oder beobachtet schockiert, dass Arbeiter sich im lebensgefährlichen Staub der Marmorsteinbrüche von Estremoz glücklich fühlen: Sie lieben ihre Schubkarren, nicht das an Marzipan erinnernde Gestein ("Einmal auf der 381").
Besonders erschreckt den Erzähler, dass er, während er seine zwei Koffer von Land zu Land schleppt, überall auf Doppelgänger trifft, auf Flüchtlinge und Heimatlose, die genau wie er selbst für die Einheimischen scheinbar unsichtbar sind. "Irrfahrt im Stehen" heißt diese Parabel, die an Kafkas Tagebuchnotiz über das Leben als "stehenden Sturmlauf" erinnert und zu den eindrucksvollsten Geschichten des Bandes gehört.
Krasznahorkais Erzählen bewegt sich auf der Messerschneide zwischen dem absolut Phantastischen und dem absolut Realen, und auch wenn manch kürzere Geschichte etwas kühl und abstrakt wirkt, weil sie philosophisch-existentiellen Gedanken folgt und dabei fast ohne Erzählfleisch bleibt, so werfen die längeren Stücke den Leser in einen Strudel aus Spannung, Beklemmung und feinsinniger Situationskomik. Eine der schönsten Geschichten ist "El ultimo lobo": Ein gescheiterter Philosophieprofessor erzählt in einer Berliner Billigkneipe einem genervten Barmann von seinem letzten intellektuellen Abenteuer, einer absurden, bedrohlich existentiell werdenden Recherche über ein Wolfsrudel in der spanischen Sierra - der tragische Schluss der Geschichte quält ihn so, dass er ihn jeden Tag umschreibt. "Die Sprache ist unsere Schmutzwäsche", denkt der Professor, weil "keineswegs der Zufall mit seiner ungeheuren, unerschöpflichen, triumphalen, unbesiegbaren Kraft" die Dinge hervorbringt, sondern tief im Gewebe der Zustände zwischen den Dingen eine dämonische Absicht verankert ist, die alles mit ihrem Gestank erfüllt.
"Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern" hatte Samuel Beckett von seinen traurigen, listigen und momentweise übermütigen Figuren verlangt - diesem Credo folgen auch die Welterkunder des László Krasznahorkai. Mit stolzer Lakonik verirrt sich ein betrunkener Simultandolmetscher in Schanghai auf einem vierstöckigen Autobahnkreuz, und während er jedes Zeitgefühl verliert, erkennt er im gleichmäßigen Rauschen ringsum den lebenslang ersehnten Wasserfall, den er - wie er in diesem Moment mit melancholisch-klarem Blick sieht - nie besuchen wird. Gerade in ihrer Tragik sind diese Geschichten schwebend leicht und von Heiterkeit erfüllt, besonders dann, wenn der Erzähler leidenschaftlich und empört von seiner Traurigkeit erzählt. Heike Flemming hat diesen überbordenden Furor wunderbar musikalisch übersetzt.
Mit dem Wal, so erklärt ein Schriftsteller seinem Auditorium, habe diese Traurigkeit angefangen, sie sei verführerisch wie Honig und beherrsche ihn noch immer. Als Kind hat er das riesige, stinkende Tier auf einem Lastwagen ausgestellt gesehen, Bote und Botschaft in einem, und mit ihm begann in dem ungarischen Städtchen der sechziger Jahre die Hölle, die er in einem Roman ("Melancholie des Widerstandes") beschrieben hat. Aber das sei eine Lüge gewesen, denn er habe damals nicht wissen können, was die Hölle sei - markiert der Moment, wie er dort am Kopf des Kadavers stand, doch erst den "Nullpunkt des Verstehens" ("Die Theseus-Allgemeine"). Diese Sekunde, berichtet das Alter Ego des Autors, wird zum inneren Schwungrad seines Schreibens und lässt ihn unermüdlich "der Achse der Welt" nachspüren, die sich zwischen den Erzählungssammlungen "Seiobo auf Erden" (2010) und jetzt "Die Welt voran" aber merklich verschoben hat: Jene aus Strenge und Erschöpfung geborene Schönheit hat nicht nur ihre tröstende, sondern auch ihre verstörende Kraft verloren - von beidem bleibt nur eine Ahnung, "als würde eine Schwalbe hinter dem Rücken im Sturzflug herabschießen ... Wenn der Betreffende den Kopf nach hinten reißt, ist sie schon nicht mehr da."
Vielleicht hat sich nur Jorge Luis Borges so konsequent an die tiefsten Fragen gewagt - er schwebt wie ein Schutzheiliger über diesen Geschichten, in denen der Erzähler sich bescheiden zurücknimmt zugunsten der Ungeheuerlichkeiten, von denen er zu berichten hat. Wie in einem Fiebertraum ist alles, was er betrachtet, groß und klein, deutlich und undeutlich zugleich, und nichts scheint sicher, weder das Ich noch die Gegenwart, von der Vergangenheit ganz zu schweigen. "Ich brauche nichts von hier", behauptet der Erzähler im letzten Text, der fast ein Prosagedicht ist - und eine Liebeserklärung an die brüchige Welt.
NICOLE HENNEBERG
László Krasznahorkai: "Die Welt voran". Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 407 S., geb., 21,99 [Euro].
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