An keinem Teil seines Werks lag Albert Schweitzer mehr als an seinem Beitrag zur Philosophie. Doch die ihm gebührende Wirkung mußte ausbleiben, weil nach seinen beiden philosophischen Büchern von 1923, der Kulturkritik (Kulturphilosophie I) und der Ethik (Kulturphilosophie II) - heute zusammengefaßt unter dem Titel `Kultur und Ethik` -, kein weiteres mehr erschien. Hier wird aus dem Nachlaß die Fortsetzung veröffentlicht, an der Albert Schweitzer 14 Jahre lang, von 1931 - 1945, gearbeitet hat. Der Leser kann jetzt die Linien des Schweitzerischen Denkens über die Erstlingsschriften hinaus verfolgen. Sichtbar wird dabei der eindrucksvolle Versuch, die Ethik zu einer `Weltphilosophie`, zu einer quer durch die Kulturen akzeptierbaren Deutung von Leben und Kosmos auszubauen. Albert Schweitzer wird spätestens mit dieser Veröffentlichung als bedeutender Philosoph unseres Jahrhunderts erkennbar - in einem Werk von überraschender Aktualität.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungJa, ja, die Musik
Albert Schweitzers Grammatik der Zustimmung
Es gibt Bücher, bei denen sollte es wohl sein, daß sie unvollendet liegenblieben, nicht zu einer endgültigen Fassung ausgeformt wurden. Albert Schweitzers Kulturphilosophie III mit dem Titel "Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben", deren dritter und vierter Teil nun erschienen ist, gehört dazu. Claus Günzler und Johann Zürcher haben das herausgegeben, was den Abschluß des philosophischen Werkes von Albert Schweitzer bilden sollte. Wann die Arbeit daran aufgegeben wurde, muß vorerst unklar bleiben. Noch 1962 ermahnt sich der Siebenundachtzigjährige: "Dies ist die letzte Aufgabe, der ich mich widmen muß." Doch schon 1945, nachdem das Gros der Arbeit getan ist, gesteht er sich selbst ein: "Daß mein Buch etwas chaotisch ist, liegt in der Schwierigkeit des gewaltigen Stoffes. Mögen ihn andere einmal besser zu meistern verstehen."
Was nun aus dem Nachlaß ediert wurde, ist eine Sammlung von immer neuen Versuchen Schweitzers, seines großen Themas Herr zu werden. In einer Vielzahl von Entwürfen, Einleitungen, historischen Exkursen bemüht er sich um die Ausformung einer Ethik, die völkerübergreifend als Leitfaden für eine humanere Welt dienen könnte. Schweitzers Denken hat seinen Ausgangspunkt im Menschen. Mehrfach setzt er sich gegen die Vorstellung zur Wehr, ein voraussetzungsloses Denken könne aus der Anschauung der Welt eine Lebensanschauung gewinnen. Im Gegenteil bringe jeder Mensch zum Denken das bereits mit, was in seinem Wesen gegeben ist. Man umgebe eine Lebensanschauung, die man in sich trage, mit einer Anschauung von der Welt.
Der zentrale Begriff, den Schweitzer in diesem Zusammenhang prägt, ist die "ethische Lebens- und Weltbejahung". Ausgehend von der Feststellung, daß die Lebensbejahung, der Wille zum Leben, jedem Menschen von Natur aus mitgegeben sei, folgert er, daß die Lebensanschauung unmittelbar aus diesem Willen zum Leben gegeben sei und sich in ihm entwickele. Das in uns befindliche Wissen um den Wert des Lebens aber nötige uns zu der Erkenntnis, daß es unsere Aufgabe sei, für uns selbst und andere die besten materiellen und geistigen Lebensbedingungen zu schaffen. Schweitzer folgert: "Lebens- und Weltbejahung kann nicht ohne Wirken sein." Ethisches Verhalten gründe in dieser naturhaft gegebenen Lebens- und Weltbejahung und werde durch zwei Motive bestimmt: einerseits durch Hingabe an die andere Kreatur, andererseits durch das eigene, innerliche Vollkommenerwerden. Nur eine Ethik, in der beides vorhanden ist, sei tief und lebendig. Durch religionskundliche Exkurse untermauert Schweitzer seine These, eine Lebens- und Weltverneinung könne kein ethisches Verhalten zur Folge haben, weil sie zwar möglicherweise zur eigenen, inneren Vervollkommnung dienen könne, Hingabe an die andere Kreatur aber ausschließe.
Es ist offensichtlich, daß diese Grundlegung der in Lambarene zu Papier gebrachten Ethik stark autobiographisch beeinflußt ist, und es ist ebenso offensichtlich, daß das Konstrukt einer aus einem Naturgesetz sich gewissermaßen automatisch entwickelnden Humanität angesichts allgegenwärtiger gegenteiliger faktischer Evidenz höchst anfechtbar ist. Es begründet die methodische Schwäche seiner Philosophie, daß die Humanität als Programm hinter ihr steht und sie vorantreibt. Aber genau dies ist auch die Stärke dieser Schriften, die sich einprägen als geradezu verzweifelte Versuche, inmitten der Greuel des Zweiten Weltkrieges Wege zu einer neuen sittlichen Ordnung zu weisen. "Auf einem nicht mehr steuerbaren Schiff treiben wir im Sturm dahin": Dieser Satz verdeutlicht, woher Schweitzer die Kraft zum Philosophieren nahm. Der Musiker und Bach-Biograph klagt: "Die Musik Beethovens und Bachs gehört uns nicht mehr. Was ihnen Überzeugung war, ist uns Phrase geworden." "Diejenigen, die in gesicherten Verhältnissen leben, sind selten geworden": Schweitzers Ethik ist ein Aufruf zur guten Tat.
Die Idee einer angeborenen Lebens- und Weltbejahung schien Schweitzer den Weg aus einem Dilemma zu weisen, das mit den Entdeckungen von Kepler, Kopernikus und Galilei entstanden war. Wer die Ethik aus der Anschauung der Welt begründen will, braucht den Menschen im Mittelpunkt der Schöpfung. Diese Positionierung aber war nun fragwürdig geworden. "Wie konnte es kommen", fragt Schweitzer, "daß uns die Geltung der ethischen Ideale fraglich wurde?" Und er antwortet: "Dies trat ein, weil das Denken in die Lage kam, sie nicht mehr in überzeugender Weise begründen zu können." Die Grundlage der Ethik sucht Schweitzer deshalb innerhalb, nicht außerhalb des Menschen. Das Ethische gehöre zu den natürlichen Regungen des Menschen, gehe aber über das nur Natürliche hinaus, mit dem es in ständiger Spannung lebe. Diese Spannung könne nur von einem Denken aufgelöst werden, welches erkennt, daß eine ethische Lebensanschauung deshalb vernunftgemäß ist, weil sie in bezug auf des menschliche Dasein etwas Zweckmäßiges verwirklichen will. Genau dies Vernunftgemäße aber gehe den biologistischen Entwürfen Spencers, der biologischen Romantik Bergsons, dem Übermenschen-Gerede Nietzsches ab.
Schweitzer hat beobachtet, wie aus der Begeisterung der Champagnerzirkel für die Philosophie Nietzsches und die Idee der natürlichen Auslese der Schwachen blutiger Ernst wurde. Seine Kulturphilosophie ist in ihrem Idealismus eher leidenschaftliche, nachdrückliche Mahnung als rundum tragfähiges Gedankengebäude. Insofern hat sie als die Ansammlung von Entwürfen, Notizen und Endfassungsfragmenten, die sie ist, nun die ihr angemessene, endgültige Form gefunden.
MICHAEL GASSMANN
Albert Schweitzer: "Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben". Kulturphilosophie III. Dritter und vierter Teil. Hrsg. von Claus Günzler und Johann Zürcher. Werke aus dem Nachlaß. Verlag C. H. Beck, München 2000. 504 S., geb., 118,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Albert Schweitzers Grammatik der Zustimmung
Es gibt Bücher, bei denen sollte es wohl sein, daß sie unvollendet liegenblieben, nicht zu einer endgültigen Fassung ausgeformt wurden. Albert Schweitzers Kulturphilosophie III mit dem Titel "Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben", deren dritter und vierter Teil nun erschienen ist, gehört dazu. Claus Günzler und Johann Zürcher haben das herausgegeben, was den Abschluß des philosophischen Werkes von Albert Schweitzer bilden sollte. Wann die Arbeit daran aufgegeben wurde, muß vorerst unklar bleiben. Noch 1962 ermahnt sich der Siebenundachtzigjährige: "Dies ist die letzte Aufgabe, der ich mich widmen muß." Doch schon 1945, nachdem das Gros der Arbeit getan ist, gesteht er sich selbst ein: "Daß mein Buch etwas chaotisch ist, liegt in der Schwierigkeit des gewaltigen Stoffes. Mögen ihn andere einmal besser zu meistern verstehen."
Was nun aus dem Nachlaß ediert wurde, ist eine Sammlung von immer neuen Versuchen Schweitzers, seines großen Themas Herr zu werden. In einer Vielzahl von Entwürfen, Einleitungen, historischen Exkursen bemüht er sich um die Ausformung einer Ethik, die völkerübergreifend als Leitfaden für eine humanere Welt dienen könnte. Schweitzers Denken hat seinen Ausgangspunkt im Menschen. Mehrfach setzt er sich gegen die Vorstellung zur Wehr, ein voraussetzungsloses Denken könne aus der Anschauung der Welt eine Lebensanschauung gewinnen. Im Gegenteil bringe jeder Mensch zum Denken das bereits mit, was in seinem Wesen gegeben ist. Man umgebe eine Lebensanschauung, die man in sich trage, mit einer Anschauung von der Welt.
Der zentrale Begriff, den Schweitzer in diesem Zusammenhang prägt, ist die "ethische Lebens- und Weltbejahung". Ausgehend von der Feststellung, daß die Lebensbejahung, der Wille zum Leben, jedem Menschen von Natur aus mitgegeben sei, folgert er, daß die Lebensanschauung unmittelbar aus diesem Willen zum Leben gegeben sei und sich in ihm entwickele. Das in uns befindliche Wissen um den Wert des Lebens aber nötige uns zu der Erkenntnis, daß es unsere Aufgabe sei, für uns selbst und andere die besten materiellen und geistigen Lebensbedingungen zu schaffen. Schweitzer folgert: "Lebens- und Weltbejahung kann nicht ohne Wirken sein." Ethisches Verhalten gründe in dieser naturhaft gegebenen Lebens- und Weltbejahung und werde durch zwei Motive bestimmt: einerseits durch Hingabe an die andere Kreatur, andererseits durch das eigene, innerliche Vollkommenerwerden. Nur eine Ethik, in der beides vorhanden ist, sei tief und lebendig. Durch religionskundliche Exkurse untermauert Schweitzer seine These, eine Lebens- und Weltverneinung könne kein ethisches Verhalten zur Folge haben, weil sie zwar möglicherweise zur eigenen, inneren Vervollkommnung dienen könne, Hingabe an die andere Kreatur aber ausschließe.
Es ist offensichtlich, daß diese Grundlegung der in Lambarene zu Papier gebrachten Ethik stark autobiographisch beeinflußt ist, und es ist ebenso offensichtlich, daß das Konstrukt einer aus einem Naturgesetz sich gewissermaßen automatisch entwickelnden Humanität angesichts allgegenwärtiger gegenteiliger faktischer Evidenz höchst anfechtbar ist. Es begründet die methodische Schwäche seiner Philosophie, daß die Humanität als Programm hinter ihr steht und sie vorantreibt. Aber genau dies ist auch die Stärke dieser Schriften, die sich einprägen als geradezu verzweifelte Versuche, inmitten der Greuel des Zweiten Weltkrieges Wege zu einer neuen sittlichen Ordnung zu weisen. "Auf einem nicht mehr steuerbaren Schiff treiben wir im Sturm dahin": Dieser Satz verdeutlicht, woher Schweitzer die Kraft zum Philosophieren nahm. Der Musiker und Bach-Biograph klagt: "Die Musik Beethovens und Bachs gehört uns nicht mehr. Was ihnen Überzeugung war, ist uns Phrase geworden." "Diejenigen, die in gesicherten Verhältnissen leben, sind selten geworden": Schweitzers Ethik ist ein Aufruf zur guten Tat.
Die Idee einer angeborenen Lebens- und Weltbejahung schien Schweitzer den Weg aus einem Dilemma zu weisen, das mit den Entdeckungen von Kepler, Kopernikus und Galilei entstanden war. Wer die Ethik aus der Anschauung der Welt begründen will, braucht den Menschen im Mittelpunkt der Schöpfung. Diese Positionierung aber war nun fragwürdig geworden. "Wie konnte es kommen", fragt Schweitzer, "daß uns die Geltung der ethischen Ideale fraglich wurde?" Und er antwortet: "Dies trat ein, weil das Denken in die Lage kam, sie nicht mehr in überzeugender Weise begründen zu können." Die Grundlage der Ethik sucht Schweitzer deshalb innerhalb, nicht außerhalb des Menschen. Das Ethische gehöre zu den natürlichen Regungen des Menschen, gehe aber über das nur Natürliche hinaus, mit dem es in ständiger Spannung lebe. Diese Spannung könne nur von einem Denken aufgelöst werden, welches erkennt, daß eine ethische Lebensanschauung deshalb vernunftgemäß ist, weil sie in bezug auf des menschliche Dasein etwas Zweckmäßiges verwirklichen will. Genau dies Vernunftgemäße aber gehe den biologistischen Entwürfen Spencers, der biologischen Romantik Bergsons, dem Übermenschen-Gerede Nietzsches ab.
Schweitzer hat beobachtet, wie aus der Begeisterung der Champagnerzirkel für die Philosophie Nietzsches und die Idee der natürlichen Auslese der Schwachen blutiger Ernst wurde. Seine Kulturphilosophie ist in ihrem Idealismus eher leidenschaftliche, nachdrückliche Mahnung als rundum tragfähiges Gedankengebäude. Insofern hat sie als die Ansammlung von Entwürfen, Notizen und Endfassungsfragmenten, die sie ist, nun die ihr angemessene, endgültige Form gefunden.
MICHAEL GASSMANN
Albert Schweitzer: "Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben". Kulturphilosophie III. Dritter und vierter Teil. Hrsg. von Claus Günzler und Johann Zürcher. Werke aus dem Nachlaß. Verlag C. H. Beck, München 2000. 504 S., geb., 118,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Albert Schweitzers Kulturphilosophie, deren dritter Teil nun in Form von Fragmenten aus dem Nachlass erstmals veröffentlicht wird, ist als neuer weltanschaulicher Entwurf aus systematischen Gründen, wie der Rezensent Niklaus Peter findet, gescheitert, allerdings auf hohem Niveau. Seinen weltanschaulichen Ausgangspunkt formuliert Schweitzer so: "Sinnloses in Sinnvollem, Grausiges in Herrlichem: Das ist die Welt" - nur finde er von dort, so Peter, nicht den Weg zur Neubegründung der Ethik auf Grundlage der "geheimnisvollen Verbundenheit allen Lebens". Der Fragmentcharakter macht die Bände zu einer "nicht ganz einfachen Lektüre", so Peter, aber als Auseinandersetzung mit Nietzsches Lebensphilosophie lohnen die Texte ihrer "Redlichkeit und Wahrnehmungsgenauigkeit", ihrer "intellektuellen Furcht- und Rücksichtslosigkeit" wegen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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