Rudolf von Ems war ein Bestsellerautor des Mittelalters und seine „Weltchronik“ gehört zu den oft kopierten profanen Texten seiner Zeit. Die neben dem Codex Manesse in der Vadianischen Sammlung St. Gallen verwahrte Version ist eine der bedeutendsten Handschriften des Hochmittelalters, wenn auch
nicht die vollständigste „Weltchronik“. Beide Codices werden aus konservatorischen Gründen in der Regel…mehrRudolf von Ems war ein Bestsellerautor des Mittelalters und seine „Weltchronik“ gehört zu den oft kopierten profanen Texten seiner Zeit. Die neben dem Codex Manesse in der Vadianischen Sammlung St. Gallen verwahrte Version ist eine der bedeutendsten Handschriften des Hochmittelalters, wenn auch nicht die vollständigste „Weltchronik“. Beide Codices werden aus konservatorischen Gründen in der Regel nicht öffentlich gezeigt. Letztmalig im Jahr 1980 wurde von der Weltchronik ein aufwendig produziertes und fachkundig kommentiertes Faksimile hergestellt. Die hier vorliegende Publikation setzt mit der technischen Reproduktion Maßstäbe und vermittelt neue Aspekte, ermöglicht durch interdisziplinäre, zerstörungsfreie materialtechnische Untersuchungen. Insbesondere die Herstellungsweise der Handschrift, die involvierten Spezialisten, ihre Arbeitstechniken und die Zusammensetzung der verwendeten Materialien wird hier erstmals im Detail beschrieben, was auch neue Schlussfolgerungen erlaubt.
Die vollständig faksimilierten Miniaturen nutzen bewusst keinen Goldfoliendruck wie in der Ausgabe 1980, sondern eine aufwendige Fototechnik, die sowohl die korrekte Goldfarbe als auch die dreidimensionale Struktur der oft kissenartig aufgebauten Goldpartien wiedergibt. Alle Miniaturenseiten wurden um etwa 5 % verkleinert, was durch zahlreiche Makro- und Mikrofotos von relevanten Details kompensiert wird. Im Gegensatz zur kostspieligen Ausgabe von 1980 ist dieses Faksimile an eine breite Öffentlichkeit gerichtet, ermöglicht durch großzügige finanzielle Förderung verschiedener Institutionen. Der Text wurde allerdings nicht mit faksimiliert und wird nur in Teilen transkribiert und in heutiges Deutsch übertragen.
Rudolfs „Weltchronik“ ist ganz dem mittelalterlichen Denken verhaftet. Er beschreibt - eng am Text der Bibel und einiger mittelalterlicher Sekundärquellen orientiert - den göttlichen Schöpfungsakt und „dokumentiert“ die Weltgeschichte bis Salomo, dann bricht die Dichtung ab. Schon die Zeitgenossen haben den Text von fremder Hand vollendet, teilweise bis in die eigene Gegenwart. Im Fall der Vadiana-Handschrift wurde der Text durch die hier ebenfalls faksimilierte „historische“ Karlslegende des sogenannten Strickers ergänzt, um 1300 ein höfischer Bestseller. Inhaltlich schließt sich dieser Text insofern an die Weltchronik an, als dass Karl sich, von Gott zum Herrscher erwählt, quasi nahtlos an die Reihe der jüdischen Könige einfügt.
Die Vadiana-Handschrift ist insbesondere zu Beginn unvollständig und es fehlen auch im weiteren Text einige Seiten, deren Inhalt allerdings aus andere Quellen rekonstruierbar ist. Die Autoren stellen sogar Vermutungen zu den wahrscheinlich eingebundenen Miniaturen an. Sehr ausführlich und auch für Laien anschaulich werden die materialwissenschaftlichen Untersuchungen beschrieben, die u. a. Rückschlüsse auf die beteiligten Handwerke, sowie die eingesetzten Mal- und Rubriziertechniken zulassen. Es sind mehrere Hände zu unterscheiden, sowohl bei den Vorzeichnungen als auch bei den Ausführungen der Miniaturen. Das gleiche gilt für die Schreiber. Etwas unglücklich, weil weitgehend spekulativ, sind die manchmal ausufernden Gedanken zur Organisation und Identität der Zürcher Werkstatt (gab es sie überhaupt als einen lokalisierbaren Ort?), sowie der beteiligten Handwerker und Stifter. Es ist leider unter einigen Kunsthistorikern und -historikerinnen immer noch gerne geübte Praxis, eine plakative Behauptung an Stelle des Beweises zu setzen, was auch hier öfter passiert. Man kann z. B. Personen nicht aufgrund einer (Vor)Namensgleichheit als „möglicherweise identifiziert“ bezeichnen.
Interessant sind die Ausführungen zur Zürcher Gesellschaft um 1300, die ein selbstbewusstes Bürgertum erkennen lassen, in dessen Kontext auch die Herstellung der Handschrift vermutet wird.
Der größte Abschnitt ist die „Nacherzählung“ der Weltchronik mit sämtlichen faksimilierten Miniaturen und zahlreichen Vergrößerungen. Ausführlich wird die Ikonografie entschlüsselt und das Bildmaterial mit Vergleichsquellen verglichen. Die Zusammenfassung des Textes enthält auch grundlegende theologische Interpretationen.
Die „Weltchronik“ ist selber ein Stück Weltgeschichte, das in prächtiger Erhaltung und außergewöhnlicher malerischer Qualität die Menschen über 800 Jahre lang fasziniert hat. Dass es immer noch Neues zu entdecken gibt, ist dabei mindestens so erstaunlich, wie die Tatsache, dass dieses Buch, wenn auch fragmentarisch, bis in unsere Zeit erhalten blieb.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)