Als René Descartes im 17. Jahrhundert die Erkenntnistheorie neu erfand, revolutionierte er mehr als eine philosophische Disziplin. Er begründete ein Denkschema, das das metaphysische und ethische Selbstverständnis der westlichen Moderne umfassend geprägt hat und uns - so Hubert Dreyfus und Charles Taylor - bis heute beherrscht. Da es aber auf falschen Voraussetzungen ruht, muss es final dekonstruiert werden. Dies ist das Ziel ihres Buches.Dazu gilt es, Descartes' wirkmächtigste Idee vom Tisch zu nehmen. Sie lautet, dass wir nie in direkten Kontakt mit der Außenwelt treten, sondern stets vermittelt durch Vorstellungen in unserem Geist. Dreyfus und Taylor zeigen, dass diese Idee bis in die Gegenwart überlebt hat, sogar bei den Philosophen, die behaupten, sie überwunden zu haben. Und sie entwickeln eine Alternative in Rückbesinnung auf eine Traditionslinie, die von Aristoteles bis zu Heidegger und Merleau-Ponty reicht.Anhand von Begriffen wie Dasein, Zeitlichkeit und Verkörperung skizzieren sie ein radikal neues Paradigma, das den Menschen als immer schon in direktem Kontakt mit der Welt begreift: einen robusten pluralen Realismus, der auch in ethisch-politischer Hinsicht einheitsstiftende Kraft hat. Es ist der endgültige Abschied von Descartes - souverän inszeniert von zwei der bedeutendsten Denker unserer Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2016Kant oder die Kunst des Motorradfahrens
Wege aus der Einlullung: Wie Hubert Dreyfus, Charles Taylor und Matthew B. Crawford die Wirklichkeit wiedergewinnen wollen
Ein prominenter Hirnforscher begann eines seiner Bücher mit der Frage: Wie kommt die Welt eigentlich in den Kopf? Die Auflösung folgte auf dem Fuß: Die Welt komme gar nicht in den Kopf, sie sei vielmehr immer schon in ihm drin. Der Kopf meinte hier natürlich das Gehirn, verstanden als Organ der Weltkonstitution. Nur durch seine vermittelnde Tätigkeit kommen wir schließlich zu einem Bild der Welt "draußen". So kann es ausgehen, wenn eine alte philosophische Dichotomie neu eingerichtet wird. Aus dem weiland "Geist" ist dann im Zeichen der Neurowissenschaft das Gehirn geworden. Es sollte zwar eigentlich gut materialistisch den alten Dualismus von Körperwelt und Geist beiseiteräumen, erbt aber bei dieser Umbesetzung bloß die metaphysischen Mucken des Vorgängers.
Insbesondere bleibt dabei eine tief im neuzeitlichen Geschäft der Erkenntnistheorie verankerte Entgegensetzung intakt: die von innen und außen. Von außen kommen als Input diskrete Rohdaten, die im Subjekt zu einer erkennbaren Welt verarbeitet werden. In der klassischen Form sind innen die Ideen am Werk, die für eine Repräsentation sorgen. In modernerer Fassung, nach Kant, werden es dann Anschauungsformen und vor allem Begriffe beziehungsweise Begriffsschemata, meist mit Sprache verknüpft oder eben das Gehirn.
Es ist diese erkenntnistheoretische Topologie von innen und außen, die Charles Taylor und Hubert Dreyfus in ihrem Buch aufs Korn nehmen. Es geht ihnen darum, sie als falsches Bild unseres Weltzugangs vor Augen zu führen, für den es gar keine Überschreitung einer Grenze zwischen innen und außen brauche, an der sich von jeher die Zweifel einnisteten, ob wir denn wirklich an die Welt, wie sie "an sich" ist, herankommen. Wir sind, so lautet die Antwort, vielmehr immer schon im Kontakt mit der Welt; das meint die zum Titel gewordene "Wiedergewinnung des Realismus".
Nun sind diese beiden prominenten Autoren, denen die analytische Philosophie genauso wie die kontinentalen philosophischen Traditionen vertraut sind, nicht die Ersten, die die Erkenntnistheorie implodieren lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sich das Bild einer notwendig über einen solitären Innenraum laufenden Welterfahrung zuverlässig abzugewöhnen: Man kann etwa, um bloß einige innerphilosophische Varianten anzuführen, Hegel lesen oder einen Pragmatiker wie Dewey oder Wittgenstein oder sich auf die Phänomenologie werfen oder sich ansehen, wie es innerhalb der analytischen Tradition - von Quine über Davidson und Putnam bis Rorty (und Taylor selbst miteingeschlossen) - den erkenntnistheoretischen Konstruktionen an den Kragen ging.
Das wissen Taylor und Dreyfus nur zu gut. Doch sie sind der Ansicht, dass uns das alte Bild der Grenzziehung zwischen Subjekt und Welt trotzdem immer noch verfolgt. Ein Bild, das sich in der Tendenz zu antirealistischen Positionen niederschlage (wir wissen nicht, wie die Welt "an sich", ohne unsere unumgänglichen Zutaten, aussieht), die ihrerseits vermeidbare Relativismen beförderten (verschiedene Zutaten führen auf verschiedene "Wahrheiten", zwischen denen sich nicht entscheiden lässt).
Taylor und Dreyfus nehmen insbesondere die Linie von Quine bis Rorty genauer in den Blick, um sie der Restbestände des alten Bilds zu überführen. Dagegen bringen sie als Königsweg die phänomenologische Variante in Stellung: das Subjekt als verkörperter und immer schon durch sein interessiertes Handeln in die Welt verstrickter, also "engagierter" Agent gegen das abgehobene Subjekt der Erkenntnistheorie, das tendenziell zu seiner Welt kommen soll wie ein distanziert abwägender Methodiker zu seinen Urteilen.
So weit ist das nicht unbedingt originell, wird aber interessant, wenn die beiden Autoren sich daranmachen, den scharfen Schnitt zwischen innen/außen - Begriffen/Sinnesdaten, Welt/Geist, Reich der Gründe/Reich der Ursachen - aufzulösen. Es läuft nicht darauf hinaus, dass wir auf dem Weg der Wissenschaft schlicht der wahren Natur der Dinge auf die Schliche kämen - was bloß das alte Phantasma der absoluten Grundlegung wäre -, sondern auf solide Realitäten im Plural. In einem solchen "robusten" und gleichzeitig pluralen Realismus sehen Taylor und Dreyfus die Möglichkeit, das alte erkenntnistheoretische Bild wirklich hinter sich zu lassen. Oder anders formuliert: die Vorstellung einer Fundamentierung von Erkenntnis in irgendwie gegebenen letzten Elementen loszuwerden, ohne sich dabei antirealistische Tendenzen einzukaufen.
Viel hängt hier davon ab, ob man diese antirealistische Bedrohung so ernst nimmt wie die Autoren (wozu der Rezensent nicht neigt). Wenn es um das von ihnen attackierte Bild des vermittlungsgebundenen Weltzugangs geht, ist bei Taylor und Dreyfus von einem "gewaltigen Irrtum" die Rede, der "auf vielen Gebieten unheilvolle Auswirkungen auf Theorie und Praxis nach sich gezogen" habe; obwohl von diesen Auswirkungen dann, abgesehen von dem bei Dreyfus erwartbaren Hinweis auf das in vieler Hinsicht in die Irre führende Computerbild des Geistes, wenig mehr zu lesen ist.
Da ist Matthew Crawford ein anderes Kaliber. Der Philosoph und Motorradbauer, der mit seinem Buch "Ich schraube, also bin ich" auch hierzulande einem größeren Publikum bekannt wurde, visiert ganz entschieden an, warum wir eine Wiedergewinnung der Wirklichkeit nötig haben. Nämlich weil uns die konkreten, widerständigen Dinge genauso wie die leibhaftigen Menschen hinter Repräsentationen von Dingen, Sachverhalten und Menschen zusehends abhandenkämen.
Wir werden, so seine Diagnose, von einer widerständigen, unsere Aufmerksamkeit fordernden Wirklichkeit fortwährend abgelenkt, um uns stattdessen vermittelten, nicht zuletzt auch elektronisch hergestellten Wirklichkeiten zu widmen, die mit weitgehender Kontrolle locken. Wirklichkeiten, die uns nicht wirklich Konzentriertheit abverlangen, das auch gar nicht tun sollen, denn letztlich geht es darum, uns einzulullen und dabei als Konsumenten in die Pflicht zu nehmen. Denn die zweiten Wirklichkeiten aller Art sind für ihre Entwickler profitabel, weil sie unsere beschränkte Ressource Aufmerksamkeit anzapfen, um sie direkt oder indirekt - Stichwort Informationswirtschaft - in Profit zu verwandeln.
Die Diagnose selbst mag nicht überraschen. Aber abgesehen davon, dass Crawford mit ihr auch beachtliche Beschreibungen verknüpft - etwa des Designs von Spielautomaten, um Spieler an sie zu binden -, sind diese bei ihm auch der Ansatzpunkt einer Wendung in grundsätzliche Überlegungen über die mit diesen Entwicklungen verknüpften Verluste und darüber, wie die "erste" Wirklichkeit wieder in ihre Rechte eingesetzt werden könnte. In seinen Augen braucht es dazu nämlich nicht weniger als die Revision wesentlicher Züge des westlichen Menschenbilds.
Schön, wenn jemand "das" westliche Menschenbild kennt, wird man vielleicht sagen. Aber Crawford hat tatsächlich tief liegende Züge im Blick. Wie Taylor und Dreyfus, deren Debattenbeiträge er kennt, nimmt er damit das freischwebende, solitäre Subjekt der neuzeitlichen Erkenntnistheorie aufs Korn, das sich Repräsentationen der Welt konfektioniert. Doch noch viel forscher als seine beiden prominenten Kollegen ist ihm auch das autonome Subjekt, das die Philosophen aufbrachten, bloß ein ideologischer Trug, den es im Lichte des Lebens, das wir heutzutage führen, endgültig aufzulösen gelte. Die eine wie die andere Vorstellung ist für ihn bloß eine Kontrollphantasie, mit der wir uns über unser wirkliches Weltverhältnis täuschen und über unsere realen Abhängigkeiten getäuscht werden.
Um das vor Augen zu rücken, folgt Crawford zuerst einmal dem auch schon von Taylor und Dreyfus gewiesenen Weg, um uns immer schon mit der Welt, also den Dingen, im Handgemenge zu zeigen, bloß viel konkreter. Wie etwa der Koch in seiner Küche oder ein Motorradrennfahrer, der seine Maschine zur Erweiterung seines Körpers macht; beiden Exempeln widmet er sich eingehend. Während der Orgelbauer, dem der ganze letzte Abschnitt gewidmet ist, besonders klarmachen soll, dass in vielen Artefakten eine ganze Geschichte von Problemlösungen gespeichert ist, die es erst einmal bescheiden als Ausgangspunkt anzuerkennen gilt. Womit dieser Instrumentenbauer bloß auf gediegene Art gegenüber seinen Vorgängern zum Ausdruck bringt, was grundsätzlich für jeden von uns gilt - dass wir nämlich immer schon mit einer Welt zu tun haben, in der sehr viel für uns vorgegeben ist.
Was dabei insgesamt herauskommt, ist eine ungewöhnliche Verschränkung von Rekursen auf philosophische Analysen, beherzter Ideologiekritik und therapeutischem Impetus. Crawford läuft viele offene Türen ein: Wer nimmt denn das vollkommen selbstbestimmte Individuum wirklich zum Nennwert? Oder bestreitet im Ernst, dass wir uns den widerständigen Dingen anschmiegen müssen, um sie zu handhaben? Und gediegenes Handwerk als Weg zu einer vermeintlich verlorenen handfesten Wirklichkeit - man muss da gleich an Richard Sennetts einschlägige Beschwörungen denken - ist auch nicht gerade, der Autor weiß es selbst, ein großartiger Wink. Banker wird Winzer, das hat Hollywood schon drauf. Trotzdem ist das Buch, schon weil es zwischen sonst voneinander geschiedenen Genres und Preisklassen des Büchermarkts schwebt, über weite Strecken anregend zu lesen.
HELMUT MAYER
Hubert Dreyfus und Charles Taylor: "Die Wiedergewinnung des Realismus".
Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
316 S., geb., 29,95 [Euro].
Matthew B. Crawford:
"Die Wiedergewinnung des Wirklichen". Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer.
Ullstein Verlag, Berlin 2016. 429 S., geb., 24,- [Euro].
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Wege aus der Einlullung: Wie Hubert Dreyfus, Charles Taylor und Matthew B. Crawford die Wirklichkeit wiedergewinnen wollen
Ein prominenter Hirnforscher begann eines seiner Bücher mit der Frage: Wie kommt die Welt eigentlich in den Kopf? Die Auflösung folgte auf dem Fuß: Die Welt komme gar nicht in den Kopf, sie sei vielmehr immer schon in ihm drin. Der Kopf meinte hier natürlich das Gehirn, verstanden als Organ der Weltkonstitution. Nur durch seine vermittelnde Tätigkeit kommen wir schließlich zu einem Bild der Welt "draußen". So kann es ausgehen, wenn eine alte philosophische Dichotomie neu eingerichtet wird. Aus dem weiland "Geist" ist dann im Zeichen der Neurowissenschaft das Gehirn geworden. Es sollte zwar eigentlich gut materialistisch den alten Dualismus von Körperwelt und Geist beiseiteräumen, erbt aber bei dieser Umbesetzung bloß die metaphysischen Mucken des Vorgängers.
Insbesondere bleibt dabei eine tief im neuzeitlichen Geschäft der Erkenntnistheorie verankerte Entgegensetzung intakt: die von innen und außen. Von außen kommen als Input diskrete Rohdaten, die im Subjekt zu einer erkennbaren Welt verarbeitet werden. In der klassischen Form sind innen die Ideen am Werk, die für eine Repräsentation sorgen. In modernerer Fassung, nach Kant, werden es dann Anschauungsformen und vor allem Begriffe beziehungsweise Begriffsschemata, meist mit Sprache verknüpft oder eben das Gehirn.
Es ist diese erkenntnistheoretische Topologie von innen und außen, die Charles Taylor und Hubert Dreyfus in ihrem Buch aufs Korn nehmen. Es geht ihnen darum, sie als falsches Bild unseres Weltzugangs vor Augen zu führen, für den es gar keine Überschreitung einer Grenze zwischen innen und außen brauche, an der sich von jeher die Zweifel einnisteten, ob wir denn wirklich an die Welt, wie sie "an sich" ist, herankommen. Wir sind, so lautet die Antwort, vielmehr immer schon im Kontakt mit der Welt; das meint die zum Titel gewordene "Wiedergewinnung des Realismus".
Nun sind diese beiden prominenten Autoren, denen die analytische Philosophie genauso wie die kontinentalen philosophischen Traditionen vertraut sind, nicht die Ersten, die die Erkenntnistheorie implodieren lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sich das Bild einer notwendig über einen solitären Innenraum laufenden Welterfahrung zuverlässig abzugewöhnen: Man kann etwa, um bloß einige innerphilosophische Varianten anzuführen, Hegel lesen oder einen Pragmatiker wie Dewey oder Wittgenstein oder sich auf die Phänomenologie werfen oder sich ansehen, wie es innerhalb der analytischen Tradition - von Quine über Davidson und Putnam bis Rorty (und Taylor selbst miteingeschlossen) - den erkenntnistheoretischen Konstruktionen an den Kragen ging.
Das wissen Taylor und Dreyfus nur zu gut. Doch sie sind der Ansicht, dass uns das alte Bild der Grenzziehung zwischen Subjekt und Welt trotzdem immer noch verfolgt. Ein Bild, das sich in der Tendenz zu antirealistischen Positionen niederschlage (wir wissen nicht, wie die Welt "an sich", ohne unsere unumgänglichen Zutaten, aussieht), die ihrerseits vermeidbare Relativismen beförderten (verschiedene Zutaten führen auf verschiedene "Wahrheiten", zwischen denen sich nicht entscheiden lässt).
Taylor und Dreyfus nehmen insbesondere die Linie von Quine bis Rorty genauer in den Blick, um sie der Restbestände des alten Bilds zu überführen. Dagegen bringen sie als Königsweg die phänomenologische Variante in Stellung: das Subjekt als verkörperter und immer schon durch sein interessiertes Handeln in die Welt verstrickter, also "engagierter" Agent gegen das abgehobene Subjekt der Erkenntnistheorie, das tendenziell zu seiner Welt kommen soll wie ein distanziert abwägender Methodiker zu seinen Urteilen.
So weit ist das nicht unbedingt originell, wird aber interessant, wenn die beiden Autoren sich daranmachen, den scharfen Schnitt zwischen innen/außen - Begriffen/Sinnesdaten, Welt/Geist, Reich der Gründe/Reich der Ursachen - aufzulösen. Es läuft nicht darauf hinaus, dass wir auf dem Weg der Wissenschaft schlicht der wahren Natur der Dinge auf die Schliche kämen - was bloß das alte Phantasma der absoluten Grundlegung wäre -, sondern auf solide Realitäten im Plural. In einem solchen "robusten" und gleichzeitig pluralen Realismus sehen Taylor und Dreyfus die Möglichkeit, das alte erkenntnistheoretische Bild wirklich hinter sich zu lassen. Oder anders formuliert: die Vorstellung einer Fundamentierung von Erkenntnis in irgendwie gegebenen letzten Elementen loszuwerden, ohne sich dabei antirealistische Tendenzen einzukaufen.
Viel hängt hier davon ab, ob man diese antirealistische Bedrohung so ernst nimmt wie die Autoren (wozu der Rezensent nicht neigt). Wenn es um das von ihnen attackierte Bild des vermittlungsgebundenen Weltzugangs geht, ist bei Taylor und Dreyfus von einem "gewaltigen Irrtum" die Rede, der "auf vielen Gebieten unheilvolle Auswirkungen auf Theorie und Praxis nach sich gezogen" habe; obwohl von diesen Auswirkungen dann, abgesehen von dem bei Dreyfus erwartbaren Hinweis auf das in vieler Hinsicht in die Irre führende Computerbild des Geistes, wenig mehr zu lesen ist.
Da ist Matthew Crawford ein anderes Kaliber. Der Philosoph und Motorradbauer, der mit seinem Buch "Ich schraube, also bin ich" auch hierzulande einem größeren Publikum bekannt wurde, visiert ganz entschieden an, warum wir eine Wiedergewinnung der Wirklichkeit nötig haben. Nämlich weil uns die konkreten, widerständigen Dinge genauso wie die leibhaftigen Menschen hinter Repräsentationen von Dingen, Sachverhalten und Menschen zusehends abhandenkämen.
Wir werden, so seine Diagnose, von einer widerständigen, unsere Aufmerksamkeit fordernden Wirklichkeit fortwährend abgelenkt, um uns stattdessen vermittelten, nicht zuletzt auch elektronisch hergestellten Wirklichkeiten zu widmen, die mit weitgehender Kontrolle locken. Wirklichkeiten, die uns nicht wirklich Konzentriertheit abverlangen, das auch gar nicht tun sollen, denn letztlich geht es darum, uns einzulullen und dabei als Konsumenten in die Pflicht zu nehmen. Denn die zweiten Wirklichkeiten aller Art sind für ihre Entwickler profitabel, weil sie unsere beschränkte Ressource Aufmerksamkeit anzapfen, um sie direkt oder indirekt - Stichwort Informationswirtschaft - in Profit zu verwandeln.
Die Diagnose selbst mag nicht überraschen. Aber abgesehen davon, dass Crawford mit ihr auch beachtliche Beschreibungen verknüpft - etwa des Designs von Spielautomaten, um Spieler an sie zu binden -, sind diese bei ihm auch der Ansatzpunkt einer Wendung in grundsätzliche Überlegungen über die mit diesen Entwicklungen verknüpften Verluste und darüber, wie die "erste" Wirklichkeit wieder in ihre Rechte eingesetzt werden könnte. In seinen Augen braucht es dazu nämlich nicht weniger als die Revision wesentlicher Züge des westlichen Menschenbilds.
Schön, wenn jemand "das" westliche Menschenbild kennt, wird man vielleicht sagen. Aber Crawford hat tatsächlich tief liegende Züge im Blick. Wie Taylor und Dreyfus, deren Debattenbeiträge er kennt, nimmt er damit das freischwebende, solitäre Subjekt der neuzeitlichen Erkenntnistheorie aufs Korn, das sich Repräsentationen der Welt konfektioniert. Doch noch viel forscher als seine beiden prominenten Kollegen ist ihm auch das autonome Subjekt, das die Philosophen aufbrachten, bloß ein ideologischer Trug, den es im Lichte des Lebens, das wir heutzutage führen, endgültig aufzulösen gelte. Die eine wie die andere Vorstellung ist für ihn bloß eine Kontrollphantasie, mit der wir uns über unser wirkliches Weltverhältnis täuschen und über unsere realen Abhängigkeiten getäuscht werden.
Um das vor Augen zu rücken, folgt Crawford zuerst einmal dem auch schon von Taylor und Dreyfus gewiesenen Weg, um uns immer schon mit der Welt, also den Dingen, im Handgemenge zu zeigen, bloß viel konkreter. Wie etwa der Koch in seiner Küche oder ein Motorradrennfahrer, der seine Maschine zur Erweiterung seines Körpers macht; beiden Exempeln widmet er sich eingehend. Während der Orgelbauer, dem der ganze letzte Abschnitt gewidmet ist, besonders klarmachen soll, dass in vielen Artefakten eine ganze Geschichte von Problemlösungen gespeichert ist, die es erst einmal bescheiden als Ausgangspunkt anzuerkennen gilt. Womit dieser Instrumentenbauer bloß auf gediegene Art gegenüber seinen Vorgängern zum Ausdruck bringt, was grundsätzlich für jeden von uns gilt - dass wir nämlich immer schon mit einer Welt zu tun haben, in der sehr viel für uns vorgegeben ist.
Was dabei insgesamt herauskommt, ist eine ungewöhnliche Verschränkung von Rekursen auf philosophische Analysen, beherzter Ideologiekritik und therapeutischem Impetus. Crawford läuft viele offene Türen ein: Wer nimmt denn das vollkommen selbstbestimmte Individuum wirklich zum Nennwert? Oder bestreitet im Ernst, dass wir uns den widerständigen Dingen anschmiegen müssen, um sie zu handhaben? Und gediegenes Handwerk als Weg zu einer vermeintlich verlorenen handfesten Wirklichkeit - man muss da gleich an Richard Sennetts einschlägige Beschwörungen denken - ist auch nicht gerade, der Autor weiß es selbst, ein großartiger Wink. Banker wird Winzer, das hat Hollywood schon drauf. Trotzdem ist das Buch, schon weil es zwischen sonst voneinander geschiedenen Genres und Preisklassen des Büchermarkts schwebt, über weite Strecken anregend zu lesen.
HELMUT MAYER
Hubert Dreyfus und Charles Taylor: "Die Wiedergewinnung des Realismus".
Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
316 S., geb., 29,95 [Euro].
Matthew B. Crawford:
"Die Wiedergewinnung des Wirklichen". Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer.
Ullstein Verlag, Berlin 2016. 429 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Helmut Mayer kann sich mit Hubert Dreyfus und Charles Taylor nicht zur Gänze anfreunden. Wie die beiden Autoren versuchen, die erkenntnistheoretische Topologie von innen und außen zu torpedieren, sieht für ihn nach dem sprichwörtlichen Einrennen offener Türen aus. Siehe Hegel, Wittgenstein und die Phänomenologie, meint Mayer. Wenn Dreyfus/Taylor sich auf die Linie von Quine bis Rorty einschießen, um nach Resten des alten Dualismus zu fahnden, findet Mayer das nicht sonderlich originell. Die im Buch entwickelte Idee des pluralen Realismus scheint ihm dementsprechend überflüssig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Mit diesem Buch zeigen Dreyfus und Taylor uns das Bild zweier reifer Denker, die sich auch im hohen Alter noch tadellos im Gelände zwischen künstlicher Intelligenz, Phänomenologie und philosophischer Sparringpartner zurechtfinden.« Alexander Ertl Die Tagespost 20161029