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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Reinbek
  • Erw. Neuausg.
  • Seitenzahl: 599
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 714g
  • ISBN-13: 9783498073008
  • Artikelnr.: 24591364
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.1999

Diogenes auf Gedankenflucht
Oswald Wiener stellt die Bewußtseinsfrage

Oswald Wiener gehört neben Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und H. C. Artmann zum Kern der "Wiener Gruppe", von der lange nur Legenden, ein paar vergriffene Zeugnisse und ein bißchen Sekundärliteratur blieben. Inzwischen ist ihre alte Schärfe in Ausstellungen und Publikationen wieder sichtbar geworden. Das aus Pappschachteln, Fotoalben und Tonträgern hervorgelockte Material aus den Jahren 1953 bis etwa 1966 macht deutlich, weshalb die bisherige Kunst- und Literaturgeschichte mit dieser Gruppe so große Ordnungsschwierigkeiten hatte.

Was sich nämlich hier darbietet, reicht von der dadaistischen Zelebrierung der Beliebigkeit und dem skandalheischenden Happening über surrealistische Spielereien mit dem "hasard objectif" bis zu den strengen Wortkonstellationen der konkreten Dichtung. Diese Arbeiten sind so heterogen wie die Kunst selbst. Sie scheinen hin- und hergerissen zwischen einer ernsthaften Suche nach der Steigerung künstlerischen Erlebens und einer antikünstlerischen Verweigerungsstrategie, die nicht zuletzt als Reaktion auf die repressive Kulturpolitik der österreichischen Nachkriegszeit zu verstehen ist. Offensichtlich ist, daß bei aller Lust am Formulieren von Manifesten kein gemeinsames Programm die Freunde zusammenhielt, sondern, in den Worten Gerhard Rühms, "persönliche Sympathien und wohltuende Übereinstimmung, sonst auf Desinteresse stoßend", eine wütende Entschlossenheit zum Experiment.

Oswald Wiener war letztlich weder zum subversiven Dichter noch künstlerischen Agitator oder Jazztrompeter berufen. Seine theoretische Berufung ließ ihn vielmehr zum Nachfahren des griechischen Wanderphilosophen werden, der mit seinem Lämpchen, suchend und disputierend, von Marktplatz zu Marktplatz weiterzieht. Besaß Konrad Bayer eine bis zur Selbstvernichtung ausgelebte "Tendenz, das Gedachte in Szene zu setzen", so beobachtete Wiener bei sich schon früh die "Flucht in die Theorie, Gedankenflucht". Diese führte ihn über die Entdeckung Wittgensteins zuerst zu einem sprachphilosophischen Kampf gegen die literarische Konvention und schließlich in den Roman "Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman" (1969), eines der beunruhigendsten Dokumente der deutschen Sprache überhaupt.

Die zum großen Teil von Wiener im Selbststudium angeeigneten Wissensgebiete waren auf alle auf der Suche nach dem menschlichen Bewußtsein. Wie treu sich Wiener dabei geblieben ist, macht der "bio-adapter" von 1965/66 deutlich, eine Maschine, die allmählich die körperlichen und geistigen Funktionen des Individuums übernehmen konnte. Zuletzt "ruht nun das bewusstsein, unsterblich, in sich selber und schafft sich vorübergehende gegenstände aus seinen eigenen tiefen", was der "befreiung der philosophie durch technik" gleichkam.

In dem Aufsatz "Eine Art Einzige" von 1982 beschreibt Wiener den Dandy als eine Figur, die ihre Umgebung als mechanisch determiniert versteht, jedoch durch ihre Lebensweise dauernd bemüht ist, die eigene Determiniertheit zu unterlaufen. Monsieur Teste, der Held aus Paul Valérys frühem Werk, stellt das vorläufige "Ende des Dandytums" dar. Wiener bemerkt: "Mit einer denkwürdigen Folgerichtigkeit hat Valéry sein weiteres Leben dazu verwendet, eine mit den Naturwissenschaften verträgliche Beschreibung des Bewußtseins zu suchen." So findet Wiener in Valéry ein Vorbild.

Zu welchen Höhen sich das wissenschaftliche Streben des Dandys erheben kann, bezeugen Wieners neueste Publikationen. Da ist die "Elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen" (1998), in welcher er zusammen mit Manuel Bonik und Robert Hödicke eine Einführung in die Welt der Computersprache bietet. Die gesammelten "Schriften zur Erkenntnistheorie" 1996 wollen hingegen die Modelle der künstlichen Intelligenz mit unserem subjektiven Erleben in Verbindung bringen. Wieners Verdienst ist das Bestehen auf dem wissenschaftlichen Wert der "Selbstbeobachtung". Tatsächlich ist seit den Behavioristen allzuoft das Bewußtsein mit linguistischem und anderem meßbaren Verhalten gleichgesetzt worden, während die "evidence from introspection" als unüberprüfbares Nebengeräusch ignoriert wurde.

Unbestreitbar hat Wiener in den Selbstbelauschungsversuchen ein ungewöhnliches Talent entwickelt, das er nicht nur mit literarischen Vorbildern wie den frühen Surrealisten um Breton oder eben den Dandys teilt, sondern auch mit Wissenschaftlern des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts wie Hermann Helmholtz und dessen "Physiologischer Optik" (1867). Zwar darf Wieners Methode der Selbstbeobachtung - solange unklar bleibt, welche körperliche Instanz hier welche andere beobachtet - höchstens zur Überprüfung von spezialwissenschaftlich entwickelten Modellen dienen. Doch ist der Selbstbeobachtungsansatz nicht nur reich an Möglichkeiten, sondern er bildet auch den eigentlichen Angelpunkt von Wieners wissenschaftlich-künstlichem Weltbild.

Die Selbstbeobachtung soll ihm helfen, auf den Begriff der Kreativität zuzugreifen. Wiener beäugt das Ästhetische aus seinem dreifachen Standpunkt: als avantgardistischer Experimentalist, erkenntnistheoretischer Selbstbeobachter und Dozent für Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf. Was hier gesagt wird, ist vorsichtig, tastend und bisweilen auch widersprüchlich. Zusammen ergeben die Aufsätze eine Lehre der spannungserzeugenden "Verdichtung" von Mustern, eine sanfte, doch gerade am jetzigen Wirkungsort höchst angebrachte Warnung vor banalen und bloß kurzfristig wirkenden Kunsterzeugnissen.

In unserer babylonischen Zeit der Spezialistensprachen und des gegenseitigen Mißverstehens ist eine Figur wie Oswald Wiener eine merkwürdige Erscheinung. Wer Lust hat zu beobachten, wie sich wissenschaftliches und künstlerisches Suchen nach den Regeln des Erlebens in einer differenzierten Prosa gegenseitig inspirieren können, wende sich an diesen Autor.

CHRISTOPH LÜTHY.

"Die Wiener Gruppe, ein Moment der Moderne 1954 bis 1960. Die visuellen Arbeiten und die Aktionen". Herausgegeben von Peter Weibel. Springer Verlag, Wien und New York 1997. Deutsch/englisch mit CD-ROM. 128,- DM.

"Die Wiener Gruppe". Herausgegeben von W. Fath und G. Matt. Wien 1998. 290 Schilling.

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