Was die Wiener Küche ausmacht zeigt Historikerin Ingrid Haslinger anschaulich in Ihrer umfassenden Kulturgeschichte. Sie unterfüttert Ihr Werk mit Zitaten, Fakten und Zahlen ebenso wie mit historischen Abbildungen und nicht zuletzt mit zahlreichen Rezepten. Es waren bürgerliche und kleinbürgerliche Haushalte ebenso wie die Köche der Adeligen, in deren Töpfe die Wiener Bürger mit Vorliebe schielten. Nicht umsonst wurde die Wiener Küche, deren namentliche Geburtsstunde erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schlug, einmal als verbürgerlichte Hofküche bzw. verfeinerte Bauernküche bezeichnet. So gibt es das Kaiserschnitzel neben dem Bauernschmaus, und das über Jahrhunderte aristokratische Brathendel neben dem Gulasch, einer Hirten- und Bauernspeise der ungarischen Tiefebene. Das Buch ist nach den Grund lagen der Wiener Küche sowie nach den Mahlzeiten der Wiener gegliedert. Es enthält Rezepte und Kochanleitungen der für die vielfältige Wiener Küche wichtigsten Speisen, deren Kultur- und Entstehungsgeschichte im Buch behandelt wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2018Ist es der Geist, der sich Zwetschkenknödel baut?
Von Mehlspeisen und sehr viel Rind: Ingrid Haslinger schreibt mit ihrer Kulturgeschichte der Wiener Küche einen etwas voreiligen Nachruf.
Schon einmal hatte der Störenfried (beinah) ganz Wien in Harnisch gebracht. Er hatte die Stirn gehabt, in den Jahren 1909 bis 1911 einen zierlosen, nackten Kasten mitten ins liebliche Barock des altehrwürdigen Michaelerplatzes hineinzustellen - eine Stein gewordene Provokation. Und nun, im Februar 1927, ging Adolf Loos vollends ans Eingemachte. In einer zweistündigen Philippika machte er den Wienern ihr Essen madig. Er bezeichnete die Wiener Küche als "die ekelhafteste der Welt" und ereiferte sich über das "Mehlspeisg'frieß", das ihm aus der Wiener Kochkunst entgegenblicke. "Die physische und psychische Struktur des Menschen" habe "eine vollkommene Umwandlung erfahren", nur in Wien koche man noch so wie im achtzehnten Jahrhundert. "Zudem leistet der Wiener im Essen Beispielloses. Er nimmt nicht Nahrung zu sich, um satt zu werden, sondern er ißt, bis er platzt. In erster Linie die Mehlspeisen, auf die der Wiener so stolz ist."
Die Untergriffe von Loos trafen die Wiener, die sich im Besitz der besten Küche der Welt wähnten, schwer. Karl Kraus belustigte sich in der "Fackel" über das "Kochkesseltreiben", das entfesselt wurde, über die "Erregung der Wiener Hausfrauenseele, die zu kochen begann, als Adolf Loos, frisch aus dem Pariser Leben kommend, es wagte, die Wiener Geistesart auf das weltberühmte Papperl zurückzuführen, nämlich auf die Kunst, aus allem, was die Natur hervorgebracht hat, eine Mehlspeis zu machen". Alfred Polgar, der fand, dass Loos in der Lästerung der Wiener Küche ins Ziel schoss, wenn auch darüber hinaus, meinte Loos doch in einer Hinsicht korrigieren zu müssen: Wenn der nämlich "behauptet, die Zwetschkenknödel seien schuld an dem schweren, ein wenig teigigen Geist des wienerischen Menschen, so kann man nur sagen: Hier irrt Loos. Gerade das Umgekehrte gilt. Es ist der Geist, der sich die Zwetschkenknödel (und durch sie den Körper) baut."
Wie auch immer, die Lokalpatrioten mussten jedenfalls zähneknirschend zugestehen, dass die Wiener Kochkunst während der Kriegs- und Nachkriegsjahre gelitten hatte: Wo Schmalhans Küchenmeister ist, sei ansprechende Qualität eben nicht zu halten. Das ging allerdings am Kern von Loos' Polemik vorbei. Der Mehlpapp, in dem der Löffel steckenblieb, mag zum Teil der Mangelzeit geschuldet gewesen sein, in der es vordringlich um Sättigung ging. Loos hatte indessen schon Jahre zuvor gegen die Wiener Unart gewettert, Gemüse zu Brei zu verkochen und diesen mit Einbrenn (Mehlschwitze) zu einer kleisterartigen Pampe zu "strecken". Und wer ertrüge auf Dauer die klassische wienerische kulinarische Taktung des Tages, er sei denn Möbelpacker oder Bierkutscher? Die sah folgende Mahlzeiten vor: Frühstück, Gabelfrühstück - eine kleine warme spätvormittägliche Zwischenmahlzeit: ein kleines Gulasch, ein Beuschel, Würstel mit Saft etwa -, mindestens dreigängiges Mittagessen (Rindsuppe mit Einlage, Rindfleisch mit eingebranntem Gemüse, Mehlspeise), Jause, warmes Nachtmahl.
Als (beinah) ganz Wien zur Verteidigung der kulinarischen Eigenart ausrückte, sei es mit der hiesigen Küchenherrlichkeit aber ohnehin nicht mehr zum Besten gestanden, und spätestens ab dem Zeitpunkt, da einschlägige Kochbücher in ihren Menüvorschlägen nicht mehr jeden Tag gekochtes Rindfleisch vorsahen, um 1930, sei's endgültig um sie geschehen gewesen, konstatiert Ingrid Haslinger in ihrer Kulturgeschichte der "Wiener Küche", die sie als Verfallsgeschichte konzipiert. Ihre "perfekte Ausformung" habe diese Küche in der Regierungszeit Kaiser Franz Josephs, 1848 bis 1916, erfahren, und längst nicht alles, was man sich hierorts schmecken lasse, habe einen "Rechtstitel, der Wiener Küche anzugehören", so die Historikerin. Der Kanon dieser metropolitanen Fusionsküche, die diverse regionale Speisen der ethnisch vielfältigen Habsburgermonarchie amalgamierte, sieht sie in seiner "alten, echten" Ausprägung in Olga und Adolf Hess' erstmals 1913 erschienener "Sammlung von Kochrezepten der Bildungsanstalt für Koch- und Haushaltungsschullehrerinnen und der Kochschule der Gastwirte in Wien" bewahrt.
Die ursprünglich dickleibige "Hess" hat sich allerdings seither "einerseits als Gralshüter der fundamentalen Geschmackstraditionen verdient gemacht, andererseits aber auch den auf begründeten Erkenntnissen beruhenden Neuerungen und Erleichterungen bei der Speisenzubereitung nicht den Weg verstellt", wie es im Vorwort zu einer stark verschlankten 42. Auflage aus dem Jahr 1994 heißt. Und seit den achtziger Jahren feiert die Wiener Küche fröhliche Urständ. Angestoßen hat die Entwicklung ein Häuflein von neun Wiener Patrons und Küchenchefs, das sich 1978 zur "Neuen Wiener Küche" formierte, um der Wiener Gastronomie im Windschatten der "Nouvelle Cuisine" auf die Sprünge zu helfen. Nach anfänglichen französelnden Verstiegenheiten besann man sich auf die lokale Küchentradition, die, entrümpelt und entstaubt, die Substanz dessen bildet, was unter der vielbejubelten "Beisl-Renaissance" firmiert. Mit dem "Neuen Regionalismus" setzte sich Bodenständigkeit als gastronomisches Leitbild endgültig durch.
Den Kernbestand der Beislküche, einer Mittelstandsküche, der Spompanadeln (Wienerisch für: Chichi) wesensfremd sind, bilden klassische Wiener Gerichte mit ihrer Fleisch- und Kohlenhydratlastigkeit. Die Suppeneinlagen - die autochthone Spielart dessen, was in anderen Küchen die Vorspeisen sind -, diese Miniaturtörtchen und -biskuits, als da etwa sind: Grießnockerl, Frittaten, Biskuitschöberl und Bröselknödel, sind ja nichts anderes als Mehlspeisen.
Haslinger dekliniert zwar ebenso material- wie kenntnisreich in zahlreichen Kapiteln und Exkursen die Geschichte, Kochbücher, Protagonisten und Institutionen der Wiener Esskultur durch - Wirtshaus, Kaffeehaus, Heuriger (Buschenschank), Würstelstand -, das aber im Großen wie im Kleinen unbeholfen: konzeptuell, analytisch, sprachlich. Ihre normative Perspektive ignoriert die vergangenen vierzig Jahre zeitgemäßer kulinarischer Traditionspflege. Der Devianz- und Subkulturforscher Rolf Schwendter schrieb dagegen mit seiner 2004 erschienenen "Vergessenen Wiener Küche" Kulinarikgeschichte als Prozess, dessen Verlauf offenbleibt. Gänzlich nostalgiefrei stellte er klar, dass längst nicht alles in der Versenkung Verschwundene wieder ausgegraben zu werden verdient, und führte triftige Gründe dafür an, warum einzelne Zubereitungen und ganze Speisenkategorien obsolet geworden sind. Manche Abschnitte hat Haslinger offensichtlich zwischen Suppe und Rindfleisch erledigt (Wienerisch für: etwas schlampig, zwischen Tür und Angel machen): das ebenso lückenhafte wie redundante Glossar; das überflüssige vierseitige "Personen- und Sachverzeichnis" ohne Seitenangaben, das Begriffe wie "Bacchus", "Karlsbad", "Radetzky", "Völkerwanderung" und "Zehent" erklärt, offenbar gleichermaßen eine Bekundung des guten Willens, ein Personen-, Sach- und Ortsregister zu erstellen wie das Eingeständnis, keines zustandegebracht zu haben; den achtzigseitigen Rezeptteil, in dem das Prinzip "Kraut und Rüben" herrscht; die chronologische Auflistung einschlägiger Kochbücher, die vermutlich eine kommentierte Bibliographie hätte werden sollen und sporadisch mit kurzen Anmerkungen versehen ist, deren Banalität jedes Mal aufs Neue staunen macht.
Großzügiger als gegenüber der Wiener Küche erweist sich deren Chronistin gegenüber einer der Gewährsfrauen ihrer Verlustgeschichte. Der Autorin der "Süddeutschen Küche" billigt sie in Formulierungen wie "Noch 1921 führte Katharina Prato in ihrem Kochbuch folgende, zum Teil schon längst vergessene Suppeneinlagen an" mehrfach ein paar Jahrzehnte über deren Tod hinaus zu - Katharina Prato, bürgerlichen namens Pratobevera, starb 1897. Der Wiener Küche hingegen schreibt sie einen Nachruf zu Lebzeiten, nur weil sich diese in den letzten Jahrzehnten nicht mit schwarz-gelbem k. u. k. Mascherl präsentierte.
WALTER SCHÜBLER
Ingrid Haslinger:
"Die Wiener Küche". Kulturgeschichte und Rezepte.
Mandelbaum Verlag, Wien 2018. 396 S.,
Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Mehlspeisen und sehr viel Rind: Ingrid Haslinger schreibt mit ihrer Kulturgeschichte der Wiener Küche einen etwas voreiligen Nachruf.
Schon einmal hatte der Störenfried (beinah) ganz Wien in Harnisch gebracht. Er hatte die Stirn gehabt, in den Jahren 1909 bis 1911 einen zierlosen, nackten Kasten mitten ins liebliche Barock des altehrwürdigen Michaelerplatzes hineinzustellen - eine Stein gewordene Provokation. Und nun, im Februar 1927, ging Adolf Loos vollends ans Eingemachte. In einer zweistündigen Philippika machte er den Wienern ihr Essen madig. Er bezeichnete die Wiener Küche als "die ekelhafteste der Welt" und ereiferte sich über das "Mehlspeisg'frieß", das ihm aus der Wiener Kochkunst entgegenblicke. "Die physische und psychische Struktur des Menschen" habe "eine vollkommene Umwandlung erfahren", nur in Wien koche man noch so wie im achtzehnten Jahrhundert. "Zudem leistet der Wiener im Essen Beispielloses. Er nimmt nicht Nahrung zu sich, um satt zu werden, sondern er ißt, bis er platzt. In erster Linie die Mehlspeisen, auf die der Wiener so stolz ist."
Die Untergriffe von Loos trafen die Wiener, die sich im Besitz der besten Küche der Welt wähnten, schwer. Karl Kraus belustigte sich in der "Fackel" über das "Kochkesseltreiben", das entfesselt wurde, über die "Erregung der Wiener Hausfrauenseele, die zu kochen begann, als Adolf Loos, frisch aus dem Pariser Leben kommend, es wagte, die Wiener Geistesart auf das weltberühmte Papperl zurückzuführen, nämlich auf die Kunst, aus allem, was die Natur hervorgebracht hat, eine Mehlspeis zu machen". Alfred Polgar, der fand, dass Loos in der Lästerung der Wiener Küche ins Ziel schoss, wenn auch darüber hinaus, meinte Loos doch in einer Hinsicht korrigieren zu müssen: Wenn der nämlich "behauptet, die Zwetschkenknödel seien schuld an dem schweren, ein wenig teigigen Geist des wienerischen Menschen, so kann man nur sagen: Hier irrt Loos. Gerade das Umgekehrte gilt. Es ist der Geist, der sich die Zwetschkenknödel (und durch sie den Körper) baut."
Wie auch immer, die Lokalpatrioten mussten jedenfalls zähneknirschend zugestehen, dass die Wiener Kochkunst während der Kriegs- und Nachkriegsjahre gelitten hatte: Wo Schmalhans Küchenmeister ist, sei ansprechende Qualität eben nicht zu halten. Das ging allerdings am Kern von Loos' Polemik vorbei. Der Mehlpapp, in dem der Löffel steckenblieb, mag zum Teil der Mangelzeit geschuldet gewesen sein, in der es vordringlich um Sättigung ging. Loos hatte indessen schon Jahre zuvor gegen die Wiener Unart gewettert, Gemüse zu Brei zu verkochen und diesen mit Einbrenn (Mehlschwitze) zu einer kleisterartigen Pampe zu "strecken". Und wer ertrüge auf Dauer die klassische wienerische kulinarische Taktung des Tages, er sei denn Möbelpacker oder Bierkutscher? Die sah folgende Mahlzeiten vor: Frühstück, Gabelfrühstück - eine kleine warme spätvormittägliche Zwischenmahlzeit: ein kleines Gulasch, ein Beuschel, Würstel mit Saft etwa -, mindestens dreigängiges Mittagessen (Rindsuppe mit Einlage, Rindfleisch mit eingebranntem Gemüse, Mehlspeise), Jause, warmes Nachtmahl.
Als (beinah) ganz Wien zur Verteidigung der kulinarischen Eigenart ausrückte, sei es mit der hiesigen Küchenherrlichkeit aber ohnehin nicht mehr zum Besten gestanden, und spätestens ab dem Zeitpunkt, da einschlägige Kochbücher in ihren Menüvorschlägen nicht mehr jeden Tag gekochtes Rindfleisch vorsahen, um 1930, sei's endgültig um sie geschehen gewesen, konstatiert Ingrid Haslinger in ihrer Kulturgeschichte der "Wiener Küche", die sie als Verfallsgeschichte konzipiert. Ihre "perfekte Ausformung" habe diese Küche in der Regierungszeit Kaiser Franz Josephs, 1848 bis 1916, erfahren, und längst nicht alles, was man sich hierorts schmecken lasse, habe einen "Rechtstitel, der Wiener Küche anzugehören", so die Historikerin. Der Kanon dieser metropolitanen Fusionsküche, die diverse regionale Speisen der ethnisch vielfältigen Habsburgermonarchie amalgamierte, sieht sie in seiner "alten, echten" Ausprägung in Olga und Adolf Hess' erstmals 1913 erschienener "Sammlung von Kochrezepten der Bildungsanstalt für Koch- und Haushaltungsschullehrerinnen und der Kochschule der Gastwirte in Wien" bewahrt.
Die ursprünglich dickleibige "Hess" hat sich allerdings seither "einerseits als Gralshüter der fundamentalen Geschmackstraditionen verdient gemacht, andererseits aber auch den auf begründeten Erkenntnissen beruhenden Neuerungen und Erleichterungen bei der Speisenzubereitung nicht den Weg verstellt", wie es im Vorwort zu einer stark verschlankten 42. Auflage aus dem Jahr 1994 heißt. Und seit den achtziger Jahren feiert die Wiener Küche fröhliche Urständ. Angestoßen hat die Entwicklung ein Häuflein von neun Wiener Patrons und Küchenchefs, das sich 1978 zur "Neuen Wiener Küche" formierte, um der Wiener Gastronomie im Windschatten der "Nouvelle Cuisine" auf die Sprünge zu helfen. Nach anfänglichen französelnden Verstiegenheiten besann man sich auf die lokale Küchentradition, die, entrümpelt und entstaubt, die Substanz dessen bildet, was unter der vielbejubelten "Beisl-Renaissance" firmiert. Mit dem "Neuen Regionalismus" setzte sich Bodenständigkeit als gastronomisches Leitbild endgültig durch.
Den Kernbestand der Beislküche, einer Mittelstandsküche, der Spompanadeln (Wienerisch für: Chichi) wesensfremd sind, bilden klassische Wiener Gerichte mit ihrer Fleisch- und Kohlenhydratlastigkeit. Die Suppeneinlagen - die autochthone Spielart dessen, was in anderen Küchen die Vorspeisen sind -, diese Miniaturtörtchen und -biskuits, als da etwa sind: Grießnockerl, Frittaten, Biskuitschöberl und Bröselknödel, sind ja nichts anderes als Mehlspeisen.
Haslinger dekliniert zwar ebenso material- wie kenntnisreich in zahlreichen Kapiteln und Exkursen die Geschichte, Kochbücher, Protagonisten und Institutionen der Wiener Esskultur durch - Wirtshaus, Kaffeehaus, Heuriger (Buschenschank), Würstelstand -, das aber im Großen wie im Kleinen unbeholfen: konzeptuell, analytisch, sprachlich. Ihre normative Perspektive ignoriert die vergangenen vierzig Jahre zeitgemäßer kulinarischer Traditionspflege. Der Devianz- und Subkulturforscher Rolf Schwendter schrieb dagegen mit seiner 2004 erschienenen "Vergessenen Wiener Küche" Kulinarikgeschichte als Prozess, dessen Verlauf offenbleibt. Gänzlich nostalgiefrei stellte er klar, dass längst nicht alles in der Versenkung Verschwundene wieder ausgegraben zu werden verdient, und führte triftige Gründe dafür an, warum einzelne Zubereitungen und ganze Speisenkategorien obsolet geworden sind. Manche Abschnitte hat Haslinger offensichtlich zwischen Suppe und Rindfleisch erledigt (Wienerisch für: etwas schlampig, zwischen Tür und Angel machen): das ebenso lückenhafte wie redundante Glossar; das überflüssige vierseitige "Personen- und Sachverzeichnis" ohne Seitenangaben, das Begriffe wie "Bacchus", "Karlsbad", "Radetzky", "Völkerwanderung" und "Zehent" erklärt, offenbar gleichermaßen eine Bekundung des guten Willens, ein Personen-, Sach- und Ortsregister zu erstellen wie das Eingeständnis, keines zustandegebracht zu haben; den achtzigseitigen Rezeptteil, in dem das Prinzip "Kraut und Rüben" herrscht; die chronologische Auflistung einschlägiger Kochbücher, die vermutlich eine kommentierte Bibliographie hätte werden sollen und sporadisch mit kurzen Anmerkungen versehen ist, deren Banalität jedes Mal aufs Neue staunen macht.
Großzügiger als gegenüber der Wiener Küche erweist sich deren Chronistin gegenüber einer der Gewährsfrauen ihrer Verlustgeschichte. Der Autorin der "Süddeutschen Küche" billigt sie in Formulierungen wie "Noch 1921 führte Katharina Prato in ihrem Kochbuch folgende, zum Teil schon längst vergessene Suppeneinlagen an" mehrfach ein paar Jahrzehnte über deren Tod hinaus zu - Katharina Prato, bürgerlichen namens Pratobevera, starb 1897. Der Wiener Küche hingegen schreibt sie einen Nachruf zu Lebzeiten, nur weil sich diese in den letzten Jahrzehnten nicht mit schwarz-gelbem k. u. k. Mascherl präsentierte.
WALTER SCHÜBLER
Ingrid Haslinger:
"Die Wiener Küche". Kulturgeschichte und Rezepte.
Mandelbaum Verlag, Wien 2018. 396 S.,
Abb., geb., 28,- [Euro].
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