Wie ein Magnet zog West-Berlin im Jahrzehnt von Helmut Kohl, Margaret Thatcher und Ronald Reagan junge Leute an, die aus der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft fliehen wollten. Hier, in der hoch subventionierten, aber immer noch von den Provisorien der Nachkriegszeit gezeichneten Frontstadt des Kalten Krieges fanden sie einen Raum, in dem sich alternative Lebensformen entfalten konnten. Die Hausbesetzerszene blühte, die Punkkultur war auf dem Vormarsch, politischer Protest und Straßenfest waren oft kaum zu unterscheiden. Christian Schulz hat diese vom Fall der Mauer jäh beendeten wilden Jahre als Fotograf miterlebt. Seine in Grautönen schwelgenden, detailreichen und hintergründigen Fotografien erzählen vom Alltag, von Demonstrationen, Konzerten und Bällen, und erinnern an Rio Reiser, Ideal, Quentin Crisp und andere legendäre Akteure jener Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.201620. Wo ist bloß die Anarchie geblieben?
Ost-Berlin, West-Berlin in den Achtzigern. Was für ein wildes Leben - auf beiden Seiten der Mauer. Wie viel Mut, Aufbruch, Aggressivität, Unangepasstheit, wie viel Alkohol, Zigaretten, schrille Kleider und Frisuren, kaputte und schöne und wache und müde Gesichter, Kajal, Lippenstift, Lidschatten bei Männern und Frauen, wie viel abgefallener Putz, kaputte Gehwege, Brandmauern, Einschusslöcher, Schrottautos, trostlose Grünanlagen, wie viel Lachen und irre Ideen, Lederjacken, lange Haare, nackte Haut. Wie viele Feste und Proteste.
Dass der für seine DDR-Fotobände berühmte Lehmstedt-Verlag jetzt auch mal ein deutsch-deutsches Diptychon mit umgekehrter Chromatik herausgebracht hat, schwarzweiß der Westen, der Osten in Farbe, ist eine großartige Idee. Man legt die beiden Bände nebeneinander und vergleicht: Gesichter, Autos, Kleider, Kinderwagen, Bierflaschen, Brillengestelle, Straßen- und U-Bahn-Interieurs, Laternen, Parolen, Polizeiuniformen. So verschieden kommt einem da das Leben gar nicht vor. Frontstadt Berlin und Berlin, Hauptstadt der DDR - anziehend für unangepasste Existenzen war beides. Aber zwischendrin trifft man auch immer wieder auf die zusammengekniffenen Gesichter der Bürger mit Handtaschen und im Straßenanzug, denen dieser ganze wilde Lebensstil gegen die sauber bestrumpften Schienbeine tritt. Manchmal geraten sie da richtig in Wut und schreien. Die Fotografen waren immer dabei, Harald Hauswald im Osten kam aus Radebeul und schlug sich als freier, von der Stasi bespitzelter Fotograf durch, meist im Eigenauftrag oder in dem der evangelischen Kirche, erst kurz vor der Wende auch mit Kodak-Farbfilmen von "Geo", von denen er ein paar für eigene freie Verwendung abzweigte. Im Westen war der aus Frankfurt am Main stammende Christian Schulz für "taz" und "zitty" unterwegs, schwarzweiß fotografierend aus Kostengründen, aber auch wegen größerer Präzision und wegen des Anti-Effekts zur Werbeästhetik. Hauswald bewegte sich viel in seinem Kiez Prenzlauer Berg, Schulz wechselte von Kreuz- nach Schöneberg, von Zehlendorf nach Charlottenburg, war immer vor Ort bei den Kämpfen der Hausbesetzer und auf dem roten Teppich der Berlinale, und dann in den Nächten auf den Partys.
Großartig sind die Kinder- und Halbwüchsigengesichter - man sieht schon, die werden keinen Stein auf dem anderen lassen. Und die Alten im Osten. Die lächeln so verschmitzt und strahlen eine solche humorvolle Gelassenheit und Selbstironie aus, dass man sie alle sofort kennenlernen und ihre Geschichten hören möchte. Diese Alten sind weg, aber die Kinder sind noch da, sind doch wir. Wo sind bloß unsere Anarchie und unser Lebenshunger geblieben? Warum sind wir so brav?
Bettina Hartz
Harald Hauswald: "Goodbye Ostberlin. Fotografien 1986-1990". Lehmstedt, 112 Seiten, 19,90 Euro
Christian Schulz: "Die wilden Achtziger. Fotografien aus West-Berlin". Lehmstedt, 160 Seiten, 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ost-Berlin, West-Berlin in den Achtzigern. Was für ein wildes Leben - auf beiden Seiten der Mauer. Wie viel Mut, Aufbruch, Aggressivität, Unangepasstheit, wie viel Alkohol, Zigaretten, schrille Kleider und Frisuren, kaputte und schöne und wache und müde Gesichter, Kajal, Lippenstift, Lidschatten bei Männern und Frauen, wie viel abgefallener Putz, kaputte Gehwege, Brandmauern, Einschusslöcher, Schrottautos, trostlose Grünanlagen, wie viel Lachen und irre Ideen, Lederjacken, lange Haare, nackte Haut. Wie viele Feste und Proteste.
Dass der für seine DDR-Fotobände berühmte Lehmstedt-Verlag jetzt auch mal ein deutsch-deutsches Diptychon mit umgekehrter Chromatik herausgebracht hat, schwarzweiß der Westen, der Osten in Farbe, ist eine großartige Idee. Man legt die beiden Bände nebeneinander und vergleicht: Gesichter, Autos, Kleider, Kinderwagen, Bierflaschen, Brillengestelle, Straßen- und U-Bahn-Interieurs, Laternen, Parolen, Polizeiuniformen. So verschieden kommt einem da das Leben gar nicht vor. Frontstadt Berlin und Berlin, Hauptstadt der DDR - anziehend für unangepasste Existenzen war beides. Aber zwischendrin trifft man auch immer wieder auf die zusammengekniffenen Gesichter der Bürger mit Handtaschen und im Straßenanzug, denen dieser ganze wilde Lebensstil gegen die sauber bestrumpften Schienbeine tritt. Manchmal geraten sie da richtig in Wut und schreien. Die Fotografen waren immer dabei, Harald Hauswald im Osten kam aus Radebeul und schlug sich als freier, von der Stasi bespitzelter Fotograf durch, meist im Eigenauftrag oder in dem der evangelischen Kirche, erst kurz vor der Wende auch mit Kodak-Farbfilmen von "Geo", von denen er ein paar für eigene freie Verwendung abzweigte. Im Westen war der aus Frankfurt am Main stammende Christian Schulz für "taz" und "zitty" unterwegs, schwarzweiß fotografierend aus Kostengründen, aber auch wegen größerer Präzision und wegen des Anti-Effekts zur Werbeästhetik. Hauswald bewegte sich viel in seinem Kiez Prenzlauer Berg, Schulz wechselte von Kreuz- nach Schöneberg, von Zehlendorf nach Charlottenburg, war immer vor Ort bei den Kämpfen der Hausbesetzer und auf dem roten Teppich der Berlinale, und dann in den Nächten auf den Partys.
Großartig sind die Kinder- und Halbwüchsigengesichter - man sieht schon, die werden keinen Stein auf dem anderen lassen. Und die Alten im Osten. Die lächeln so verschmitzt und strahlen eine solche humorvolle Gelassenheit und Selbstironie aus, dass man sie alle sofort kennenlernen und ihre Geschichten hören möchte. Diese Alten sind weg, aber die Kinder sind noch da, sind doch wir. Wo sind bloß unsere Anarchie und unser Lebenshunger geblieben? Warum sind wir so brav?
Bettina Hartz
Harald Hauswald: "Goodbye Ostberlin. Fotografien 1986-1990". Lehmstedt, 112 Seiten, 19,90 Euro
Christian Schulz: "Die wilden Achtziger. Fotografien aus West-Berlin". Lehmstedt, 160 Seiten, 24,90 Euro
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