In einer intensiven und mitreißenden Weise umkreisen Quirogas Erzählungen oft große, schwere Themen wie Tod, Wahnsinn oder unglückliche Liebe. Tatsächlich war Horacio Quirogas Leben derart geprägt von Tragödien und Verlust, dass es schwerfällt, Leben und Werk nicht miteinander kurzzuschließen. Quiroga erzählt vom Ringen des Einzelnen angesichts eines Daseins, das sich stets als größer als er selbst und letztlich unbezwingbar erweist. Dabei verliert dieses Ringen nie an Spannung - atmosphärisch dicht, psychologisch genau, im Ton bisweilen fast lakonisch entspinnt Quiroga fesselnde Geschichten vom Horror und Mysterium des Auf-der-Welt-Seins. Ein moderner Klassiker der Weltliteratur.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2011Sturzbetrunken und zu Pferde
Parasiten, Sonne, Gewalt und Gottesglaube: An dieser Giftmischung gehen die Menschen in den Erzählungen von Horacio Quiroga konsequent zugrunde.
Was einen tiefen Brunnen angeht, so kann man leicht hineinfallen. Noch leichter kann man sich den Sturz allerdings vorstellen: Ein wenig zu stark über den Rand gestreckt, und schon ist das Gleichgewicht verloren, sieht man sich in Gedanken hinabstürzen in die Tiefe, dem dunklen Wasser entgegen. Grausam muss das sein, nicht zuletzt auch für die Angehörigen. Es liegt demnach, jedenfalls wenn man Kind ist, auf der Hand, jemanden, den man erschrecken will, einfach glauben zu lassen, exakt dies sei geschehen: Man sei gestürzt und finde sich nun, mehr tot als lebendig, am Grund des Brunnens. Der Schrecken, das ahnen junge Menschen, wird tief sitzen, insbesondere dann, wenn es sich um Erziehungsberechtigte oder deren Vertreter handelt.
Es gehört zur Kunst des argentinischen Erzählers Horacio Quiroga, diesen Schrecken in einen wunderbaren kleinen Text zu verpacken, den man früher als "Lausbubengeschichte" bezeichnet hätte. Der Bruder der Mutter spielt sich anmaßend als Ersatzvater auf, also muss er zur Räson gebracht werden durch ein Versteckspiel, das den Verfolger alle Tiefen des Schreckens durchlaufen, ihn am Ende aber noch einmal gnädig davonkommen lässt.
Dass überschießende Einbildungskraft aber auch ganz andere, handfestere Schäden hervorrufen kann, diesem Umstand ging der argentinische Autor Horacio Quiroga (1878 bis 1937) in seinen Kurzgeschichten immer wieder nach, zum Beispiel in dem Text über den Schnapsbrenner Santiago Maria Rivet, der sich zusammen mit seinem Zechkumpan Don Juan Brown Woche für Woche in einer abgewirtschafteten Kneipe trifft, um dort das zu pflegen, was man im Spanischen heute als "botellón" bezeichnet: ein kollektives Besäufnis bis zur Bewusstlosigkeit, zumindest aber bis kurz davor.
Rivets Pech ist es, zusammen mit Brown die Zecherei bis zum bitteren Ende zu führen, während die anderen Zechkumpane teils aus besserer Einsicht, teils aus schlichter Ohnmacht das Gelage vorzeitig oder besser: rechtzeitig beenden. Sturzbetrunken begeben sich die beiden Männer irgendwann auf den Nachhauseweg, einen Weg, der im argentinischen Hinterland Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts oft zu Pferde zurückgelegt wurde. Pech nur, dass die beiden den Pferden nicht trauen wollen. Sie meinen es besser zu wissen als die Tiere, kommen darum vom rechten Wege ab, fallen irgendwann zu Boden und setzen sich so der Kälte der Nacht aus - ein Temperatursturz, den Rivet nicht überleben wird.
Es sind kleine, wenig spektakuläre Szenen, in denen Quiroga das Leben in San Ignacio de Missiones beschreibt, einem während der Kolonialzeit von den Jesuiten gegründeten Ort im Norden Argentiniens, nahe an der Grenze zu Paraguay. Hier hat der in Uruguay geborene Autor einen Großteil seines Lebens verbracht - des günstigen, sein Asthmaleiden mildernden Klimas ebenso wie seiner romantisch inspirierten Träume vom ursprünglichen, unverfälschten Leben wegen. Dort versucht er sich als Baumwollzüchter, arbeitet als Friedensrichter und Standesbeamter, stellt Holzkohle her - und hat in keinem Berufsfeld wirklichen Erfolg. Auch die beiden in Buenos Aires geschlossenen Ehen gedeihen in dem dürren Klima nicht. Seine zweite Frau verlässt ihn, doch Quiroga widmet sich weiterhin dem, was er zeit seines Lebens am besten konnte: dem Schreiben. Bald aber muss er sich einem Krebsleiden stellen, das die Ärzte zuletzt vergeblich bekämpfen.
Das romantische Programm, unter dem er einst antrat, widerlegt Quiroga in jeder einzelnen seiner Erzählungen. Parasiten, stechende Sonne, enthemmte Gewalt und ebenso enthemmter Gottesglaube: Das sind die Zutaten jener tropikalen Giftmischung, an der die Menschen in Quirogas Erzählungen verlässlich zugrunde gehen. "Glorreiche Tropen" heißt eine Erzählung, die in Afrika, an den Ufern des Niger, spielt. Der Bambus, den ein unerschrockener Pflanzer aus Lateinamerika dort anpflanzt, gedeiht prächtig - ebenso aber auch das nicht minder kräftig wachsende Unkraut, an dem selbst die entschlossensten Farmer scheitern. Málter, so der Name des Pflanzers muss es irgendwann einsehen: Aus der Pflanzung wird nichts werden. Ausgemergelt und mit vergifteter Leber kehrt er zurück nach Argentinien. Ob er wirklich alles versucht habe, wird er gefragt. "Málter nickte mit einem traurigen Lächeln. Und ging nach Hause zum Sterben."
Ein wenig gnädiger als in Afrika ist das Leben in jener Zeit in Missiones. Aber auch so ist es hart genug. So dass sich die Frage aufdrängt, warum die Menschen hierherkommen und vor allem warum sie bleiben. Der Erzähler weiß es nicht, und seine Protagonisten wissen es auch nicht. Zufall, Trägheit, Ratlosigkeit, das mögen einige der Gründe sein. Auf die eine oder andere Weise geht es allen wie jenem John Brown, "der nur kam, um sich für ein paar Stunden die Ruinen anzuschauen, und 25 Jahre blieb".
Der Mensch als Wesen, das durchs Leben mehr strauchelt als marschiert, das ist das große Thema von Horacio Quiroga. Ein meist naturalistischer, gelegentlich aber auch phantastischer Realismus, in dem sich seine erklärten Vorbilder Poe, Maupassant, Kipling und Tschechow in den unterschiedlichsten Varianten mischen, machte Quiroga zu einem frühen - und populären - Meister der argentinischen Kurzgeschichte. Die zwei Bände, die beide einen repräsentativen Querschnitt durch seine Arbeit bieten, zeigen, was Quiroga am meisten faszinierte: der Mensch im Moment seines Sturzes.
KERSTEN KNIPP.
Horacio Quiroga: "Die Wildnis des Lebens". Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 428 S., geb., 24,95 [Euro].
Horacio Quiroga: "Die Verbannten und andere Erzählungen".
Übersetzt und mit einem Nachwort von Roland Berens. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010. 240 S., br., 16,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Parasiten, Sonne, Gewalt und Gottesglaube: An dieser Giftmischung gehen die Menschen in den Erzählungen von Horacio Quiroga konsequent zugrunde.
Was einen tiefen Brunnen angeht, so kann man leicht hineinfallen. Noch leichter kann man sich den Sturz allerdings vorstellen: Ein wenig zu stark über den Rand gestreckt, und schon ist das Gleichgewicht verloren, sieht man sich in Gedanken hinabstürzen in die Tiefe, dem dunklen Wasser entgegen. Grausam muss das sein, nicht zuletzt auch für die Angehörigen. Es liegt demnach, jedenfalls wenn man Kind ist, auf der Hand, jemanden, den man erschrecken will, einfach glauben zu lassen, exakt dies sei geschehen: Man sei gestürzt und finde sich nun, mehr tot als lebendig, am Grund des Brunnens. Der Schrecken, das ahnen junge Menschen, wird tief sitzen, insbesondere dann, wenn es sich um Erziehungsberechtigte oder deren Vertreter handelt.
Es gehört zur Kunst des argentinischen Erzählers Horacio Quiroga, diesen Schrecken in einen wunderbaren kleinen Text zu verpacken, den man früher als "Lausbubengeschichte" bezeichnet hätte. Der Bruder der Mutter spielt sich anmaßend als Ersatzvater auf, also muss er zur Räson gebracht werden durch ein Versteckspiel, das den Verfolger alle Tiefen des Schreckens durchlaufen, ihn am Ende aber noch einmal gnädig davonkommen lässt.
Dass überschießende Einbildungskraft aber auch ganz andere, handfestere Schäden hervorrufen kann, diesem Umstand ging der argentinische Autor Horacio Quiroga (1878 bis 1937) in seinen Kurzgeschichten immer wieder nach, zum Beispiel in dem Text über den Schnapsbrenner Santiago Maria Rivet, der sich zusammen mit seinem Zechkumpan Don Juan Brown Woche für Woche in einer abgewirtschafteten Kneipe trifft, um dort das zu pflegen, was man im Spanischen heute als "botellón" bezeichnet: ein kollektives Besäufnis bis zur Bewusstlosigkeit, zumindest aber bis kurz davor.
Rivets Pech ist es, zusammen mit Brown die Zecherei bis zum bitteren Ende zu führen, während die anderen Zechkumpane teils aus besserer Einsicht, teils aus schlichter Ohnmacht das Gelage vorzeitig oder besser: rechtzeitig beenden. Sturzbetrunken begeben sich die beiden Männer irgendwann auf den Nachhauseweg, einen Weg, der im argentinischen Hinterland Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts oft zu Pferde zurückgelegt wurde. Pech nur, dass die beiden den Pferden nicht trauen wollen. Sie meinen es besser zu wissen als die Tiere, kommen darum vom rechten Wege ab, fallen irgendwann zu Boden und setzen sich so der Kälte der Nacht aus - ein Temperatursturz, den Rivet nicht überleben wird.
Es sind kleine, wenig spektakuläre Szenen, in denen Quiroga das Leben in San Ignacio de Missiones beschreibt, einem während der Kolonialzeit von den Jesuiten gegründeten Ort im Norden Argentiniens, nahe an der Grenze zu Paraguay. Hier hat der in Uruguay geborene Autor einen Großteil seines Lebens verbracht - des günstigen, sein Asthmaleiden mildernden Klimas ebenso wie seiner romantisch inspirierten Träume vom ursprünglichen, unverfälschten Leben wegen. Dort versucht er sich als Baumwollzüchter, arbeitet als Friedensrichter und Standesbeamter, stellt Holzkohle her - und hat in keinem Berufsfeld wirklichen Erfolg. Auch die beiden in Buenos Aires geschlossenen Ehen gedeihen in dem dürren Klima nicht. Seine zweite Frau verlässt ihn, doch Quiroga widmet sich weiterhin dem, was er zeit seines Lebens am besten konnte: dem Schreiben. Bald aber muss er sich einem Krebsleiden stellen, das die Ärzte zuletzt vergeblich bekämpfen.
Das romantische Programm, unter dem er einst antrat, widerlegt Quiroga in jeder einzelnen seiner Erzählungen. Parasiten, stechende Sonne, enthemmte Gewalt und ebenso enthemmter Gottesglaube: Das sind die Zutaten jener tropikalen Giftmischung, an der die Menschen in Quirogas Erzählungen verlässlich zugrunde gehen. "Glorreiche Tropen" heißt eine Erzählung, die in Afrika, an den Ufern des Niger, spielt. Der Bambus, den ein unerschrockener Pflanzer aus Lateinamerika dort anpflanzt, gedeiht prächtig - ebenso aber auch das nicht minder kräftig wachsende Unkraut, an dem selbst die entschlossensten Farmer scheitern. Málter, so der Name des Pflanzers muss es irgendwann einsehen: Aus der Pflanzung wird nichts werden. Ausgemergelt und mit vergifteter Leber kehrt er zurück nach Argentinien. Ob er wirklich alles versucht habe, wird er gefragt. "Málter nickte mit einem traurigen Lächeln. Und ging nach Hause zum Sterben."
Ein wenig gnädiger als in Afrika ist das Leben in jener Zeit in Missiones. Aber auch so ist es hart genug. So dass sich die Frage aufdrängt, warum die Menschen hierherkommen und vor allem warum sie bleiben. Der Erzähler weiß es nicht, und seine Protagonisten wissen es auch nicht. Zufall, Trägheit, Ratlosigkeit, das mögen einige der Gründe sein. Auf die eine oder andere Weise geht es allen wie jenem John Brown, "der nur kam, um sich für ein paar Stunden die Ruinen anzuschauen, und 25 Jahre blieb".
Der Mensch als Wesen, das durchs Leben mehr strauchelt als marschiert, das ist das große Thema von Horacio Quiroga. Ein meist naturalistischer, gelegentlich aber auch phantastischer Realismus, in dem sich seine erklärten Vorbilder Poe, Maupassant, Kipling und Tschechow in den unterschiedlichsten Varianten mischen, machte Quiroga zu einem frühen - und populären - Meister der argentinischen Kurzgeschichte. Die zwei Bände, die beide einen repräsentativen Querschnitt durch seine Arbeit bieten, zeigen, was Quiroga am meisten faszinierte: der Mensch im Moment seines Sturzes.
KERSTEN KNIPP.
Horacio Quiroga: "Die Wildnis des Lebens". Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 428 S., geb., 24,95 [Euro].
Horacio Quiroga: "Die Verbannten und andere Erzählungen".
Übersetzt und mit einem Nachwort von Roland Berens. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010. 240 S., br., 16,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kersten Knipp findet die kleinen Geschichten des Argentiniers Horacio Quiroga eigentlich nicht sehr spektakulär. Dennoch zeigt er sich fasziniert davon, wie dieser Autor das harte, von stechender Sonne, Gewalt und Gottesglaube geprägte Leben im Norden Argentiniens, an der Grenze zu Paraguay, einfängt. Dass die Menschen, die diesen Verhältnissen ausgesetzt sind, daran stets verlässlich zugrunde gehen, hält er für das große Thema Quirogas. Den Einsatz seiner Mittel, naturalistisch, manchmal, gemäß Quirogas Vorbildern Poe, Tschechow, Kipling, auch dem fantastischen Realismus zugehörig, findet Knipp meisterlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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