Witwe ist keine der vier Frauen, von denen hier erzählt wird. Dazu wären sie vielleicht auch noch zu jung. Aber zu Witwen fehlen ihnen vor allem die Männer. Nur die eine, Penny, war verheiratet. Ist verheiratet? Der Mann ist verschwunden, und so lebt sie mit Sohn und Schwiegereltern abgelegen am Moselstrand zwischen Weinbergen. Nicht allein, ihre drei Freundinnen (Beatrice, Dodo und Laura) sind ihr von Berlin in die Provinz gefolgt. Die vier haben sich gut eingerichtet, jede für sich, im Leben, im Warten. Aber worauf? Also beschließen sie eines Tages, große Fahrt zu machen, aufzubrechen. Sie mieten sich einen Wagen und suchen per Anzeige jemanden, der sie fährt. Wohin? An die Quelle, an den Ursprung, zurück. Dass sie unterwegs dahin eine Panne haben, wird zu unserem Glück. Und zum Glück ihres Chauffeurs, der auch etwas vermisst, nur nicht das, was er zurückgelassen hat: Zierfische mit den Namen von Philosophen. Die vier beginnen zu erzählen, ihm, den anderen, sich selbst, und sie erzählen wie im Rausch: herzzerreißend, vergnüglich und vergnügt, doch ungeschminkt ehrlich und schonungslos.
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buecher-magazin.deEinfühlsam und lebensklug, mit Verve und Ironie geht Dagmar Leupold ans Werk in ihrem Abenteuerroman "Die Witwen". Der Titel täuscht. Zumindest was den Familienstand der vier Heldinnen betrifft. Ihre Männer sind nicht verblichen, aber entschwunden. Unterwegs, in der Zweisamkeit, sind sich die Frauen selbst abhandengekommen. Freundinnen seit Berliner Schultagen, finden sie einander an der Mosel wieder, im stillen Steinbronn. Jede hat ihr Auskommen, doch Pragmatik ist kein Schutzwall gegen sinnliches Verlangen. Gegen jene Urgewalt, vergleichbar dem Schlammgeruch des Flusses. Und so bricht das Quartett auf, buchstäblich gegen den Strom. Im Fiat Ulysse, chauffiert von einem kauzigen Privatgelehrten, reist man zu den Mosel-Quellen in den Vogesen. Ad Fontes! Transnational ist die Route, wach und empfindsam der Trupp. Man sinniert über Grenzen und Kriege, über die Zeit und den Zeitgeist, über verratene Ideale - oder über semantische Feinheiten: Der Franzose sagt Gastzimmer, der Deutsche Fremdenzimmer. "Sprache schafft Fakten", - und Leupold das Kunststück, diesen Themenrucksack in die Schwerelosigkeit zu hieven wie einen Ballon. Aus luftiger Höhe wird dann klar: Irreversibel wie der Lauf der Moselwasser sind auch die Lebensläufe.
© BÜCHERmagazin, Ingeborg Waldinger (wal)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2016Anfänge sind immer unterirdisch
Private Pilgerschaft: Dagmar Leupolds Roman "Die Witwen" erzählt von Abenteuern der Seele
Das Coverbild, eine Montage von Alexey Kondakov, ist perfekt gewählt: Vier weniger als leicht bekleidete Frauen umgarnen handgreiflich einen ebenfalls nackten, satyrhaften Mann - die altmeisterliche Nymphen-Gruppe ist in das Interieur eines Straßenbahnwagens verpflanzt. Dies passt zu Dagmar Leupolds Faible für die antike Travestie. Die vier Heldinnen ihres jüngsten Romans sind keine Witwen, eine von ihnen könnte immerhin eine sein - ihr Gatte Otto ist seit acht Jahren im Fernen Osten verschollen. Dass die Zurückgebliebene Penny heißt, von Penelope, und mit Hingabe strickt, kann man als etwas aufdringliche Referenz verbuchen. Alle vier Damen in gerade noch mittleren Jahren, Berliner Schulfreundinnen einst, haben sich vor geraumer Zeit im fiktiven Örtchen Steinbronn an der Mosel niedergelassen, in dem die Idylle sie eisern im Griff hat. Es kommt, wie es kommen muss: Sie wollen nicht mehr warten, sie wollen endlich wieder einmal etwas erleben. Denn Witwe sein heißt, wie Dorothea "Dodo" vom abschreckenden Beispiel ihrer Mutter weiß, "starr werden, versteifen. Nichts weht und nichts fließt, und an der Nasenwurzel eine Kerbe vom Schicksalsschlag."
Als Erfüllungsgehilfe bietet sich Bendix an, von Benedikt, der Gebenedeite, der sich stolz Privatier nennt; ein verkrachter Philosoph, vor Jahren von seiner großen Liebe schnöde verlassen, ein Pessimist folglich in eigener wie in allgemeiner Sache, der nicht mehr an das politische Konzept der Freiheit glaubt in einer Zeit, die sich nicht für Lebensentwürfe interessiert, sondern für "Lifestyles". Bendix will und soll den Damen bei ihrer Suche mit ungewisser Aufgabenstellung als Chauffeur dienen. Sein Bierkonsum, behauptet er frech, sei kompatibel "mit anderen Süchten, Sehnsüchten beispielsweise".
Den vier Frauen gefällt an ihm die Mischung aus Gleichmut und Eindringlichkeit, aber auch sein Reiseplan: der Mosel bis an ihre Quelle zu folgen: "Anfänge sind immer unterirdisch." Und so gelangen die Reisenden von einem symbolisch befrachteten Ort zum nächsten, nach Schengen und zum einstigen Schlachtfeld am Hartmannswillerkopf, wo eine Autopanne zum einzigen Ereignis wird, das den Untertitel "Abenteuerroman" im landläufigen Sinn einigermaßen zu rechtfertigen scheint. Das Warten auf den Pannendienst eröffnet einen weiteren Raum für das Erzählen: eine jede trägt ihr Scherflein bei, Bendix leistet Hebammendienste als Zuhörer.
Dass es Dagmar Leupold eher um die Abenteuer der Seele zu tun ist und durchaus auch um ein Lehrstück in Sachen Lebensweisheit, ahnt man bald, und gern möchte man profitieren von paradoxen Erkenntnissen wie der, dass Altern insofern verjüngt, "als es in Unsicherheiten zurückversetzt, die dem Heranwachsen angehört hatten. Allerdings mit dem Unterschied, dass keine Zukunft mehr aufscheinen kann, in der das Unzugängliche, das Beunglückende . . . überwunden sein würde." Der naheliegenden Engführung ins Praktisch-Erotische versagt sich die Erzählerin zum Glück. Dennoch begreifen wir mit den Protagonistinnen, dass die Wunschlosigkeit eingefahrener Lebensgeleise ein "Zustand der Dürftigkeit" ist.
Dem dankbaren Annehmen solcher Einsichten steht allerdings eine gewisse forcierte Munterkeit der Erzählstimme entgegen. Der Leser bewundert ihren Einfallsreichtum en détail, die stilistische Delikatesse und aphoristische Prägnanz und fühlt sich doch auch überfordert von der aufgeregt-aufgeräumten Mitteilsamkeit. Er fragt sich, ob ein Protagonist, der seine Zierfische nach berühmten Philosophen benennt - "Bloch geht es schlecht, Leibniz dagegen gedeiht" -, den Bogen der Originalität nicht überspannt und ob das Fahrzeug von Penelope & Co. wirklich auch noch ein Fiat Ulysse sein muss.
Doch gerade als sich bei der Lektüre Zweifel einstellen, ob unechte Witwen überhaupt Anspruch auf echte Anteilnahme haben, gelingt es Dagmar Leupold, den vier Erzählerinnen im Auto, in dieser "Bergungskapsel" aus "Erdennot", Kontur und Tiefe zu verleihen und so gleichsam rückwirkend die allzu gedehnte Exposition zu veredeln. Man sieht: Das alles weiß die Autorin ohnehin selbst. Weshalb sie Bendix seinem besten Freund (die Briefe gehören zum Romanmaterial) gestehen lässt, Schreiben verleite immer "zur Pose. Schreiben war wie toupieren: Blößen kaschieren, Fülle vortäuschen."
Wenn indes Dodo, die "Partisanin" des Gärtnerns, die überall Pflanzen hinterlässt wie andere Graffiti, von der zementenen Witwenschaft ihrer Mutter erzählt, gegen die die Tochter mit der Darbietung von Witzen und unglaublichen Geschichten verzweifelt anzugehen suchte und vor der sie Hals über Kopf in die Männerwelt flüchtete, dann bekommen all die verwaisten Betthälften, bekommt der ganze Empty-Bed-Blues dieses Romans seinen Resonanzraum. Und wenn die Feldenkrais-Dozentin Beatrice (ja, natürlich: Dante) von ihrem langjährigen Liebhaber spricht, dem Italiener Giuliano, dem sie als heimliche Zweitfrau einigen rhetorischen Aufwand, nicht aber das Bekenntnis zum gemeinsamen Kind wert war, worauf sie es wunschgemäß abtreiben ließ, dann verliert Leupolds Erzählgestus alles Blumige und kommt zum - dunklen - Punkt. Während Bendix sich der Nachkommenschaft aus Prinzip verweigert, weil er das Geschlecht der Gegenwart für unheilbar verseucht hält, leidet Beatrice als "femme stérile". Die falschen Witwen, versammelt auf einer Bühne des Ersten Weltkriegs, sind tatsächlich tragische Gestalten: "Hängengeblieben an diesem verrückten Ort, einem Massengrab von Lebensgeschichten. Nicht vergessenen, sondern verhinderten, gewaltsam abgebrochenen."
Das gilt in "Die Witwen" auch für die schöne, blonde Laura, die Sex vom ersten Mal an als öd und ekelhaft empfindet und die Pflege der perfekten Maske zum Beruf macht, ehe sie auf Logopädin umsattelt. Und für Penny natürlich, einst Lehrerin, heute Juniorchefin im wirtlosen "Rebstock", die eine poetische Phänomenologie des Wartens entwickelt: als "Absage an das Zeiterleben, das uns regelt". Demgemäß liest sie Penelopes Brauch, der Wiedervereinigung mit dem Gatten zuliebe das tagsüber Gewobene des Nachts wieder aufzutrennen, nicht als Stillstand, sondern als Vertiefung der Existenz.
So lässt sich schließlich auch Dagmar Leupolds Virtuosität deuten. Es gibt eine Reihe von Sätzen, die einem in ihrer Anschaulichkeit geradezu auf der Zunge zergehen. Über einen Mann und seinen Hund zum Beispiel: "Hängendes Gesäß beide, nur Gang, kein Fortschritt." Oder über Giulianos Ringfinger: "aber auch ohne Ring sah der Finger verheiratet aus". Oder wenn es von Dodos Mutter heißt, sie schritt aus, "als wäre der Bürgersteig ihr Gegner". Aber die Bedeutung dieses "Abenteuerromans" liegt nicht im glänzend Gelungenen, sondern im Wissen um die rettende Kraft der Erzählung, die über das Existenzminimum hinausgeht, die stets mehr macht aus Verlust und Verrat, aus Not und Tod: "Wir runden ja auch beim Zählen auf, warum dann nicht beim Erzählen."
So verwundert es nicht, dass die Pilgerschaft am Ende in die umgekehrte Richtung führt, von der Quelle zum Meer - auch wenn kein Odysseus dort je ankommen wird.
DANIELA STRIGL
Dagmar Leupold: "Die Witwen". Ein Abenteuerroman.
Verlag Jung und Jung,
Salzburg 2016. 233 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Private Pilgerschaft: Dagmar Leupolds Roman "Die Witwen" erzählt von Abenteuern der Seele
Das Coverbild, eine Montage von Alexey Kondakov, ist perfekt gewählt: Vier weniger als leicht bekleidete Frauen umgarnen handgreiflich einen ebenfalls nackten, satyrhaften Mann - die altmeisterliche Nymphen-Gruppe ist in das Interieur eines Straßenbahnwagens verpflanzt. Dies passt zu Dagmar Leupolds Faible für die antike Travestie. Die vier Heldinnen ihres jüngsten Romans sind keine Witwen, eine von ihnen könnte immerhin eine sein - ihr Gatte Otto ist seit acht Jahren im Fernen Osten verschollen. Dass die Zurückgebliebene Penny heißt, von Penelope, und mit Hingabe strickt, kann man als etwas aufdringliche Referenz verbuchen. Alle vier Damen in gerade noch mittleren Jahren, Berliner Schulfreundinnen einst, haben sich vor geraumer Zeit im fiktiven Örtchen Steinbronn an der Mosel niedergelassen, in dem die Idylle sie eisern im Griff hat. Es kommt, wie es kommen muss: Sie wollen nicht mehr warten, sie wollen endlich wieder einmal etwas erleben. Denn Witwe sein heißt, wie Dorothea "Dodo" vom abschreckenden Beispiel ihrer Mutter weiß, "starr werden, versteifen. Nichts weht und nichts fließt, und an der Nasenwurzel eine Kerbe vom Schicksalsschlag."
Als Erfüllungsgehilfe bietet sich Bendix an, von Benedikt, der Gebenedeite, der sich stolz Privatier nennt; ein verkrachter Philosoph, vor Jahren von seiner großen Liebe schnöde verlassen, ein Pessimist folglich in eigener wie in allgemeiner Sache, der nicht mehr an das politische Konzept der Freiheit glaubt in einer Zeit, die sich nicht für Lebensentwürfe interessiert, sondern für "Lifestyles". Bendix will und soll den Damen bei ihrer Suche mit ungewisser Aufgabenstellung als Chauffeur dienen. Sein Bierkonsum, behauptet er frech, sei kompatibel "mit anderen Süchten, Sehnsüchten beispielsweise".
Den vier Frauen gefällt an ihm die Mischung aus Gleichmut und Eindringlichkeit, aber auch sein Reiseplan: der Mosel bis an ihre Quelle zu folgen: "Anfänge sind immer unterirdisch." Und so gelangen die Reisenden von einem symbolisch befrachteten Ort zum nächsten, nach Schengen und zum einstigen Schlachtfeld am Hartmannswillerkopf, wo eine Autopanne zum einzigen Ereignis wird, das den Untertitel "Abenteuerroman" im landläufigen Sinn einigermaßen zu rechtfertigen scheint. Das Warten auf den Pannendienst eröffnet einen weiteren Raum für das Erzählen: eine jede trägt ihr Scherflein bei, Bendix leistet Hebammendienste als Zuhörer.
Dass es Dagmar Leupold eher um die Abenteuer der Seele zu tun ist und durchaus auch um ein Lehrstück in Sachen Lebensweisheit, ahnt man bald, und gern möchte man profitieren von paradoxen Erkenntnissen wie der, dass Altern insofern verjüngt, "als es in Unsicherheiten zurückversetzt, die dem Heranwachsen angehört hatten. Allerdings mit dem Unterschied, dass keine Zukunft mehr aufscheinen kann, in der das Unzugängliche, das Beunglückende . . . überwunden sein würde." Der naheliegenden Engführung ins Praktisch-Erotische versagt sich die Erzählerin zum Glück. Dennoch begreifen wir mit den Protagonistinnen, dass die Wunschlosigkeit eingefahrener Lebensgeleise ein "Zustand der Dürftigkeit" ist.
Dem dankbaren Annehmen solcher Einsichten steht allerdings eine gewisse forcierte Munterkeit der Erzählstimme entgegen. Der Leser bewundert ihren Einfallsreichtum en détail, die stilistische Delikatesse und aphoristische Prägnanz und fühlt sich doch auch überfordert von der aufgeregt-aufgeräumten Mitteilsamkeit. Er fragt sich, ob ein Protagonist, der seine Zierfische nach berühmten Philosophen benennt - "Bloch geht es schlecht, Leibniz dagegen gedeiht" -, den Bogen der Originalität nicht überspannt und ob das Fahrzeug von Penelope & Co. wirklich auch noch ein Fiat Ulysse sein muss.
Doch gerade als sich bei der Lektüre Zweifel einstellen, ob unechte Witwen überhaupt Anspruch auf echte Anteilnahme haben, gelingt es Dagmar Leupold, den vier Erzählerinnen im Auto, in dieser "Bergungskapsel" aus "Erdennot", Kontur und Tiefe zu verleihen und so gleichsam rückwirkend die allzu gedehnte Exposition zu veredeln. Man sieht: Das alles weiß die Autorin ohnehin selbst. Weshalb sie Bendix seinem besten Freund (die Briefe gehören zum Romanmaterial) gestehen lässt, Schreiben verleite immer "zur Pose. Schreiben war wie toupieren: Blößen kaschieren, Fülle vortäuschen."
Wenn indes Dodo, die "Partisanin" des Gärtnerns, die überall Pflanzen hinterlässt wie andere Graffiti, von der zementenen Witwenschaft ihrer Mutter erzählt, gegen die die Tochter mit der Darbietung von Witzen und unglaublichen Geschichten verzweifelt anzugehen suchte und vor der sie Hals über Kopf in die Männerwelt flüchtete, dann bekommen all die verwaisten Betthälften, bekommt der ganze Empty-Bed-Blues dieses Romans seinen Resonanzraum. Und wenn die Feldenkrais-Dozentin Beatrice (ja, natürlich: Dante) von ihrem langjährigen Liebhaber spricht, dem Italiener Giuliano, dem sie als heimliche Zweitfrau einigen rhetorischen Aufwand, nicht aber das Bekenntnis zum gemeinsamen Kind wert war, worauf sie es wunschgemäß abtreiben ließ, dann verliert Leupolds Erzählgestus alles Blumige und kommt zum - dunklen - Punkt. Während Bendix sich der Nachkommenschaft aus Prinzip verweigert, weil er das Geschlecht der Gegenwart für unheilbar verseucht hält, leidet Beatrice als "femme stérile". Die falschen Witwen, versammelt auf einer Bühne des Ersten Weltkriegs, sind tatsächlich tragische Gestalten: "Hängengeblieben an diesem verrückten Ort, einem Massengrab von Lebensgeschichten. Nicht vergessenen, sondern verhinderten, gewaltsam abgebrochenen."
Das gilt in "Die Witwen" auch für die schöne, blonde Laura, die Sex vom ersten Mal an als öd und ekelhaft empfindet und die Pflege der perfekten Maske zum Beruf macht, ehe sie auf Logopädin umsattelt. Und für Penny natürlich, einst Lehrerin, heute Juniorchefin im wirtlosen "Rebstock", die eine poetische Phänomenologie des Wartens entwickelt: als "Absage an das Zeiterleben, das uns regelt". Demgemäß liest sie Penelopes Brauch, der Wiedervereinigung mit dem Gatten zuliebe das tagsüber Gewobene des Nachts wieder aufzutrennen, nicht als Stillstand, sondern als Vertiefung der Existenz.
So lässt sich schließlich auch Dagmar Leupolds Virtuosität deuten. Es gibt eine Reihe von Sätzen, die einem in ihrer Anschaulichkeit geradezu auf der Zunge zergehen. Über einen Mann und seinen Hund zum Beispiel: "Hängendes Gesäß beide, nur Gang, kein Fortschritt." Oder über Giulianos Ringfinger: "aber auch ohne Ring sah der Finger verheiratet aus". Oder wenn es von Dodos Mutter heißt, sie schritt aus, "als wäre der Bürgersteig ihr Gegner". Aber die Bedeutung dieses "Abenteuerromans" liegt nicht im glänzend Gelungenen, sondern im Wissen um die rettende Kraft der Erzählung, die über das Existenzminimum hinausgeht, die stets mehr macht aus Verlust und Verrat, aus Not und Tod: "Wir runden ja auch beim Zählen auf, warum dann nicht beim Erzählen."
So verwundert es nicht, dass die Pilgerschaft am Ende in die umgekehrte Richtung führt, von der Quelle zum Meer - auch wenn kein Odysseus dort je ankommen wird.
DANIELA STRIGL
Dagmar Leupold: "Die Witwen". Ein Abenteuerroman.
Verlag Jung und Jung,
Salzburg 2016. 233 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als Buch, das die Weiblichkeit ehrt und Geruhsamkeit fördert, empfiehlt Meike Fessmann mehr oder weniger überschäumend Dagmar Leupolds Roman "Die Witwen". Er erzählt die Geschichte von vier Frauen, keine von ihnen Witwe, die zur Wendezeit aus dem lebhaften Berlin an die ruhige Mosel ziehen. Weil das Leben da letzten Endes aber doch ein wenig zu geruhsam vor sich hinplätschert, entschließen sich die vier zu einem Abenteuer. Sie heuern den Philosophen Benedikt als Chauffeur an und machen sich im Fiat Ulysse auf die Reise, immer der Mosel entlang. Leupold erzählt beflissen von Frauen, die zufrieden sind. Genügsamkeit zieht sich als Motiv durch den Roman, die weibliche Bodenständigkeit und Zuversicht wird auf ein Podest gehoben. Zwar manchmal etwas ins Prätentiöse abgleitend, wie Feßmann findet, macht Leupold doch vieles richtig in ihrem neuen Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.10.2016Irgendwie
übrig
Dagmar Leupold folgt vier Witwen
an die Mosel, zum kleinen Glück
Die Wonnen der Beharrlichkeit – wie selten werden sie besungen! Kein Wunder, es klingt ja auch schnell piefig. Dagmar Leupold wagt es trotzdem. In ihrem neuen Roman erzählt sie von vier Frauen Ende fünfzig, die vor vielen Jahren von Berlin an die Mosel gezogen sind. Die erste, Penelope, genannt Penny, tat es der Liebe wegen. Sie heiratete einen Winzer namens Otto und hat mit ihm einen so gut wie erwachsenen Sohn. Er selbst allerdings ist vor acht Jahren verschwunden. Von einer Geschäftsreise nach Fernost kehrte er nicht zurück. Dorothea, Beatrice und Laura folgten eine nach der anderen, ausgerechnet in der Wendezeit, als alle Welt ins hippe Berlin zog. Die „Erreichbarkeit“ der Freundinnen war ihnen wichtiger als eine „prominente Adresse“, heißt es lapidar. Obwohl der Roman „Die Witwen“ heißt, ist keine von ihnen Witwe. Drei sind weder verheiratet noch haben sie einen Gefährten. Aber sie fühlen sich „ratlos“ und „irgendwie übrig“.
Fein gewirkt aus Alltäglichem und Allegorischem erzählt Dagmar Leupold vom Gefühl, noch einmal etwas erleben zu müssen, und vom Wunsch, sich mit dem kleinen Glück, das in Reichweite liegt, zufriedengeben zu dürfen. „Steinbronn“ nennt sie sinnfällig das sanft von der Mosel umarmte Städtchen, in dem die Deutsch- und Geschichtslehrerin Penny als Winzergattin wirkt, die gleichermaßen schmalhüftige wie stämmige Dodo als Gärtnerin, die feinsinnige Bea als Yogalehrerin und Feldenkrais-Therapeutin und die schöne Laura schließlich als Logopädin. Eigentlich sind die vier recht zufrieden mit ihrem Leben. Sie mögen, was sie tun. Sie glauben daran, dass sie mit ihrer Arbeit die Welt ein kleines bisschen besser machen. Bea zum Beispiel kommt sich vor wie die „Gemeindepflegerin des Zusammenhalts“, wenn die Mühseligen und Beladenen auf blauen Matten sternförmig um sie herum auf dem Boden liegen und Erleichterung suchen.
Die Freundinnen schätzen den Fluss mit seinem wechselnden Licht, sie treffen sich gern, und es gefällt ihnen, dass man sich in Steinbronn auch zufällig über den Weg laufen kann. Aber ihre Genügsamkeit ist ihnen auch suspekt. Also geben sie eine Anzeige auf: für eine „Abenteuerreise“, wie der Roman im Untertitel heißt, suchen sie einen Chauffeur. Etliche Kandidaten werden geprüft. Bald ist klar, wer es werden wird: Benedikt, genannt Bendix, der einzige Mann in Beas Kursen, ein gescheiterter Philosoph, der seit einem Unfall hinkt und von „mickrigen Transferleistungen“ lebt. Er ist es auch, der auf die Idee kommt, man könnte die Mosel bis zur Quelle in den Vogesen hinauffahren, um wenigstens so etwas wie ein Ziel zu haben.
Um es vorwegzunehmen: Lange dauert die Reise nicht, und es wird auch kein echtes Abenteuer daraus. Eher ist man damit beschäftigt, sich nicht auf die Nerven zu gehen. Ausgerechnet auf dem Hartmannswillerkopf, einem der großen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, springt der Wagen, ein Fiat Ulysse, nicht mehr an. Während sie auf den Abschleppdienst warten und sich vorstellen, wie viele Tote dort unter der Erde liegen, beginnen sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Und weil das stillgestellte Automobil ein idealer „Erzähl- und Lauschkokon“ ist, erzählt nun jede auch das, was sie den Freundinnen, die sie seit der Einschulung kennt, bisher verschwieg, weil es allzu intim oder peinlich war.
Dagmar Leupold, die manchmal etwas zum Prätentiösen neigt, erzählt „Die Witwen“ mit großer Lust an der Bodenständigkeit. Klar, auch dieser Roman ist gespickt mit Anspielungen, von Homer über Shakespeare und Dante bis zur Frühromantik, von den kunsthistorischen ganz zu schweigen. Aber das alles ist ins Erzählnetz eingewebt. Es beschwert ihn nicht, macht ihn eher luftiger. Man kann „Die Witwen“ getrost als Hommage an die weiblichen Künste der Zuversicht lesen. Von ihnen wird schließlich auch Bendix angesteckt. Zumindest lernt er, sein wunschloses Unglück nach einer enttäuschten Liebe nicht mehr heimlich in einer Kladde auf den Begriff zu bringen. Stattdessen erzählt er im Märchenton: „Keine isst mit mir, keine trinkt mit mir, keine teilt meinen Schlaf.“ Sein Aquarium, in dem sich Fische mit Philosophennamen tummeln, wird zum zentralen Ding-Symbol des Romans. Es verkörpert die Schönheit der Bewegung auf engstem Raum und den Wunsch, vom In-die-Ferne-Schweifen entlastet zu sein.
MEIKE FESSMANN
Dagmar Leupold:
Die Witwen. Ein Abenteuerroman. Verlag Jung und Jung, Salzburg/Wien 2016. 233 Seiten, 22 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
übrig
Dagmar Leupold folgt vier Witwen
an die Mosel, zum kleinen Glück
Die Wonnen der Beharrlichkeit – wie selten werden sie besungen! Kein Wunder, es klingt ja auch schnell piefig. Dagmar Leupold wagt es trotzdem. In ihrem neuen Roman erzählt sie von vier Frauen Ende fünfzig, die vor vielen Jahren von Berlin an die Mosel gezogen sind. Die erste, Penelope, genannt Penny, tat es der Liebe wegen. Sie heiratete einen Winzer namens Otto und hat mit ihm einen so gut wie erwachsenen Sohn. Er selbst allerdings ist vor acht Jahren verschwunden. Von einer Geschäftsreise nach Fernost kehrte er nicht zurück. Dorothea, Beatrice und Laura folgten eine nach der anderen, ausgerechnet in der Wendezeit, als alle Welt ins hippe Berlin zog. Die „Erreichbarkeit“ der Freundinnen war ihnen wichtiger als eine „prominente Adresse“, heißt es lapidar. Obwohl der Roman „Die Witwen“ heißt, ist keine von ihnen Witwe. Drei sind weder verheiratet noch haben sie einen Gefährten. Aber sie fühlen sich „ratlos“ und „irgendwie übrig“.
Fein gewirkt aus Alltäglichem und Allegorischem erzählt Dagmar Leupold vom Gefühl, noch einmal etwas erleben zu müssen, und vom Wunsch, sich mit dem kleinen Glück, das in Reichweite liegt, zufriedengeben zu dürfen. „Steinbronn“ nennt sie sinnfällig das sanft von der Mosel umarmte Städtchen, in dem die Deutsch- und Geschichtslehrerin Penny als Winzergattin wirkt, die gleichermaßen schmalhüftige wie stämmige Dodo als Gärtnerin, die feinsinnige Bea als Yogalehrerin und Feldenkrais-Therapeutin und die schöne Laura schließlich als Logopädin. Eigentlich sind die vier recht zufrieden mit ihrem Leben. Sie mögen, was sie tun. Sie glauben daran, dass sie mit ihrer Arbeit die Welt ein kleines bisschen besser machen. Bea zum Beispiel kommt sich vor wie die „Gemeindepflegerin des Zusammenhalts“, wenn die Mühseligen und Beladenen auf blauen Matten sternförmig um sie herum auf dem Boden liegen und Erleichterung suchen.
Die Freundinnen schätzen den Fluss mit seinem wechselnden Licht, sie treffen sich gern, und es gefällt ihnen, dass man sich in Steinbronn auch zufällig über den Weg laufen kann. Aber ihre Genügsamkeit ist ihnen auch suspekt. Also geben sie eine Anzeige auf: für eine „Abenteuerreise“, wie der Roman im Untertitel heißt, suchen sie einen Chauffeur. Etliche Kandidaten werden geprüft. Bald ist klar, wer es werden wird: Benedikt, genannt Bendix, der einzige Mann in Beas Kursen, ein gescheiterter Philosoph, der seit einem Unfall hinkt und von „mickrigen Transferleistungen“ lebt. Er ist es auch, der auf die Idee kommt, man könnte die Mosel bis zur Quelle in den Vogesen hinauffahren, um wenigstens so etwas wie ein Ziel zu haben.
Um es vorwegzunehmen: Lange dauert die Reise nicht, und es wird auch kein echtes Abenteuer daraus. Eher ist man damit beschäftigt, sich nicht auf die Nerven zu gehen. Ausgerechnet auf dem Hartmannswillerkopf, einem der großen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, springt der Wagen, ein Fiat Ulysse, nicht mehr an. Während sie auf den Abschleppdienst warten und sich vorstellen, wie viele Tote dort unter der Erde liegen, beginnen sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Und weil das stillgestellte Automobil ein idealer „Erzähl- und Lauschkokon“ ist, erzählt nun jede auch das, was sie den Freundinnen, die sie seit der Einschulung kennt, bisher verschwieg, weil es allzu intim oder peinlich war.
Dagmar Leupold, die manchmal etwas zum Prätentiösen neigt, erzählt „Die Witwen“ mit großer Lust an der Bodenständigkeit. Klar, auch dieser Roman ist gespickt mit Anspielungen, von Homer über Shakespeare und Dante bis zur Frühromantik, von den kunsthistorischen ganz zu schweigen. Aber das alles ist ins Erzählnetz eingewebt. Es beschwert ihn nicht, macht ihn eher luftiger. Man kann „Die Witwen“ getrost als Hommage an die weiblichen Künste der Zuversicht lesen. Von ihnen wird schließlich auch Bendix angesteckt. Zumindest lernt er, sein wunschloses Unglück nach einer enttäuschten Liebe nicht mehr heimlich in einer Kladde auf den Begriff zu bringen. Stattdessen erzählt er im Märchenton: „Keine isst mit mir, keine trinkt mit mir, keine teilt meinen Schlaf.“ Sein Aquarium, in dem sich Fische mit Philosophennamen tummeln, wird zum zentralen Ding-Symbol des Romans. Es verkörpert die Schönheit der Bewegung auf engstem Raum und den Wunsch, vom In-die-Ferne-Schweifen entlastet zu sein.
MEIKE FESSMANN
Dagmar Leupold:
Die Witwen. Ein Abenteuerroman. Verlag Jung und Jung, Salzburg/Wien 2016. 233 Seiten, 22 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de