Sonntag, 20. Januar 2008: Die Leitung der Société Générale entdeckt, dass Jérôme Kerviel im Namen der französischen Großbank mit 50 Milliarden Euro spekuliert hat. Hugues Le Bret sitzt »im Cockpit«. Er schildert im Stundentakt den genauen Ablauf: wie die Verluste, die Kerviel verschleiert hatte, ans Licht kamen und wie es der Société Générale gelang, den Bankrott abzuwenden. Als einer der fünf leitenden Bankmanager ist Le Bret unmittelbar mit dem Handling der Krise befasst. Zusammen mit der Finanzaufsicht – aber ohne Einschaltung der Politik – arbeiten sie an der Rettung des Weltfinanzsystems; die Rechnungseinheit ist eine Milliarde Euro. Eine weltweite Katastrophe, ein neuer »schwarzer Freitag« kann abgewendet werden. Nach der Verurteilung Kerviels entschloss sich Le Bret, sein Schweigen zu brechen. Nie zuvor hat jemand die Finanzwelt in ihrer tiefsten Krise so schonungslos dargestellt. Le Bret teilt die Akteure nicht in Gut und Böse, sondern zeigt Männer und Frauen, die das Undenkbare erleben, Mächtige, die auf einmal verwundbar sind, hochprofessionelle Manager, denen die größte Spekulationsblase der Geschichte die Sicht vernebelt hat. Ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis der Finanzkrise, ein persönliches Zeugnis, eine rückhaltlose Selbstprüfung.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.01.2011Der Verrückte
Der Franzose Jérôme Kerviel hätte beinahe das Weltfinanzsystem in die Luft gejagt
Die Tage waren aufreibend. Die Herren Manager standen unter Schock. In der französischen Bank Société Générale war im Januar 2008 ein junger Wertpapierhändler aufgefallen. Er hatte unerlaubt hochriskante Finanzgeschäfte gemacht. Der Umfang seiner Zockerei war zunächst unklar. Bald stellt sich heraus: Der Bankangestellte Jérôme Kerviel hatte Scheintransaktionen in Höhe von 50 Milliarden Euro abgewickelt und geht damit als einer der größten Betrüger in die Bankgeschichte ein.
Die Bank wackelt, die Regierung in Paris ist außer sich, die Aktienkurse stürzen in die Tiefe. Wäre nicht ein paar Monate später, im September 2008, die US-Investmentbank Lehman Brothers spektakulär pleitegegangen und wäre diese vermeintliche Edelbank nicht der direkte Auslöser der Weltfinanzkrise geworden, der Fall von Jérôme Kerviel hätte in der Erinnerung einen weit prominenteren Platz, als er ihn heute hat.
Im Oktober 2010 wurde der heute 33-Jährige vor einem Gericht in Paris zur Rückzahlung des Schadens von 4,9 Milliarden Euro verurteilt. Das machte Schlagzeilen. Ein Buch hat er auch geschrieben. Das brachte ihn wieder in Erinnerung. Jetzt gibt es noch ein Buch, es erscheint unter dem (aus dem Französischen übernommenen) reißerischen Titel „Die Woche, in der Jérôme Kerviel beinahe das Weltfinanzsystem gesprengt hätte“.
Der Titel ist berechtigt. Kerviel hätte das globale Bankensystem leicht durcheinanderwerfen können. Der Autor, Hugues Le Bret, erzählt die Geschichte aus der Position eines Beteiligten. „Ich hatte dabei einen Logenplatz.“ Le Bret war Vorstandsmitglied der Bank und für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich.
Er erzählt spannend in Tagebuchform, wie die Fakten seit 20. Januar 2008 scheibchenweise zum Vorschein kamen, wie das Management verzweifelt versuchte, die Vorgänge zu verstehen und wie es um einen Ausweg rang. Die Bank war in Gefahr. „Wenn eine Bank dieser Größenordnung zusammenbricht, reißt sie andere mit“, schreibt Le Bret – „ich habe Angst“. Die Banker fürchten, die Franzosen könnten sich in Schlangen vor die Bankschalter stellen, um ihr Geld zu retten.
Die Chefs der Bank bekommen keinen Schlaf, eine Krisensitzung folgt auf die andere. Telefonate. „Alles passiert sehr schnell, wie im Cockpit eines Flugzeuges in einer Notsituation.“ Einer ist schuldig, das ist schnell klar: Kerviel. Er ist in der Bank „dieser Verrückte“, der riskiert, „dass 160 000 Mitarbeiter der Société Générale ihre Jobs verlieren und eine Panik ausbricht.“
Es brennt an allen Enden, und die Banker begreifen, dass offenbar jeder, der ein bisschen Erfahrung hat, in der Bank alle hinters Licht führen und gigantische betrügerische Positionen aufbauen kann. Was tun? Müssen wir den Präsidenten informieren? Die Banker entscheiden sich dagegen. Die Politiker sollen von dem Desaster erst erfahren, wenn eine Lösung absehbar ist. Es dauerte vier Tage, bis die Bank an die Öffentlichkeit ging. Sie überstand die Krise, wenn auch nur knapp. Le Bret lobt den Bankchef Daniel Bouton – der sich erst nach mehr als einem Jahr zum Rücktritt bereitfand – für die meisterhafte Abwicklung dieser Krise.
Da fragt sich der Leser, ob da nicht eine Frage fehlt. Wie kann es sein, dass ein junger Mann Geschäfte abwickeln darf, die das gesamte Weltfinanzsystem in die Luft jagen könnten, und keiner in der Bank merkt etwas?
Diese Frage tauchte auch 1994 schon auf, als der Engländer Nick Leeson die britische Barings Bank durch wilde Spekulationsgeschäfte auslöschte. Der Autor stellt nicht einmal die Frage, welche Kontrollen solche Alleingänge hätten verhindern müssen. Für die normalen Franzosen ist Kerviel seit Auffliegen der Vorgänge das Bauernopfer. Die Schuld sehen sie beim nachlässigen Management. Das liest sich bei Le Bret anders. Dass der Autor Teil des Managements war, ermöglicht zwar einen interessanten Einblick in die Führungsetage einer Krisenbank und ihre Panik in der Kerviel-Krise. Eben deshalb aber kann der Autor keine Schuld an sich und seinen Vorstandskollegen finden. Das ist die entscheidende Schwäche dieses Buchs. KARL-HEINZ BÜSCHEMANN
HUGUES LE BRET: Die Woche, in der Jérôme Kerviel beinahe das Weltfinanzsystem gesprengt hätte. Ein Insiderbericht. Aus dem Französischen von Dagmar Malleke und Ursel Schäfer. Kunstmann-Verlag, München 2011. 280 Seiten, 18 Euro.
„Was tun? Müssen wir
den Präsidenten informieren?“
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Der Franzose Jérôme Kerviel hätte beinahe das Weltfinanzsystem in die Luft gejagt
Die Tage waren aufreibend. Die Herren Manager standen unter Schock. In der französischen Bank Société Générale war im Januar 2008 ein junger Wertpapierhändler aufgefallen. Er hatte unerlaubt hochriskante Finanzgeschäfte gemacht. Der Umfang seiner Zockerei war zunächst unklar. Bald stellt sich heraus: Der Bankangestellte Jérôme Kerviel hatte Scheintransaktionen in Höhe von 50 Milliarden Euro abgewickelt und geht damit als einer der größten Betrüger in die Bankgeschichte ein.
Die Bank wackelt, die Regierung in Paris ist außer sich, die Aktienkurse stürzen in die Tiefe. Wäre nicht ein paar Monate später, im September 2008, die US-Investmentbank Lehman Brothers spektakulär pleitegegangen und wäre diese vermeintliche Edelbank nicht der direkte Auslöser der Weltfinanzkrise geworden, der Fall von Jérôme Kerviel hätte in der Erinnerung einen weit prominenteren Platz, als er ihn heute hat.
Im Oktober 2010 wurde der heute 33-Jährige vor einem Gericht in Paris zur Rückzahlung des Schadens von 4,9 Milliarden Euro verurteilt. Das machte Schlagzeilen. Ein Buch hat er auch geschrieben. Das brachte ihn wieder in Erinnerung. Jetzt gibt es noch ein Buch, es erscheint unter dem (aus dem Französischen übernommenen) reißerischen Titel „Die Woche, in der Jérôme Kerviel beinahe das Weltfinanzsystem gesprengt hätte“.
Der Titel ist berechtigt. Kerviel hätte das globale Bankensystem leicht durcheinanderwerfen können. Der Autor, Hugues Le Bret, erzählt die Geschichte aus der Position eines Beteiligten. „Ich hatte dabei einen Logenplatz.“ Le Bret war Vorstandsmitglied der Bank und für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich.
Er erzählt spannend in Tagebuchform, wie die Fakten seit 20. Januar 2008 scheibchenweise zum Vorschein kamen, wie das Management verzweifelt versuchte, die Vorgänge zu verstehen und wie es um einen Ausweg rang. Die Bank war in Gefahr. „Wenn eine Bank dieser Größenordnung zusammenbricht, reißt sie andere mit“, schreibt Le Bret – „ich habe Angst“. Die Banker fürchten, die Franzosen könnten sich in Schlangen vor die Bankschalter stellen, um ihr Geld zu retten.
Die Chefs der Bank bekommen keinen Schlaf, eine Krisensitzung folgt auf die andere. Telefonate. „Alles passiert sehr schnell, wie im Cockpit eines Flugzeuges in einer Notsituation.“ Einer ist schuldig, das ist schnell klar: Kerviel. Er ist in der Bank „dieser Verrückte“, der riskiert, „dass 160 000 Mitarbeiter der Société Générale ihre Jobs verlieren und eine Panik ausbricht.“
Es brennt an allen Enden, und die Banker begreifen, dass offenbar jeder, der ein bisschen Erfahrung hat, in der Bank alle hinters Licht führen und gigantische betrügerische Positionen aufbauen kann. Was tun? Müssen wir den Präsidenten informieren? Die Banker entscheiden sich dagegen. Die Politiker sollen von dem Desaster erst erfahren, wenn eine Lösung absehbar ist. Es dauerte vier Tage, bis die Bank an die Öffentlichkeit ging. Sie überstand die Krise, wenn auch nur knapp. Le Bret lobt den Bankchef Daniel Bouton – der sich erst nach mehr als einem Jahr zum Rücktritt bereitfand – für die meisterhafte Abwicklung dieser Krise.
Da fragt sich der Leser, ob da nicht eine Frage fehlt. Wie kann es sein, dass ein junger Mann Geschäfte abwickeln darf, die das gesamte Weltfinanzsystem in die Luft jagen könnten, und keiner in der Bank merkt etwas?
Diese Frage tauchte auch 1994 schon auf, als der Engländer Nick Leeson die britische Barings Bank durch wilde Spekulationsgeschäfte auslöschte. Der Autor stellt nicht einmal die Frage, welche Kontrollen solche Alleingänge hätten verhindern müssen. Für die normalen Franzosen ist Kerviel seit Auffliegen der Vorgänge das Bauernopfer. Die Schuld sehen sie beim nachlässigen Management. Das liest sich bei Le Bret anders. Dass der Autor Teil des Managements war, ermöglicht zwar einen interessanten Einblick in die Führungsetage einer Krisenbank und ihre Panik in der Kerviel-Krise. Eben deshalb aber kann der Autor keine Schuld an sich und seinen Vorstandskollegen finden. Das ist die entscheidende Schwäche dieses Buchs. KARL-HEINZ BÜSCHEMANN
HUGUES LE BRET: Die Woche, in der Jérôme Kerviel beinahe das Weltfinanzsystem gesprengt hätte. Ein Insiderbericht. Aus dem Französischen von Dagmar Malleke und Ursel Schäfer. Kunstmann-Verlag, München 2011. 280 Seiten, 18 Euro.
„Was tun? Müssen wir
den Präsidenten informieren?“
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Durchaus angetan zeigt sich Karl-Heinz Büschemann von Hugues Le Brets Buch "Die Woche, in der Jerome Kerviel beinahe das Weltfinanzsystem gesprengt hätte". Der etwas reißerische Titel scheint ihm berechtigt, schließlich hat Kerviel, ein junger Wertpapierhändler bei der französischen Bank Societe Generale, Scheintransaktionen in Höhe von 50 Milliarden Euro abgewickelt und damit nicht nur seine Bank in den Grundfesten erschüttert. Le Bret, damals Kommunikationschef der Bank, erzählt diese Geschichte nach Büschemanns Meinung sehr packend: in Tagebuchform schildert er die Panik der Banker, die um sich greift, als die Fakten im Januar 2008 nach und nach ans Licht kommen, die zahllosen Krisensitzungen und die letztlich geglückte Abwicklung der Krise. Negativ wertet Büschemann, dass der Autor keine Selbstkritik übt. Die Frage, welche Kontrollen solche Alleingänge hätten verhindern müssen, werde nicht einmal gestellt. Darin liegt für den Rezensenten die - vielleicht erwartbare - große Schwäche des Buchs.
© Perlentaucher Medien GmbH
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