Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2005Die Rückeroberung
Zwischen Quatsch und Grauen: "Die Wölfe in den Wänden"
Denkt man an jene reichen inneren Bilder, die sich mit dem Keller, dem Dachboden oder der Küche verbinden, dann erscheinen die Wände in den Phantasien des Hauses und des Wohnens als recht unscheinbare Phänomene. Dennoch haben auch sie ihren Imaginationsfundus, zu dem die Vorstellung von Zwischenräumen oder Verstecken gehört, von unsichtbaren Orten und ihren heimlich-unheimlichen Bewohnern, die sich nur durch Geräusche verraten. Die Erzählungen von der Existenz unzähliger Ratten in den Wänden mancher Gebäude nähren solche Phantasien und verweisen sie zugleich an den aufgeklärten Verstand. Auch Lucys Eltern und ihr Bruder erklären das Knacken und Kratzen im alten Haus mit der Existenz von Mäusen, Ratten oder Fledermäusen. Lucy weiß es besser, hat sie doch selbst eine ganze Wand mit Wolfszeichnungen bekritzelt - Bilder des Banns und der Faszination.
Nachts hört sie die Unsichtbaren in den Wänden "wölfische Verschwörungen" schmieden. Bald danach brechen Wölfe aus den Wänden hervor und machen es sich mit Marmelade, Fernsehen und Popcorn im Haus gemütlich. Lucys Familie flieht aus der goldbraunen Wärme in die blaue, kalte Gartennacht. Aber welches kleine Mädchen, das sein Kuschelschweinchen im Haus vergessen hat, läßt sich durch Wölfe abschrecken? Lucy kehrt ins Haus zurück, schleicht nun selbst hinter den Wänden in ihr von den Wölfen besetztes Zimmer und rettet das Schweinchen. Dann führt sie die obdachlose, frierende Familie in den warmen Raum zwischen den Wänden, von wo sie die Rückeroberung des Hauses tatkräftig einleitet.
Der englische Comiczeichner und Filmemacher Dave McKean und der Autor Neil Gaiman haben schon oft zusammengearbeitet. Das ist der Geschichte von Lucy und den Wölfen anzumerken, in der Text und Bilder mit Comic- und Filmelementen zur hybriden Bilderbuchsprache verschmelzen. Collage, Fotomontage, Malerisches und doppelseitige dynamisch-expressive Federzeichnungen wechseln mit ordentlich-statischen Blättern, die in vier regelmäßige Panels aufgeteilt und meist den Dialogen zwischen Lucy und den anderen Familienmitgliedern gewidmet sind. Die Schrift paßt sich den Hintergründen an, wechselt vom Schwarz ins Weiß, schwillt zu großen, fetten Lettern an, macht sich wieder klein und tobt mit den Wölfen treppauf, treppab. Die Gartennacht zaubert aus Wolken, Blumen, Zweigen und dem Feuer vertraute und seltsame, traumhaft ephemere Gestalten. Innere und äußere Bilder gleiten ineinander, wenn Lucy im Garten Landkarten betrachtet und ein Segelschiff sich darauf seinen Weg durch die Ozeane sucht, während auf der Wiese Inseln, Längen- und Breitengrade sichtbar werden, Bäume sich zu Kompaß und Windrose verwandeln.
McKean zieht lustvoll alle Register des Grusels, zoomt Lucys verängstigtes Gesicht dicht an den Betrachter heran und spielt mit bedrohlichen Schatten, schwarzen Flächen und blutroten Flecken. Die mit der Feder gezeichneten Wölfe läßt er ihre Rachen weit aufreißen und malt ihnen böse gelbe Augen ins Gesicht. Ein beängstigendes Bilderbuch, das Albträume beim Kind hervorrufen wird? Vielleicht. Doch auch vor Sendaks "Wo die wilden Kerle wohnen" wurde früher zum Schutz der Kinderseele heftig gewarnt. Wie das große Vorbild spielt McKean mit dem magischen Bild im Bild; er integriert Kinderzeichnungen - Manifestationen kindlicher Phantasie und Menetekel, die unweigerlich das, was sie darstellen, zum Leben im verborgenen Zwischenraum der Wände erwecken. Haben Lucys Kritzelbilder anfangs die Wölfe heraufbeschworen, so kündigt eine Familienzeichnung später die Menschen an, die ihrerseits die Wölfe vertreiben werden (auch ist der Elefant zu beachten, unter dessen Bild sich ein Wolf auf Lucys Bett räkelt). Und hat Lucy nicht selbst die Augenlöcher ausgeschnitten, durch die zwei schwarze Pupillen auf roter Iris uns unverwandt anstarren?
Die Wölfe sehen grauenerregend aus, aber sie haben eine eigentümliche Vorliebe für unwölfischen Quatsch, fürs Verkleiden mit Papas Hosen und Mamas Schal, für Süßigkeiten, Videospiele und Witze. Sie schmieren Marmelade an die Wände und können die Pfoten nicht von Papas zweitbester Tuba lassen. Ihre anarchischen Lustbarkeiten sind vom selben Stoff wie Lucys katastrophale Ängste - so feiert noch die horrorverliebte Popkunst den Mythos des schöpferischen Kindes.
GUNDEL MATTENKLOTT
Neil Gaiman (Text) und Dave McKean (Bilder): "Die Wölfe in den Wänden". Aus dem Englischen übersetzt von Zoran Drvenkar. Carlsen Verlag, Hamburg 2005. 56 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Quatsch und Grauen: "Die Wölfe in den Wänden"
Denkt man an jene reichen inneren Bilder, die sich mit dem Keller, dem Dachboden oder der Küche verbinden, dann erscheinen die Wände in den Phantasien des Hauses und des Wohnens als recht unscheinbare Phänomene. Dennoch haben auch sie ihren Imaginationsfundus, zu dem die Vorstellung von Zwischenräumen oder Verstecken gehört, von unsichtbaren Orten und ihren heimlich-unheimlichen Bewohnern, die sich nur durch Geräusche verraten. Die Erzählungen von der Existenz unzähliger Ratten in den Wänden mancher Gebäude nähren solche Phantasien und verweisen sie zugleich an den aufgeklärten Verstand. Auch Lucys Eltern und ihr Bruder erklären das Knacken und Kratzen im alten Haus mit der Existenz von Mäusen, Ratten oder Fledermäusen. Lucy weiß es besser, hat sie doch selbst eine ganze Wand mit Wolfszeichnungen bekritzelt - Bilder des Banns und der Faszination.
Nachts hört sie die Unsichtbaren in den Wänden "wölfische Verschwörungen" schmieden. Bald danach brechen Wölfe aus den Wänden hervor und machen es sich mit Marmelade, Fernsehen und Popcorn im Haus gemütlich. Lucys Familie flieht aus der goldbraunen Wärme in die blaue, kalte Gartennacht. Aber welches kleine Mädchen, das sein Kuschelschweinchen im Haus vergessen hat, läßt sich durch Wölfe abschrecken? Lucy kehrt ins Haus zurück, schleicht nun selbst hinter den Wänden in ihr von den Wölfen besetztes Zimmer und rettet das Schweinchen. Dann führt sie die obdachlose, frierende Familie in den warmen Raum zwischen den Wänden, von wo sie die Rückeroberung des Hauses tatkräftig einleitet.
Der englische Comiczeichner und Filmemacher Dave McKean und der Autor Neil Gaiman haben schon oft zusammengearbeitet. Das ist der Geschichte von Lucy und den Wölfen anzumerken, in der Text und Bilder mit Comic- und Filmelementen zur hybriden Bilderbuchsprache verschmelzen. Collage, Fotomontage, Malerisches und doppelseitige dynamisch-expressive Federzeichnungen wechseln mit ordentlich-statischen Blättern, die in vier regelmäßige Panels aufgeteilt und meist den Dialogen zwischen Lucy und den anderen Familienmitgliedern gewidmet sind. Die Schrift paßt sich den Hintergründen an, wechselt vom Schwarz ins Weiß, schwillt zu großen, fetten Lettern an, macht sich wieder klein und tobt mit den Wölfen treppauf, treppab. Die Gartennacht zaubert aus Wolken, Blumen, Zweigen und dem Feuer vertraute und seltsame, traumhaft ephemere Gestalten. Innere und äußere Bilder gleiten ineinander, wenn Lucy im Garten Landkarten betrachtet und ein Segelschiff sich darauf seinen Weg durch die Ozeane sucht, während auf der Wiese Inseln, Längen- und Breitengrade sichtbar werden, Bäume sich zu Kompaß und Windrose verwandeln.
McKean zieht lustvoll alle Register des Grusels, zoomt Lucys verängstigtes Gesicht dicht an den Betrachter heran und spielt mit bedrohlichen Schatten, schwarzen Flächen und blutroten Flecken. Die mit der Feder gezeichneten Wölfe läßt er ihre Rachen weit aufreißen und malt ihnen böse gelbe Augen ins Gesicht. Ein beängstigendes Bilderbuch, das Albträume beim Kind hervorrufen wird? Vielleicht. Doch auch vor Sendaks "Wo die wilden Kerle wohnen" wurde früher zum Schutz der Kinderseele heftig gewarnt. Wie das große Vorbild spielt McKean mit dem magischen Bild im Bild; er integriert Kinderzeichnungen - Manifestationen kindlicher Phantasie und Menetekel, die unweigerlich das, was sie darstellen, zum Leben im verborgenen Zwischenraum der Wände erwecken. Haben Lucys Kritzelbilder anfangs die Wölfe heraufbeschworen, so kündigt eine Familienzeichnung später die Menschen an, die ihrerseits die Wölfe vertreiben werden (auch ist der Elefant zu beachten, unter dessen Bild sich ein Wolf auf Lucys Bett räkelt). Und hat Lucy nicht selbst die Augenlöcher ausgeschnitten, durch die zwei schwarze Pupillen auf roter Iris uns unverwandt anstarren?
Die Wölfe sehen grauenerregend aus, aber sie haben eine eigentümliche Vorliebe für unwölfischen Quatsch, fürs Verkleiden mit Papas Hosen und Mamas Schal, für Süßigkeiten, Videospiele und Witze. Sie schmieren Marmelade an die Wände und können die Pfoten nicht von Papas zweitbester Tuba lassen. Ihre anarchischen Lustbarkeiten sind vom selben Stoff wie Lucys katastrophale Ängste - so feiert noch die horrorverliebte Popkunst den Mythos des schöpferischen Kindes.
GUNDEL MATTENKLOTT
Neil Gaiman (Text) und Dave McKean (Bilder): "Die Wölfe in den Wänden". Aus dem Englischen übersetzt von Zoran Drvenkar. Carlsen Verlag, Hamburg 2005. 56 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 6 J.
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Neil Gaiman verbindet klassische Erzählstränge, (...) er verschwendet bei der genüsslichen Steigerung der Spannung keine Worte und löst dann, mit explodierendem Witz, ein prickelndes Gefühl der Erleichterung aus. (The Guardian)
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Jens Thiele lobt dieses Bilderbuch, in dem gruselige Wölfe aus den Wänden in das vertraute Zuhause der kleinen Lucy einbrechen und sie und ihre Familie aus dem Haus vertreiben, als "mutig und überraschend". Indem der Autor Neil Gaiman auf jegliche "pädagogische Aussage" verzichtet und sich die Geschichte "bewusst verrätselt" gibt, entsteht so etwas wie eine "Gruselgeschichte im Bilderbuchgewand", die aber immer wieder durch "Witz" aufgebrochen wird, versichert der Rezensent. Das entschädigt ihn auch für "manch unnötige Schleife" in der Erzählung, die die Handlung mitunter etwas "schlingern lässt", wie er zugibt. Auch die Illustrationen von Dave McKean begeistern Thiele, wobei er insbesondere den "Kontrast" zwischen den "farbigen flächigen Bildern", die Lucy und ihre Familie in ihrem Zuhause zeigen, und den Wölfen, die mit der Feder gezeichnet sind, sehr gelungen findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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