Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250102939
  • Artikelnr.: 06327837
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.1996

Schwarze Erde
Ossip Mandelstams "Woronescher Hefte" · Von Harald Hartung

Im November 1933 schrieb Ossip Mandelstam jenes folgenreiche Epigramm gegen Stalin, das den Diktator als "Verderber der Seelen und Bauernabschlächter" bezeichnete. In den Augen des Untersuchungsrichters war das "ein beispielloses konterrevolutionäres Dokument", und Mandelstam hätte mit der sofortigen Erschießung bestraft werden können. Kaum aus Milde, eher aus sadistischer Laune, lautete Stalins Direktive "Isolieren, aber erhalten". So wurde der Dichter zu drei Jahren Verbannung im Perm-Gebiet verurteilt. Noch in der Untersuchungshaft hatte Mandelstam einen Selbstmordversuch unternommen, ein zweiter folgte im Juni 1934 in dem Verbannungsort Tscherdyn.

Nadeschda Mandelstam telegrafierte ans ZK, erlangte Bucharins Unterstützung und erreichte - auch mit der Hilfe Pasternaks und Anna Achmatowas - eine Revision des Urteils. Die Mandelstams durften sich den Ort der Verbannung aussuchen - sofern es sich nicht um Moskau, Leningrad oder eine von zehn weiteren größeren Städten handelte. Sie wählten Woronesch.

Das "Rabennest", wie Mandelstam es nannte, bot zunächst noch kleine Verdienstmöglichkeiten beim lokalen Radio, aber dem Geächteten, den eine Zeitung im Ort als "Trotzkisten und Klassenfeind" bezeichnete, kaum gesellschaftlichen Umgang oder Gespräch. Ein wenig Kompensation leistete das Kino. Dort liefen "City Lights" und "Modern Times" - und Chaplin erscheint in einem später geschriebenen Gedicht als Gegenfigur zu Stalin.

Wahrhaft inspirierend wurde für Mandelstam die "Schwarzerde" der Landschaft um Woronesch, der dunkle und fruchtbare Boden, der dieser Region Mittelrußlands seinen Namen gegeben hat. Es ist erstaunlich, welche Fülle an Motiven der Dichter dieser Landschaft abgewann. Sie wird ihm zum Symbol für die noch unverlorene Fülle des Lebens. Eines der ersten Woronescher Gedichte grüßt die "Schwarzerde" als "Freiheitserde" und schließt: Wie schön die fette Schicht, die auf der Pflugschar liegt, Wie still die Steppe, der April vermischt die Wege . . .

Ich grüß' dich, Schwarze Erde - Auge, du sei unbesiegt: Ein schwarzberedtes Schweigen will sich regen.

Diesem "schwarzberedten Schweigen" entwuchs nun Gedicht um Gedicht. Sie alle zeugen von Mandelstams Willen, weiterzudichten, weiterzusprechen. Dafür findet der Dichter das schöne Bild der sich bewegenden Lippen. Am Schluß eines Vierzeilers, der aufzählt, was alles verlorenging, heißt es selbstbewußt: "Die Lippen rühren sich, ihr könnt mir sie nicht nehmen."

Schon wie von jenseits gesprochen erscheint das Motiv in einem titellosen Gedicht vom Mai 1935: "Ich liege in der Erde, rühre meine Lippen -/Ein jeder Schüler wird einst lernen, was ich sag'." Das klingt wie ein Vermächtnis, aber was meint die Ausdehnung der sowjetischen Herrschaft "bis ins Reisfeldland hinunter", wenn der Schluß lautet: "Solang' auf dieser Welt ein letzter unfrei lebt"? Der Übersetzer Ralph Dutli meint, daß sich auch verstehen ließe: "Bis auf der Welt der letzte unfrei lebt" - und der Text würde zur sarkastischen Kritik an Stalins Expansionsgelüsten.

Mandelstam mag in der ersten Woronescher Zeit manchmal geneigt gewesen sein, sein Überleben von Stalins Gnaden als eine "Schuld" zu begreifen. Diese Skrupel wurden allzubald hinfällig. Er fühlte rasch "die Schlinge um den Hals". Nun war er zu einem äußersten Kompromiß bereit, um sich und seine Frau zu retten: Er schrieb, im Januar 1937, eine "Ode auf Stalin". Der Dichter, der sonst seine Gedichte im Sprechen entwarf und einmal gemeint hatte: "Ganz allein in Rußland arbeite ich nach meiner Stimme, doch ringsum schreibt das dickfellige Pack", mußte die wesensfremde Produktion erzwingen. So beginnt die "Ode" auch eigentümlich umständlich, ja gewunden: Wenn ich zur Kohle griffe für das höchste Lob Für eine Zeichnung unverbrüchlicher Freude, Würd' ich die Luft mit Linien teilen atemlos In listige Winkel, vorsichtig, mich scheuend.

Hinter solchen Bedingungen und Reservationen, hinter der Figur des Zeichners und Malers, der Mandelstam eben nicht war, wird fast provozierend die Unlust spürbar, den sich selbst auferlegten Auftrag auszuführen. "Eine Krankheit" soll Mandelstam das Gedicht genannt haben.

Natürlich hat es nicht an Stimmen gefehlt, die die Stalin-Ode als ernsthafte Annäherung an den Sozialismus ansehen wollten - oder doch als Kapitulation vor dem Diktator. Dutlis hilfreicher Kommentar verzeichnet aber auch die viel überzeugenderen gegenläufigen Deutungen. Sie demonstrieren, wie Mandelstam seine rhetorische Oberflächenstrategie unterläuft und den Text in sein eigenes Gegenbild verwandelt: Lob verkehrt sich in Verdammung. Das müssen die Redakteure damals begriffen haben: Keine Zeitschrift wagte es, die Stalin-Ode zu drucken.

Man weiß, daß die Ode ihren Dichter nicht rettete. Das "Woronescher Wunder", wie Nadeschda Mandelstam den Aufschub nannte, endete im März 1938. Während nach einem weiteren Moskauer Schauprozeß Bucharin erschossen wird, erhalten die Mandelstams überraschend einen Sanatoriumsaufenthalt zugesprochen. Es ist eine Falle: Mandelstam wird erneut verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Er stirbt in einem Transitlager bei Wladiwostok, am 27. Dezember 1938. Das letzte Gedicht der "Woronescher Hefte" ist an eine Freundin gerichtet, und seine letzten Zeilen lauten: "Die Blumen sind unsterblich. Himmel - unteilbar./Und das, was sein wird, ist nur ein Versprechen."

Das eigentliche Wunder aber ist, daß dieses gute Hundert später Gedichte überhaupt auf die Nachwelt gekommen ist. Es ist das Verdienst Nadeschda Mandelstams, die Zettelverstecke anlegte, einzelnen Vertrauten Kopien übergab und all diese Gedichte samt ihren Varianten auswendig lernte. Mandelstams Stimme war nicht auf Papier angewiesen, sie überlebte im Gedächtnis seiner Frau. Ihr konnten die "Furien mit dem Durchsuchungsbefehl", von denen Joseph Brodsky in seinem Mandelstam-Essay spricht, nichts anhaben. Man muß auch Mandelstams getreuem Übersetzer Ralph Dutli danken, der mit der Edition der "Woronescher Hefte" seine sorgfältig gemachte Gesamtausgabe des Dichters abschließt.

Ossip Mandelstam: "Die Woronescher Hefte". Letzte Gedichte 1935-1937. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. Ammann Verlag, Zürich 1996. 407 S., geb., 68,- DM.

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