März 2020: Ein protestantischer Pfarrer in der Uckermark, der dem Tod ins Auge blickt. Eine Anästhesistin der Charité, die mit einem Rabbi zusammen in Quarantäne gerät. Ein Kunststudent, der heillos in seine Professorin verliebt ist und in eine Welt der Betäubung abdriftet. Und Selma, die Enkelin, Tochter und Schwester der Genannten, die diese Familie irgendwie zusammenhalten soll - keine leichte Aufgabe in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln, in denen Distanz zur Tugend wird und Nähe zum Problem. Die vier auseinandergerissenen Familienmitglieder sind weniger durch Ähnlichkeit miteinander verbunden als durch eine gemeinsame Leerstelle: Holger, Pfarrerssohn, Ex-Mann und Vater der Protagonisten befindet sich nach einem Suizidversuch in einer Klinik und ist nunmehr so gut wie unerreichbar. Für jede der Figuren bedeutet er eine Lücke, einen Phantomschmerz der anderen Art. Doch Holger ist nicht der einzige Abwesende, der im Leben der Familienmitglieder viel präsenter ist, als sie es wahrhaben wollen. Die Verschwundenen - Lebende wie Tote - und die Wut- und Schuldgeschichten, die zu ihnen führen, kommen immer mehr zum Vorschein in dieser extremen, brennglasartigen Zeit.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für den Rezensenten Harald Eggebrecht gelingt John von Drüffels Versuch, die Lockdown-Erfahrung literarisch zu verarbeiten, leider nicht. So bleibe der Lockdown nur eine behauptete Komponente in der "Versuchsanordnung" des Romans, die mit den innerfamiliären Konflikten, um die es geht - ein Pfarrer, der den Kontakt zu seinem entfremdeten Sohn sucht, dessen Tochter, die Opfer einer Vergewaltigung wird, und ihre Mutter, die im Gesundheitswesen arbeitet und tiefenpsychologischen Rat beim Rabbi sucht -, eigentlich nichts zu tun habe. Eine Nähe zu den Figuren und ihren Schicksalen stellt sich beim Kritiker nicht ein; ihre Höhen und Tiefen werden dem Leser als Spannungsbogen zwar erkennbar, nicht aber spürbar, bedauert Eggebrecht. Auch die großen Fragen, die von Düffel in der Krisensituation aufwerfen will, lesen sich bestenfalls als "hübsche Bonmots" - ein leider allzu "routiniert" geschriebener und daher unnahbar wirkender Roman, findet Eggebrecht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Monaden unter sich
Der Corona-Roman des John von Düffel
Laut der Palliativmedizinerin und Sterbebegleiterin Kathi Kuhn in John von Düffels neuem Roman gibt es zwei Arten von Sterbenden, die Wütenden und die Schuldigen, was nicht unbedingt ein Gegensatz sein muss. Im Mittelpunkt der Familiengeschichte steht der sterbende Großvater Richard, der nach der Wende als protestantischer Pfarrer in die Uckermark gegangen ist, ohne dass ihm Gottes Botschaft noch etwas sagen würde. Um ihn herum lebt eine diffuse Familie, alle sind einsam und isoliert, die Familienbande geborsten.
Es ist die Zeit des ersten Lockdowns in der Corona-Krise. Maria, die Schwiegertochter von Richard, muss als Ärztin der Charité in Quarantäne, der Sohn von Richard, Marias Mann, lebt nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie, der Sohn der beiden, Jakob, ist ein gescheiterter Kunststudent, seine Schwester Selma leidet darunter, dass sie nie Anerkennung in der Familie gefunden hat. So die Familienaufstellung, die personenweise im Roman durchdekliniert wird, Kapitel für Kapitel. Von Düffel ist ein versierter Theatermann, als Dramaturg wie als Dramatiker, Szene für Szene treten seine Figuren auf die Bühne und verlassen sie wieder, allerdings ohne inneren Zusammenhang - oder nur mit einem sehr lockeren.
Von Düffel hat keinen Corona-Roman geschrieben, das Ereignis, obwohl es alle Familienverhältnisse durcheinandergerüttelt hat, bleibt merkwürdig schemenhaft im Hintergrund der Geschehnisse. Der angehende Künstler Jakob gesteht: "Wie auch immer, das kulturell schwarze Loch ist Tatsache und flächendeckend. Was tendenziell diejenigen härter trifft, die etwas zu verlieren haben oder hatten, als beispielsweise mich, der ich schon vor der Krise in der Krise war. Für mich war Runterfahren, zugegeben, kein besonders tiefer Fall, ich war ja im Prinzip am Boden. Aber jetzt, wo die Kultur auf null ist, sitzen wir wieder im selben Boot. Jetzt sind wir alle gleich unwichtig, gleich unsichtbar, gleich isoliert. Wenn wir uns jetzt zusammentun, uns gegenseitig helfen, ideell, materiell, solidarisch, dann können wir zeigen, dass es uns noch gibt, und unsere Relevanz zurückerobern mit Phantasie und Relevanz."
Aber keines der Familienmitglieder vermag sein Leben neu oder anders zu gestalten. Maria lernt in ihrer Quarantäne im Stockwerk über ihrer Wohnung, aus der sie flieht, weil ihr Sohn wieder einziehen will, einen geheimnisvollen Rabbiner kennen, dem sie ihre Familiengeschichte anvertraut. Eine Geschichte für sich, die nicht in den Verlauf des Romans passt oder sich einfügen lässt. Und eine Geschichte für sich ist auch das Liebesverhältnis ihres Sohnes Jakob zu einer Kunstprofessorin, für die er Modell steht und die liebevoll ausdrucksstark seinen Penis in Farbe auf die Leinwand bringt und sich zum Schluss überraschend als Drogenkurierin entpuppt. Auch eine bizarre Geschichte.
Die Schwester Selma hat in der Uckermark eine seltsame Begegnung mit der Dorfjugend und versucht in der Kirche ein Digitalprojekt, das nicht gelingt. Zwei schwarze Katzen als Todesboten streunen um den sterbenden Richard herum, der aber bis zum Ende des Romans nicht sterben will, obwohl die Palliativmedizinerin für ihn einen vollen Koffer mit Opioiden mitgebracht hat. Richard braucht aber nichts gegen die Krebsschmerzen, er braucht etwas gegen die Erinnerung.
Keine der Personen aus diesem Familienkaleidoskop gewinnt wirklich Statur und Farbe. Alle bleiben blass. Wut und Schuld sind Etiketten, sie stürzen die Akteure nicht in Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit, da stecken sie eh schon drin. Zwar werden alle Themen angesprochen: Liebe, Tod, Hass und Einsamkeit, Erinnerungsverluste, aber nie führt es in die Tiefe. Die Familie findet nirgends zusammen, sie reiben sich nicht einmal aneinander, alle bleiben Monaden. Jede Person hat eine eigene Geschichte, die nicht kompatibel ist mit denen der anderen.
John von Düffel ist als Dramatiker wie als Romanautor ein genauer Beobachter der gesellschaftlichen Gegenwart; wie ein Seismograph versteht er es, Gefühls- und Denkwelten literarisch auszumalen. Vielleicht war bei diesem Roman die Verführung zu groß, auf dem Hintergrund von Corona schnell zur Stelle sein zu wollen und die Kruditäten der Pandemie zu beleuchten. Das ist ihm leider nicht gelungen. LERKE VON SAALFELD
John von Düffel: "Die Wütenden und die Schuldigen". Roman.
Dumont Verlag,
Köln 2021. 314 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Corona-Roman des John von Düffel
Laut der Palliativmedizinerin und Sterbebegleiterin Kathi Kuhn in John von Düffels neuem Roman gibt es zwei Arten von Sterbenden, die Wütenden und die Schuldigen, was nicht unbedingt ein Gegensatz sein muss. Im Mittelpunkt der Familiengeschichte steht der sterbende Großvater Richard, der nach der Wende als protestantischer Pfarrer in die Uckermark gegangen ist, ohne dass ihm Gottes Botschaft noch etwas sagen würde. Um ihn herum lebt eine diffuse Familie, alle sind einsam und isoliert, die Familienbande geborsten.
Es ist die Zeit des ersten Lockdowns in der Corona-Krise. Maria, die Schwiegertochter von Richard, muss als Ärztin der Charité in Quarantäne, der Sohn von Richard, Marias Mann, lebt nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie, der Sohn der beiden, Jakob, ist ein gescheiterter Kunststudent, seine Schwester Selma leidet darunter, dass sie nie Anerkennung in der Familie gefunden hat. So die Familienaufstellung, die personenweise im Roman durchdekliniert wird, Kapitel für Kapitel. Von Düffel ist ein versierter Theatermann, als Dramaturg wie als Dramatiker, Szene für Szene treten seine Figuren auf die Bühne und verlassen sie wieder, allerdings ohne inneren Zusammenhang - oder nur mit einem sehr lockeren.
Von Düffel hat keinen Corona-Roman geschrieben, das Ereignis, obwohl es alle Familienverhältnisse durcheinandergerüttelt hat, bleibt merkwürdig schemenhaft im Hintergrund der Geschehnisse. Der angehende Künstler Jakob gesteht: "Wie auch immer, das kulturell schwarze Loch ist Tatsache und flächendeckend. Was tendenziell diejenigen härter trifft, die etwas zu verlieren haben oder hatten, als beispielsweise mich, der ich schon vor der Krise in der Krise war. Für mich war Runterfahren, zugegeben, kein besonders tiefer Fall, ich war ja im Prinzip am Boden. Aber jetzt, wo die Kultur auf null ist, sitzen wir wieder im selben Boot. Jetzt sind wir alle gleich unwichtig, gleich unsichtbar, gleich isoliert. Wenn wir uns jetzt zusammentun, uns gegenseitig helfen, ideell, materiell, solidarisch, dann können wir zeigen, dass es uns noch gibt, und unsere Relevanz zurückerobern mit Phantasie und Relevanz."
Aber keines der Familienmitglieder vermag sein Leben neu oder anders zu gestalten. Maria lernt in ihrer Quarantäne im Stockwerk über ihrer Wohnung, aus der sie flieht, weil ihr Sohn wieder einziehen will, einen geheimnisvollen Rabbiner kennen, dem sie ihre Familiengeschichte anvertraut. Eine Geschichte für sich, die nicht in den Verlauf des Romans passt oder sich einfügen lässt. Und eine Geschichte für sich ist auch das Liebesverhältnis ihres Sohnes Jakob zu einer Kunstprofessorin, für die er Modell steht und die liebevoll ausdrucksstark seinen Penis in Farbe auf die Leinwand bringt und sich zum Schluss überraschend als Drogenkurierin entpuppt. Auch eine bizarre Geschichte.
Die Schwester Selma hat in der Uckermark eine seltsame Begegnung mit der Dorfjugend und versucht in der Kirche ein Digitalprojekt, das nicht gelingt. Zwei schwarze Katzen als Todesboten streunen um den sterbenden Richard herum, der aber bis zum Ende des Romans nicht sterben will, obwohl die Palliativmedizinerin für ihn einen vollen Koffer mit Opioiden mitgebracht hat. Richard braucht aber nichts gegen die Krebsschmerzen, er braucht etwas gegen die Erinnerung.
Keine der Personen aus diesem Familienkaleidoskop gewinnt wirklich Statur und Farbe. Alle bleiben blass. Wut und Schuld sind Etiketten, sie stürzen die Akteure nicht in Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit, da stecken sie eh schon drin. Zwar werden alle Themen angesprochen: Liebe, Tod, Hass und Einsamkeit, Erinnerungsverluste, aber nie führt es in die Tiefe. Die Familie findet nirgends zusammen, sie reiben sich nicht einmal aneinander, alle bleiben Monaden. Jede Person hat eine eigene Geschichte, die nicht kompatibel ist mit denen der anderen.
John von Düffel ist als Dramatiker wie als Romanautor ein genauer Beobachter der gesellschaftlichen Gegenwart; wie ein Seismograph versteht er es, Gefühls- und Denkwelten literarisch auszumalen. Vielleicht war bei diesem Roman die Verführung zu groß, auf dem Hintergrund von Corona schnell zur Stelle sein zu wollen und die Kruditäten der Pandemie zu beleuchten. Das ist ihm leider nicht gelungen. LERKE VON SAALFELD
John von Düffel: "Die Wütenden und die Schuldigen". Roman.
Dumont Verlag,
Köln 2021. 314 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»John von Düffel ist als Dramatiker wie als Romanautor ein genauer Beobachter der gesellschaftlichen Gegenwart; wie ein Seismograph versteht er es Gefühls- und Denkwelten literarisch auszumalen.« Lerke von Saalfeld, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Der [Familienroman] erzählt vom veränderten Leben während der Pandemie und stellt die großen Fragen unserer Zeit.« Annette Behr, SZ WOHLFÜHLEN »Philosophisch. Poetisch. Provozierend.« Annette Behr, GALORE »Erstaunlich ist, wie genau von Düffel [...] die Stimmung dieser Tage exakt eingefangen [hat].« Katharina Kluin, STERN »John von Düffel gehört seit mehr als zwei Jahrzehnten zu den lesenswerten und produktiven Schriftstellern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.« CHRISTOPH Schröder; SWR 2 LESENSWERT »Ein nachdenkliches, seelenvolles Buch über das Sterben«. Hendrik Heinze, DIWAN BAYERN 2 »Der temporeich erzählte, ebenso unterhaltsam wie anregend zu lesende Roman veranschaulicht eindrucksvoll, welch hohen Preis Frauen für den (zumindest äußeren) Zusammenhalt einer Familie bezahlen, aber auch, wie die Nähe des Todes (auch in Corona-Zeiten) unser Leben verändert.« Ronald Schneider, RHEINISCHE POST »Es ist ein brillanter Text, der unserer seltsamen Gesellschaft in diesen Zeiten einen erbarmungslosen Spiegel vorhält.« Annemarie Stoltenberg, NDR KULTUR »John von Düffel weiß wie man spannende Geschichten baut.« Ute Büsing, RBB INFO RADIO »John von Düffels Blick in das zerklüftete Binnenverhältnis seiner Buchfamilie ist tiefgründig und zutiefst menschlich. Und literarisch klug umgesetzt.« Thomas Plaul. LESART MAGAZIN »Wenn es den Titel 'der perfekte Roman' zu verleihen gäbe - dieser hier hätte ihn verdient!« Katrin Krämer, RADIO BREMEN »John von Düffel hat einen so hellsichtigen wie tieffühlenden Roman geschrieben« Martin Maria Schwarz, HR2 NEUE BÜCHER »Ein intensiver Roman über die Suche nach Nähe in Zeiten von Abstandsgeboten.« Theresa Hübner, WDR5 BÜCHER »John von Düffels 'Die Wütenden und die Schuldigen' ist ein tiefgründiger und sehr menschlicher Blick in ein zerklüftetes Familienverhältnis.« Thomas Paul, SR 2 KULTURRADIO »Ein flirrender Flirt mit Leben, Tod, Zwischenzeit und Katze. Philosophisch. Poetisch. Provozierend.« Annette Behr, PRO VIEH »Von Düffels Roman gibt ein gutes Zeugnis davon, wie sehr wir uns an ein Leben in einer Pandemie gewöhnt haben.« Thomas Thelen, AACHENER NACHRICHTEN »Wie ein Zeichner verführt er in leichter Bildhaftigkeit zum Weiterlesen und wirft Elementarfragen auf.« Jan Sting, KÖLNISCHE RUNDSCHAU »[Ein] philosophische[r] Text, der einen auch zum Lachen bringt und vor allem noch lange nachhallt.« Sarah Kugler, MÄRKISCHE ALLGEMEINE ZEITUNG »[Ein Roman, der] die Abgründe des menschlichen Miteinanders und das erbarmungslose Warten auf den Tod präzise und mit teils makabrem Witz beschreibt.« Peter Mohr, MAGAZIN ZUM WOCHENENDE »Beklemmend, befreiend und sehr lesenswert.« Eike Birck, BIELEFELDER »John von Düffels Roman 'Die Wütenden und die Schuldigen' ist für mich unterhaltende, tiefgehende bewegende Literatur. Und er ist ein Zeugnis meiner Zeit.« Sabine Frisch, TEXTWERK