Des Menschen Verhältnis zum physischen Raum der ertastbaren Dinge gerät ins Trudeln. Die Ausbreitung der Neuen Technologien macht dem Realraum Konkurrenz, führt zu einem "Verschwinden" der Stadt im Nirgendwo der Global City - in einem Un-Ort, der ein Überall-Zugleich ist. Mit den Mitteln der Ästhetisierung des öffentlichen Raumes arbeiten die Metropolen gegen ihr funktionales Verschwinden und ihr ästhetisches Vergessen. Die Stadt gerät dabei auf einen Grat zwischen aseptischer Entsinnlichung und hyperästhetischer Verströmung. Sie implodiert in der fraktalen Stadt, sucht sich in reiner Bildhaftigkeit zu überschreiten, entzieht sich als urbane Lebenswelt und wird zur ekstatischen Bühne exzentrischer Lebensstile.Der Text nimmt Spuren einer postmodernen Dynamik auf, die die Stadt in einem "Zwischenraum" verortet: hier ein immaterialisierter Hypermaschinismus, dort die Erdschwere der "archaischen" Stadtlandschaft. Ziel dieser Bestandsaufnahme und Diagnose ist die Auslotung der Konzequenzen aus anthropologischer Sicht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2001Die Ethik der Brache
Häßlich, aber gut: Jürgen Hasse mag keine sauberen Städte
Bis weit in das Mittelalter hinein empfand man die Natur als unwirtlich und gefahrvoll. Sie barg Wegelagerer, wilde Tiere und Dämonen, während ihr Wetter launisch war und die Ernte bedrohte. So schuf man die Stadt als Gegenbild. Wehrhaft sollte sie sein und schön, damit Gott zu den Menschen käme und bei ihnen wohnte. Kirchenmänner und Künstler haben die irdische Stadt symbolisch zur "heiligen Stadt Jerusalem" erhöht, von der es in der Offenbarung des Johannes hieß: "Ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall; sie hatte eine große und hohe Mauer und zwölf Tore." Viele trutzige Tortürme, überstrahlt von hellem Glanz: Diese Vorstellung wurde zum Urbild der Stadt.
Es gab aber immer schon die Mahner, die die Stadt in ganz anderem Licht erblickten: Sie war für sie nicht der Ort des gottesfürchtigen Lebens, sondern das Gegenteil: ein Sündenpfuhl. Auch für diese Betrachtung gab die Offenbarung des Johannes das Muster vor: die Stadt als "die große Hure Babylon", als eitles Blendwerk, "bekleidet mit Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelsteinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll von Greuel und Unreinheit ihrer Hurerei".
Als Apokalyptiker der Gegenwart entpuppt sich Jürgen Hasse in seinem Buch "Die Wunden der Stadt". Im Vorwort bekennt er die Absicht seiner Schrift: "Die Arbeit ist ein Plädoyer für die ästhetische Wahrnehmung einer zunehmend durch Verschönerung und Dissuasion verklärten Stadt." Hasse, von Haus aus Hochschullehrer für Geographie, bezieht sich selbst keineswegs auf die Tradition der Stadtkritik, sondern geht davon aus, ein Teufelszeug entdeckt zu haben, das das städtische Leben wie noch nie zuvor untergräbt: der Computer. Zwar werde in den Zentren unserer Städte ausgiebig gebaut, wie in Berlin am Potsdamer Platz, aber dennoch erkenne man daneben eine "schnell voranschreitende Immaterialisierung", die vor allem von den "Virtualisierungstechnologien" getragen werde. Die "technischen Möglichkeiten computerierender Maschinen" mache die Stadt, in der man jeweils lebe, unbedeutend. Das "hier und jetzt" löst sich für Hasse vor dem Bildschirm auf, während ein Gefühl des "überall zugleich" entsteht. Der Büromensch bewohnt nur noch eine imaginäre globale Stadt. Im lyrischen Stil einer geisteswissenschaftlichen Proseminararbeit heißt es: "Eine der ,Informationsgesellschaft' verwandte Zwillingsgestalt ist die sogenannte Global City. Beide Begriffe schwimmen in einem weiten Feld der Konnotationen."
In Dutzenden von Büchern und Aufsätzen, die zur Zeit über die Stadtplanung veröffentlicht werden, wird wieder und wieder ein ähnliches Szenario entworfen. Die große Stadt werde im Zeitalter des Internets zur Hochburg von Abstraktion, Geld und Kommerz, während der Mensch als Naturwesen verkümmere. Auch die städtische Architektur sei von der Technik bestimmt, und ihr rascher Umbau bedeute eine "Strategie des Vergessens", stehe im "Zeichen haltlos gewordener Dynamisierung". Insbesondere die "luziden Materialien" der Wolkenkratzer bedeuten eine "Entmaterialisierung" der Stadt - ganz so, als seien Bauten, die "klar wie Kristall" sind, für die menschliche Phantasie etwas Neues.
Aber der Autor zaubert doch noch das Ei des Kolumbus hervor, mit dem ihm und der immateriellen Stadt geholfen werden kann. Es sind die "Wunden der Stadt", die für Hasse "aporetisches Stutzen" erzeugen. Um zur Besinnung zu kommen, genüge es nicht, in Parks zu gehen, sich dem Schönen und der Romantik hinzugeben; erst städtische Brachen und Ruinen, die wie Urlandschaften sich selbst überlassen bleiben und wieder zur Natur werden, wo Zersetzung und Auflösung wesen (und womöglich auch Gespenster spuken), erst ein solcher Ort rege zur "moralischen Betrachtung" an und bedeute eine "Kontrafraktur zur Selbstgewißheit der Natur- und Weltbeherrschung". Der Autor entrüstet sich über "deutsche Planungsdezernenten", die für Hygiene und Sauberkeit sorgen. Umgekehrt käme aber ein italienischer Hochschullehrer niemals auf die Idee, im Namen der Moral gegen das Schöne ins Feld zu ziehen.
ERWIN SEITZ
Jürgen Hasse: "Die Wunden der Stadt". Für eine neue Ästhetik unserer Städte. Passagen Verlag, Wien 2000. 176 S., br., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Häßlich, aber gut: Jürgen Hasse mag keine sauberen Städte
Bis weit in das Mittelalter hinein empfand man die Natur als unwirtlich und gefahrvoll. Sie barg Wegelagerer, wilde Tiere und Dämonen, während ihr Wetter launisch war und die Ernte bedrohte. So schuf man die Stadt als Gegenbild. Wehrhaft sollte sie sein und schön, damit Gott zu den Menschen käme und bei ihnen wohnte. Kirchenmänner und Künstler haben die irdische Stadt symbolisch zur "heiligen Stadt Jerusalem" erhöht, von der es in der Offenbarung des Johannes hieß: "Ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall; sie hatte eine große und hohe Mauer und zwölf Tore." Viele trutzige Tortürme, überstrahlt von hellem Glanz: Diese Vorstellung wurde zum Urbild der Stadt.
Es gab aber immer schon die Mahner, die die Stadt in ganz anderem Licht erblickten: Sie war für sie nicht der Ort des gottesfürchtigen Lebens, sondern das Gegenteil: ein Sündenpfuhl. Auch für diese Betrachtung gab die Offenbarung des Johannes das Muster vor: die Stadt als "die große Hure Babylon", als eitles Blendwerk, "bekleidet mit Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelsteinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll von Greuel und Unreinheit ihrer Hurerei".
Als Apokalyptiker der Gegenwart entpuppt sich Jürgen Hasse in seinem Buch "Die Wunden der Stadt". Im Vorwort bekennt er die Absicht seiner Schrift: "Die Arbeit ist ein Plädoyer für die ästhetische Wahrnehmung einer zunehmend durch Verschönerung und Dissuasion verklärten Stadt." Hasse, von Haus aus Hochschullehrer für Geographie, bezieht sich selbst keineswegs auf die Tradition der Stadtkritik, sondern geht davon aus, ein Teufelszeug entdeckt zu haben, das das städtische Leben wie noch nie zuvor untergräbt: der Computer. Zwar werde in den Zentren unserer Städte ausgiebig gebaut, wie in Berlin am Potsdamer Platz, aber dennoch erkenne man daneben eine "schnell voranschreitende Immaterialisierung", die vor allem von den "Virtualisierungstechnologien" getragen werde. Die "technischen Möglichkeiten computerierender Maschinen" mache die Stadt, in der man jeweils lebe, unbedeutend. Das "hier und jetzt" löst sich für Hasse vor dem Bildschirm auf, während ein Gefühl des "überall zugleich" entsteht. Der Büromensch bewohnt nur noch eine imaginäre globale Stadt. Im lyrischen Stil einer geisteswissenschaftlichen Proseminararbeit heißt es: "Eine der ,Informationsgesellschaft' verwandte Zwillingsgestalt ist die sogenannte Global City. Beide Begriffe schwimmen in einem weiten Feld der Konnotationen."
In Dutzenden von Büchern und Aufsätzen, die zur Zeit über die Stadtplanung veröffentlicht werden, wird wieder und wieder ein ähnliches Szenario entworfen. Die große Stadt werde im Zeitalter des Internets zur Hochburg von Abstraktion, Geld und Kommerz, während der Mensch als Naturwesen verkümmere. Auch die städtische Architektur sei von der Technik bestimmt, und ihr rascher Umbau bedeute eine "Strategie des Vergessens", stehe im "Zeichen haltlos gewordener Dynamisierung". Insbesondere die "luziden Materialien" der Wolkenkratzer bedeuten eine "Entmaterialisierung" der Stadt - ganz so, als seien Bauten, die "klar wie Kristall" sind, für die menschliche Phantasie etwas Neues.
Aber der Autor zaubert doch noch das Ei des Kolumbus hervor, mit dem ihm und der immateriellen Stadt geholfen werden kann. Es sind die "Wunden der Stadt", die für Hasse "aporetisches Stutzen" erzeugen. Um zur Besinnung zu kommen, genüge es nicht, in Parks zu gehen, sich dem Schönen und der Romantik hinzugeben; erst städtische Brachen und Ruinen, die wie Urlandschaften sich selbst überlassen bleiben und wieder zur Natur werden, wo Zersetzung und Auflösung wesen (und womöglich auch Gespenster spuken), erst ein solcher Ort rege zur "moralischen Betrachtung" an und bedeute eine "Kontrafraktur zur Selbstgewißheit der Natur- und Weltbeherrschung". Der Autor entrüstet sich über "deutsche Planungsdezernenten", die für Hygiene und Sauberkeit sorgen. Umgekehrt käme aber ein italienischer Hochschullehrer niemals auf die Idee, im Namen der Moral gegen das Schöne ins Feld zu ziehen.
ERWIN SEITZ
Jürgen Hasse: "Die Wunden der Stadt". Für eine neue Ästhetik unserer Städte. Passagen Verlag, Wien 2000. 176 S., br., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Etwas suspekt ist Erwin Seitz der selbsternannte Architekturkritiker Hasse schon. Den stört die "'voranschreitende Immaterialisierung der Städte'", zitiert Seitz den Autor. Dafür seien die neuen Informationstechnologien verantwortlich. Die Stadt als "Hochburg von Abstraktion, Geld und Kommerz", gläserne Wolkenkratzer als Sinnbild der entmaterialisierten Stadt - für Hasse stelle die Stadt eine Art moderner, kapitalistischer Sündenpfuhl dar, meint Seitz. Um der Selbstherrlichkeit des modernen Städtebaus etwas entgegenzusetzen, empfehle Hasse die städtischen Lücken, Brachen, Ruinen als Landschaftszonen zu betrachten, die, sich selbst überlassen, wieder Natur würden. Verständlich, unkt Seitz, dass der Autor gegen die alles nett und sauber haben wollenden Stadtplanungsdezernten zu Felde zieht, aber würde ein italienischer Hochschullehrer "im Namen der Moral gegen das Schöne" wettern? Würde er nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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